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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik

industrielle Aufschwung machte die Besitzenden sowie die unbemittelten Klassen
gegen die Klagen der Landwirte taub. Die auswärtige Zufuhr durch Zölle
abzuhalten, lag nicht in der Absicht der Jndustriekreise. Sie hatten von dem
Fall der Kornzölle den Vorteil der Produktionsverbilligung. Ohne eine erheb¬
liche Steigerung der Löhne erhielten sie einen leistungsfähigen Arbeiterstamm, der
unter dem guten Verdienste und den niederen Lebensmittelpreisen sein Heil nunmehr
einzig und allein in der Industrie sah. Ferner kam der Industrie die Verbilligung
der Rohstoffe, der gegenüber sie willig auf den Schutz ihrer Fabrikate im
Inlande verzichtete, zugute. Durch die ungehemmte Getreideeinfuhr hob sich
zudem der Absatz englischer Fabrikate im Auslande; es kam die Periode, in
der England als die Werkstätte der Welt erschien und die Smith-Theorie ihre
glänzendste Anhängerschaft fand. Unter dem günstigen Sterne dieser Zeiten
mißachtete man das Wort List's, daß der Staat zweier gleicher Arme bedürfe.
England reckte den einen Arm seiner Produktion, die Industrie, aus und ließ
seinen Nachbar und Bruder, die Landwirtschaft, verkümmern.

Die ungeschützte Landwirtschaft hatte keine andere Wahl als zur Weide¬
wirtschaft zurückzukehren. Statt der Körnerproduktion betrieb man Viehzucht
und Viehmast. Der Ackerbau nahm in einer Zeitspanne von vier Jahren um
21 Prozent ab, das Grasland um 35 Prozent zu. Im Jahre 1845 baute
England Getreide für 24 Millionen Menschen, heute baut es für 4,5 Millionen
Menschen, ohne eine dem Rückgang des Körnerbaues entsprechende Vermehrung
an Viehbeständen ausweisen zu können. Die Großviehzahlen nahmen in dem
Zeitlaufe von 1870 bis 1900 nur um fünf Prozent zu, während wir für
Deutschland neben der Vermehrung des Körnerbaues eine Vermehrung der
Großviehzahl um 34 Prozent zu verzeichnen haben.

Man unterläßt in England nicht, auf die klimatischen Vorzüge deS
Landes für Weideland hinzuweisen. Man läßt hierbei außer acht, daß
der regenreiche Westen Englands, der in der Tat eine vorbildliche Weide
hergibt, nicht der Normalboden Englands ist. Die "glänzenden Futterweide¬
verhältnisse", die in einer gewissen Jndustrieliteratur so aufdringlich hervor¬
gehoben werden, sind stellenweise wenig glänzend. Die Weiden sind zum^Teile
sehr schlecht und können nicht im entferntesten das hergeben, was man von
ihnen erwartet. Der Boden läßt sich nicht zwingen. Wie er sich beim Körner¬
bau trotz aller technisch ausgebildeten Wirtschaft nicht zu einer dauernden,
gleichmäßigen Rentabilität zwingen ließ, kann er heute nicht durchgehend zu
Weideland umgelegt werden. Führende Gelehrte wie zum Beispiele S. H. Middle-
ton führen den Rückgang der englischen Agrarproduktion zu einem Hauptteile
auf den Mangel an ausgedehntem guten Weideland zurück.

Die Verhältnisse sind für die englische Landwirtschaft insofern noch erschwert,
als man mit bloßer Viehzucht auf keinen grünen Zweig gelangen kann. Sich auf
die einfache Fleischzucht zu verlegen, ist für den britischen Landmann unrentabel,
da die niederen Preise für eingeführtes Fleisch eine zu starke Konkurrenz


Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik

industrielle Aufschwung machte die Besitzenden sowie die unbemittelten Klassen
gegen die Klagen der Landwirte taub. Die auswärtige Zufuhr durch Zölle
abzuhalten, lag nicht in der Absicht der Jndustriekreise. Sie hatten von dem
Fall der Kornzölle den Vorteil der Produktionsverbilligung. Ohne eine erheb¬
liche Steigerung der Löhne erhielten sie einen leistungsfähigen Arbeiterstamm, der
unter dem guten Verdienste und den niederen Lebensmittelpreisen sein Heil nunmehr
einzig und allein in der Industrie sah. Ferner kam der Industrie die Verbilligung
der Rohstoffe, der gegenüber sie willig auf den Schutz ihrer Fabrikate im
Inlande verzichtete, zugute. Durch die ungehemmte Getreideeinfuhr hob sich
zudem der Absatz englischer Fabrikate im Auslande; es kam die Periode, in
der England als die Werkstätte der Welt erschien und die Smith-Theorie ihre
glänzendste Anhängerschaft fand. Unter dem günstigen Sterne dieser Zeiten
mißachtete man das Wort List's, daß der Staat zweier gleicher Arme bedürfe.
England reckte den einen Arm seiner Produktion, die Industrie, aus und ließ
seinen Nachbar und Bruder, die Landwirtschaft, verkümmern.

Die ungeschützte Landwirtschaft hatte keine andere Wahl als zur Weide¬
wirtschaft zurückzukehren. Statt der Körnerproduktion betrieb man Viehzucht
und Viehmast. Der Ackerbau nahm in einer Zeitspanne von vier Jahren um
21 Prozent ab, das Grasland um 35 Prozent zu. Im Jahre 1845 baute
England Getreide für 24 Millionen Menschen, heute baut es für 4,5 Millionen
Menschen, ohne eine dem Rückgang des Körnerbaues entsprechende Vermehrung
an Viehbeständen ausweisen zu können. Die Großviehzahlen nahmen in dem
Zeitlaufe von 1870 bis 1900 nur um fünf Prozent zu, während wir für
Deutschland neben der Vermehrung des Körnerbaues eine Vermehrung der
Großviehzahl um 34 Prozent zu verzeichnen haben.

Man unterläßt in England nicht, auf die klimatischen Vorzüge deS
Landes für Weideland hinzuweisen. Man läßt hierbei außer acht, daß
der regenreiche Westen Englands, der in der Tat eine vorbildliche Weide
hergibt, nicht der Normalboden Englands ist. Die „glänzenden Futterweide¬
verhältnisse", die in einer gewissen Jndustrieliteratur so aufdringlich hervor¬
gehoben werden, sind stellenweise wenig glänzend. Die Weiden sind zum^Teile
sehr schlecht und können nicht im entferntesten das hergeben, was man von
ihnen erwartet. Der Boden läßt sich nicht zwingen. Wie er sich beim Körner¬
bau trotz aller technisch ausgebildeten Wirtschaft nicht zu einer dauernden,
gleichmäßigen Rentabilität zwingen ließ, kann er heute nicht durchgehend zu
Weideland umgelegt werden. Führende Gelehrte wie zum Beispiele S. H. Middle-
ton führen den Rückgang der englischen Agrarproduktion zu einem Hauptteile
auf den Mangel an ausgedehntem guten Weideland zurück.

Die Verhältnisse sind für die englische Landwirtschaft insofern noch erschwert,
als man mit bloßer Viehzucht auf keinen grünen Zweig gelangen kann. Sich auf
die einfache Fleischzucht zu verlegen, ist für den britischen Landmann unrentabel,
da die niederen Preise für eingeführtes Fleisch eine zu starke Konkurrenz


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[0338] Die Mißgriffe der englischen Agrarpolitik industrielle Aufschwung machte die Besitzenden sowie die unbemittelten Klassen gegen die Klagen der Landwirte taub. Die auswärtige Zufuhr durch Zölle abzuhalten, lag nicht in der Absicht der Jndustriekreise. Sie hatten von dem Fall der Kornzölle den Vorteil der Produktionsverbilligung. Ohne eine erheb¬ liche Steigerung der Löhne erhielten sie einen leistungsfähigen Arbeiterstamm, der unter dem guten Verdienste und den niederen Lebensmittelpreisen sein Heil nunmehr einzig und allein in der Industrie sah. Ferner kam der Industrie die Verbilligung der Rohstoffe, der gegenüber sie willig auf den Schutz ihrer Fabrikate im Inlande verzichtete, zugute. Durch die ungehemmte Getreideeinfuhr hob sich zudem der Absatz englischer Fabrikate im Auslande; es kam die Periode, in der England als die Werkstätte der Welt erschien und die Smith-Theorie ihre glänzendste Anhängerschaft fand. Unter dem günstigen Sterne dieser Zeiten mißachtete man das Wort List's, daß der Staat zweier gleicher Arme bedürfe. England reckte den einen Arm seiner Produktion, die Industrie, aus und ließ seinen Nachbar und Bruder, die Landwirtschaft, verkümmern. Die ungeschützte Landwirtschaft hatte keine andere Wahl als zur Weide¬ wirtschaft zurückzukehren. Statt der Körnerproduktion betrieb man Viehzucht und Viehmast. Der Ackerbau nahm in einer Zeitspanne von vier Jahren um 21 Prozent ab, das Grasland um 35 Prozent zu. Im Jahre 1845 baute England Getreide für 24 Millionen Menschen, heute baut es für 4,5 Millionen Menschen, ohne eine dem Rückgang des Körnerbaues entsprechende Vermehrung an Viehbeständen ausweisen zu können. Die Großviehzahlen nahmen in dem Zeitlaufe von 1870 bis 1900 nur um fünf Prozent zu, während wir für Deutschland neben der Vermehrung des Körnerbaues eine Vermehrung der Großviehzahl um 34 Prozent zu verzeichnen haben. Man unterläßt in England nicht, auf die klimatischen Vorzüge deS Landes für Weideland hinzuweisen. Man läßt hierbei außer acht, daß der regenreiche Westen Englands, der in der Tat eine vorbildliche Weide hergibt, nicht der Normalboden Englands ist. Die „glänzenden Futterweide¬ verhältnisse", die in einer gewissen Jndustrieliteratur so aufdringlich hervor¬ gehoben werden, sind stellenweise wenig glänzend. Die Weiden sind zum^Teile sehr schlecht und können nicht im entferntesten das hergeben, was man von ihnen erwartet. Der Boden läßt sich nicht zwingen. Wie er sich beim Körner¬ bau trotz aller technisch ausgebildeten Wirtschaft nicht zu einer dauernden, gleichmäßigen Rentabilität zwingen ließ, kann er heute nicht durchgehend zu Weideland umgelegt werden. Führende Gelehrte wie zum Beispiele S. H. Middle- ton führen den Rückgang der englischen Agrarproduktion zu einem Hauptteile auf den Mangel an ausgedehntem guten Weideland zurück. Die Verhältnisse sind für die englische Landwirtschaft insofern noch erschwert, als man mit bloßer Viehzucht auf keinen grünen Zweig gelangen kann. Sich auf die einfache Fleischzucht zu verlegen, ist für den britischen Landmann unrentabel, da die niederen Preise für eingeführtes Fleisch eine zu starke Konkurrenz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/338>, abgerufen am 15.01.2025.