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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Schleiermacher als Patriot

Imperativ: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Schleiermacher betont, obgleich
dies mit der spinozistischen Grundrichtung seines Denkens sich schwer vereinigen
will, der Allgemeinheit gegenüber das Recht und die Bedeutung der Individualität.
Wohl trägt jeder eine unbedingt gültige sittliche Forderung in sich. Aber da
jeder als ein besonderes Individuum mit eigenen Gaben und Aufgaben in
Verhältnisse tritt, die für jeden andere sind, so stellt das unbedingte sittliche
Gebot auch an jeden besondere Anforderungen, denen er zu genügen hat. Jeder
einzelne ist eine besondere Offenbarung des einen, allgemeinen Weltgrundes.
Was er als solcher ist, darüber soll er sich klar werden, das soll er erfassen
und sein Besonderes in den Dienst der Allgemeinheit, des großen Ganzen stellen.

Daß, wer der Allgemeinheit dienen will, sich zunächst seiner Pflichten gegen
den Staat erinnern muß, daß der Staat ein sittlicher Organismus von un--
aufgebbarem Werte ist, das ist ihm allmählich immer klarer geworden. Es lag
den Anschauungen der Zeit, in welcher er aufgewachsen war, nahe, den Staat
mehr nur als ein notwendiges Übel zu betrachten, eine Beschränkung, welche
das Individuum sich um anderer Vorteile willen gefallen läßt, und man war
geneigt, denjenigen Staat für den besten zu halten, den man am wenigsten
empfindet. Gerade die Unterdrückung und gewaltsame Zerreißung des Staates
durch äußere brutale Gewalt ließ den Besten der Zeit und ließ in Schleier¬
macher das Gefühl von dem Werte des Staates und von der Notwendigkeit
der freien Hingabe an den Staat mächtig auflösen: besser für den Staat
sterben, als unter fremder Willkürherrschaft Staat- und heimatlos leben.

Gott ist die große Einheit, der das Individuum zum Dienst verschrieben
ist und wer an die Zusammenfassung von sittlichen Gütern und Werten, Staat
genannt, sich mit ganzer Kraft hingibt, der dient Gott. Während daher Schleier¬
macher in den Reden noch mit schroffem Radikalismus Religion und Staat
trennen zu müssen glaubt, so ist es ihm nun eine Hauptangelegenheit seiner
Predigt, die enge Verbindung von Religion und Patriotismus zu betonen, im
Namen der Religion seine Hörer zur Hingabe an den Staat zu entflammen.
"Alle, die Gott zu etwas Großen berufen hat in dem Gebiete der Wissenschaften,
in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem
Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen und dieses fördern, heilen
und stärken wollten", das ist jetzt der Grundton seiner patriotischen Predigten.
"Es ist nicht richtig", so sagt er in einer Predigt, die kurz vor Einführung
der neuen Städteordnung gehalten wurde, "zu sagen, die allgemeine Bürger¬
tugend sei unabhängig von Frömmigkeit." Das Wesen der Religion ist Mut,
ist Liebe, ist Freiheit. Es ist Mut, das Gegenteil von Furcht: also tut ein
wahrhaft frommer Bürger seine Pflicht nicht aus Furcht vor Strafe, sondern
aus tieferem Grunde. Es ist Liebe, also das Gegenteil von Selbstsucht: also
enthält sich ein frommer Mensch aller kränklichen, weichlichen, trübseligen Ein-
gezogenheit und tritt freudig hervor für das Wohl der Gesamtheit. Es ist


Schleiermacher als Patriot

Imperativ: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Schleiermacher betont, obgleich
dies mit der spinozistischen Grundrichtung seines Denkens sich schwer vereinigen
will, der Allgemeinheit gegenüber das Recht und die Bedeutung der Individualität.
Wohl trägt jeder eine unbedingt gültige sittliche Forderung in sich. Aber da
jeder als ein besonderes Individuum mit eigenen Gaben und Aufgaben in
Verhältnisse tritt, die für jeden andere sind, so stellt das unbedingte sittliche
Gebot auch an jeden besondere Anforderungen, denen er zu genügen hat. Jeder
einzelne ist eine besondere Offenbarung des einen, allgemeinen Weltgrundes.
Was er als solcher ist, darüber soll er sich klar werden, das soll er erfassen
und sein Besonderes in den Dienst der Allgemeinheit, des großen Ganzen stellen.

Daß, wer der Allgemeinheit dienen will, sich zunächst seiner Pflichten gegen
den Staat erinnern muß, daß der Staat ein sittlicher Organismus von un--
aufgebbarem Werte ist, das ist ihm allmählich immer klarer geworden. Es lag
den Anschauungen der Zeit, in welcher er aufgewachsen war, nahe, den Staat
mehr nur als ein notwendiges Übel zu betrachten, eine Beschränkung, welche
das Individuum sich um anderer Vorteile willen gefallen läßt, und man war
geneigt, denjenigen Staat für den besten zu halten, den man am wenigsten
empfindet. Gerade die Unterdrückung und gewaltsame Zerreißung des Staates
durch äußere brutale Gewalt ließ den Besten der Zeit und ließ in Schleier¬
macher das Gefühl von dem Werte des Staates und von der Notwendigkeit
der freien Hingabe an den Staat mächtig auflösen: besser für den Staat
sterben, als unter fremder Willkürherrschaft Staat- und heimatlos leben.

Gott ist die große Einheit, der das Individuum zum Dienst verschrieben
ist und wer an die Zusammenfassung von sittlichen Gütern und Werten, Staat
genannt, sich mit ganzer Kraft hingibt, der dient Gott. Während daher Schleier¬
macher in den Reden noch mit schroffem Radikalismus Religion und Staat
trennen zu müssen glaubt, so ist es ihm nun eine Hauptangelegenheit seiner
Predigt, die enge Verbindung von Religion und Patriotismus zu betonen, im
Namen der Religion seine Hörer zur Hingabe an den Staat zu entflammen.
„Alle, die Gott zu etwas Großen berufen hat in dem Gebiete der Wissenschaften,
in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem
Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen und dieses fördern, heilen
und stärken wollten", das ist jetzt der Grundton seiner patriotischen Predigten.
„Es ist nicht richtig", so sagt er in einer Predigt, die kurz vor Einführung
der neuen Städteordnung gehalten wurde, „zu sagen, die allgemeine Bürger¬
tugend sei unabhängig von Frömmigkeit." Das Wesen der Religion ist Mut,
ist Liebe, ist Freiheit. Es ist Mut, das Gegenteil von Furcht: also tut ein
wahrhaft frommer Bürger seine Pflicht nicht aus Furcht vor Strafe, sondern
aus tieferem Grunde. Es ist Liebe, also das Gegenteil von Selbstsucht: also
enthält sich ein frommer Mensch aller kränklichen, weichlichen, trübseligen Ein-
gezogenheit und tritt freudig hervor für das Wohl der Gesamtheit. Es ist


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[0324] Schleiermacher als Patriot Imperativ: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Schleiermacher betont, obgleich dies mit der spinozistischen Grundrichtung seines Denkens sich schwer vereinigen will, der Allgemeinheit gegenüber das Recht und die Bedeutung der Individualität. Wohl trägt jeder eine unbedingt gültige sittliche Forderung in sich. Aber da jeder als ein besonderes Individuum mit eigenen Gaben und Aufgaben in Verhältnisse tritt, die für jeden andere sind, so stellt das unbedingte sittliche Gebot auch an jeden besondere Anforderungen, denen er zu genügen hat. Jeder einzelne ist eine besondere Offenbarung des einen, allgemeinen Weltgrundes. Was er als solcher ist, darüber soll er sich klar werden, das soll er erfassen und sein Besonderes in den Dienst der Allgemeinheit, des großen Ganzen stellen. Daß, wer der Allgemeinheit dienen will, sich zunächst seiner Pflichten gegen den Staat erinnern muß, daß der Staat ein sittlicher Organismus von un-- aufgebbarem Werte ist, das ist ihm allmählich immer klarer geworden. Es lag den Anschauungen der Zeit, in welcher er aufgewachsen war, nahe, den Staat mehr nur als ein notwendiges Übel zu betrachten, eine Beschränkung, welche das Individuum sich um anderer Vorteile willen gefallen läßt, und man war geneigt, denjenigen Staat für den besten zu halten, den man am wenigsten empfindet. Gerade die Unterdrückung und gewaltsame Zerreißung des Staates durch äußere brutale Gewalt ließ den Besten der Zeit und ließ in Schleier¬ macher das Gefühl von dem Werte des Staates und von der Notwendigkeit der freien Hingabe an den Staat mächtig auflösen: besser für den Staat sterben, als unter fremder Willkürherrschaft Staat- und heimatlos leben. Gott ist die große Einheit, der das Individuum zum Dienst verschrieben ist und wer an die Zusammenfassung von sittlichen Gütern und Werten, Staat genannt, sich mit ganzer Kraft hingibt, der dient Gott. Während daher Schleier¬ macher in den Reden noch mit schroffem Radikalismus Religion und Staat trennen zu müssen glaubt, so ist es ihm nun eine Hauptangelegenheit seiner Predigt, die enge Verbindung von Religion und Patriotismus zu betonen, im Namen der Religion seine Hörer zur Hingabe an den Staat zu entflammen. „Alle, die Gott zu etwas Großen berufen hat in dem Gebiete der Wissenschaften, in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen und dieses fördern, heilen und stärken wollten", das ist jetzt der Grundton seiner patriotischen Predigten. „Es ist nicht richtig", so sagt er in einer Predigt, die kurz vor Einführung der neuen Städteordnung gehalten wurde, „zu sagen, die allgemeine Bürger¬ tugend sei unabhängig von Frömmigkeit." Das Wesen der Religion ist Mut, ist Liebe, ist Freiheit. Es ist Mut, das Gegenteil von Furcht: also tut ein wahrhaft frommer Bürger seine Pflicht nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus tieferem Grunde. Es ist Liebe, also das Gegenteil von Selbstsucht: also enthält sich ein frommer Mensch aller kränklichen, weichlichen, trübseligen Ein- gezogenheit und tritt freudig hervor für das Wohl der Gesamtheit. Es ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/324>, abgerufen am 15.01.2025.