Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der internationale Gedanke

Staates wurde freilich in schier unbewußten Übergange ein recht gewalttätiges
französisches Nationalreich fertig: nebenbei einer der Fälle, wo man deutlich sehen
kann, daß die Geschichte eine eigene immanente Logik hat, die über die Gedanken der
jedesmaligen verehrlichen Zeitgenossen erhaben ist. Aber der rationalistische
weltbürgerliche Gedanke hatte damit seine Rolle noch keineswegs ausgespielt.
Die deutsche idealistische Philosophie, die in der Erkenntnistheorie so scharf mit
dem Rationalismus brach, zog die ethischen Konsequenzen vielfach nicht, und
so spielen denn die Weltbürgerpflichten und -rechte bei Kant und seinen Ge¬
sinnungsgenossen noch eine große Rolle.

Um diese Zeit begann auch in Deutschland der Liberalismus aus den
Ergebnissen des neuzeitlichen Denkens politische Folgerungen zu ziehen. Für
die erstarkenden liberalen Anschauungen war der internationale Gedanke höchst
wichtig. Politik sollte eigentlich sein die Kunst des praktisch Möglichen, war
aber damals weit mehr ein kräftig gefühlter Imperativ, philosophisch gefundene
Lehrsätze in die Wirklichkeit einzuführen. Dem begriffsstolzen, immer zum
Deduzieren geneigten Rationalismus war die volkstümliche Wahrheit, daß das
Hemde näher als der Rock sei, viel zu drastisch. Ihm schien das Gedanken¬
wesen des Weltbürgertums viel wichtiger als die Wirklichkeit des Staatsverbandes
und Volkstums. Nationalgefühl erschien beinahe ein wenig rückständig, Staats¬
gesinnung als äußerliche Ordnungspflicht: daher war im politischen Programm
des Liberalismus von Hause aus der internationale Gedanke, das weltbürgerliche
Empfinden eine viel selbstverständlichere Sache als Nationalismus und warme
Hingabe an den Staat. Nicht jene weiteren, sondern diese engeren Gefühle
mußten hinzugelernt werden. Die geistesgeschichtliche Situation war gerade
umgekehrt wie in der Antike, wo der Stadt- und Stammespatriotismus ur-
anfänglich gegeben waren, und die internationalen Gefühle neu hinzukamen.

Wir haben schon erwähnt, wie die Ziele der französischen Revolution aus
weltbürgerlichen unversehens in nationale umschlugen. Ähnlich, aber langsamer
und theoretischer, verlief die Entwicklung in Deutschland. Man begann zunächst
einzusehen, daß die weltbürgerliche Arbeit unmittelbar zum Wohle der Menschheit
doch ihre sehr großen praktischen Schwierigkeiten fand, daß man fast immer
darauf angewiesen sei, seine humanen Bestrebungen in einem engeren Kreise
Zur Geltung zu bringen. So bildete sich das Bewußtsein aus, daß zwischen
dem einzelnen und der Menschheit Unterabteilungen verschiedener Grade not¬
wendig, und daß die Nationen die wichtigsten dieser notwendigen Unterabteilungen
seien. So fanden die deutschen Idealisten ihr Herz zum deutschen Volke wieder,
dadurch daß ja auch dieses als eine solche notwendige Unterabteilung der
Menschheit erschien. Und bald ging man einen Schritt weiter. Gerade weil
man im Verlaufe der Revolution an den Franzosen eine Enttäuschung erlebte,
weil diese bisher bewunderte Nation ihre humanen Ziele doch in recht eigen¬
artiger Weise verwirklichte, begann man den Mut zu fassen, dem eigenen Volke
etwas zuzutrauen und zu glauben, daß Deutsche denn doch nicht fähig wären,


Der internationale Gedanke

Staates wurde freilich in schier unbewußten Übergange ein recht gewalttätiges
französisches Nationalreich fertig: nebenbei einer der Fälle, wo man deutlich sehen
kann, daß die Geschichte eine eigene immanente Logik hat, die über die Gedanken der
jedesmaligen verehrlichen Zeitgenossen erhaben ist. Aber der rationalistische
weltbürgerliche Gedanke hatte damit seine Rolle noch keineswegs ausgespielt.
Die deutsche idealistische Philosophie, die in der Erkenntnistheorie so scharf mit
dem Rationalismus brach, zog die ethischen Konsequenzen vielfach nicht, und
so spielen denn die Weltbürgerpflichten und -rechte bei Kant und seinen Ge¬
sinnungsgenossen noch eine große Rolle.

Um diese Zeit begann auch in Deutschland der Liberalismus aus den
Ergebnissen des neuzeitlichen Denkens politische Folgerungen zu ziehen. Für
die erstarkenden liberalen Anschauungen war der internationale Gedanke höchst
wichtig. Politik sollte eigentlich sein die Kunst des praktisch Möglichen, war
aber damals weit mehr ein kräftig gefühlter Imperativ, philosophisch gefundene
Lehrsätze in die Wirklichkeit einzuführen. Dem begriffsstolzen, immer zum
Deduzieren geneigten Rationalismus war die volkstümliche Wahrheit, daß das
Hemde näher als der Rock sei, viel zu drastisch. Ihm schien das Gedanken¬
wesen des Weltbürgertums viel wichtiger als die Wirklichkeit des Staatsverbandes
und Volkstums. Nationalgefühl erschien beinahe ein wenig rückständig, Staats¬
gesinnung als äußerliche Ordnungspflicht: daher war im politischen Programm
des Liberalismus von Hause aus der internationale Gedanke, das weltbürgerliche
Empfinden eine viel selbstverständlichere Sache als Nationalismus und warme
Hingabe an den Staat. Nicht jene weiteren, sondern diese engeren Gefühle
mußten hinzugelernt werden. Die geistesgeschichtliche Situation war gerade
umgekehrt wie in der Antike, wo der Stadt- und Stammespatriotismus ur-
anfänglich gegeben waren, und die internationalen Gefühle neu hinzukamen.

Wir haben schon erwähnt, wie die Ziele der französischen Revolution aus
weltbürgerlichen unversehens in nationale umschlugen. Ähnlich, aber langsamer
und theoretischer, verlief die Entwicklung in Deutschland. Man begann zunächst
einzusehen, daß die weltbürgerliche Arbeit unmittelbar zum Wohle der Menschheit
doch ihre sehr großen praktischen Schwierigkeiten fand, daß man fast immer
darauf angewiesen sei, seine humanen Bestrebungen in einem engeren Kreise
Zur Geltung zu bringen. So bildete sich das Bewußtsein aus, daß zwischen
dem einzelnen und der Menschheit Unterabteilungen verschiedener Grade not¬
wendig, und daß die Nationen die wichtigsten dieser notwendigen Unterabteilungen
seien. So fanden die deutschen Idealisten ihr Herz zum deutschen Volke wieder,
dadurch daß ja auch dieses als eine solche notwendige Unterabteilung der
Menschheit erschien. Und bald ging man einen Schritt weiter. Gerade weil
man im Verlaufe der Revolution an den Franzosen eine Enttäuschung erlebte,
weil diese bisher bewunderte Nation ihre humanen Ziele doch in recht eigen¬
artiger Weise verwirklichte, begann man den Mut zu fassen, dem eigenen Volke
etwas zuzutrauen und zu glauben, daß Deutsche denn doch nicht fähig wären,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0305" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329973"/>
          <fw type="header" place="top"> Der internationale Gedanke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1004" prev="#ID_1003"> Staates wurde freilich in schier unbewußten Übergange ein recht gewalttätiges<lb/>
französisches Nationalreich fertig: nebenbei einer der Fälle, wo man deutlich sehen<lb/>
kann, daß die Geschichte eine eigene immanente Logik hat, die über die Gedanken der<lb/>
jedesmaligen verehrlichen Zeitgenossen erhaben ist. Aber der rationalistische<lb/>
weltbürgerliche Gedanke hatte damit seine Rolle noch keineswegs ausgespielt.<lb/>
Die deutsche idealistische Philosophie, die in der Erkenntnistheorie so scharf mit<lb/>
dem Rationalismus brach, zog die ethischen Konsequenzen vielfach nicht, und<lb/>
so spielen denn die Weltbürgerpflichten und -rechte bei Kant und seinen Ge¬<lb/>
sinnungsgenossen noch eine große Rolle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1005"> Um diese Zeit begann auch in Deutschland der Liberalismus aus den<lb/>
Ergebnissen des neuzeitlichen Denkens politische Folgerungen zu ziehen. Für<lb/>
die erstarkenden liberalen Anschauungen war der internationale Gedanke höchst<lb/>
wichtig. Politik sollte eigentlich sein die Kunst des praktisch Möglichen, war<lb/>
aber damals weit mehr ein kräftig gefühlter Imperativ, philosophisch gefundene<lb/>
Lehrsätze in die Wirklichkeit einzuführen. Dem begriffsstolzen, immer zum<lb/>
Deduzieren geneigten Rationalismus war die volkstümliche Wahrheit, daß das<lb/>
Hemde näher als der Rock sei, viel zu drastisch. Ihm schien das Gedanken¬<lb/>
wesen des Weltbürgertums viel wichtiger als die Wirklichkeit des Staatsverbandes<lb/>
und Volkstums. Nationalgefühl erschien beinahe ein wenig rückständig, Staats¬<lb/>
gesinnung als äußerliche Ordnungspflicht: daher war im politischen Programm<lb/>
des Liberalismus von Hause aus der internationale Gedanke, das weltbürgerliche<lb/>
Empfinden eine viel selbstverständlichere Sache als Nationalismus und warme<lb/>
Hingabe an den Staat. Nicht jene weiteren, sondern diese engeren Gefühle<lb/>
mußten hinzugelernt werden. Die geistesgeschichtliche Situation war gerade<lb/>
umgekehrt wie in der Antike, wo der Stadt- und Stammespatriotismus ur-<lb/>
anfänglich gegeben waren, und die internationalen Gefühle neu hinzukamen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1006" next="#ID_1007"> Wir haben schon erwähnt, wie die Ziele der französischen Revolution aus<lb/>
weltbürgerlichen unversehens in nationale umschlugen. Ähnlich, aber langsamer<lb/>
und theoretischer, verlief die Entwicklung in Deutschland. Man begann zunächst<lb/>
einzusehen, daß die weltbürgerliche Arbeit unmittelbar zum Wohle der Menschheit<lb/>
doch ihre sehr großen praktischen Schwierigkeiten fand, daß man fast immer<lb/>
darauf angewiesen sei, seine humanen Bestrebungen in einem engeren Kreise<lb/>
Zur Geltung zu bringen. So bildete sich das Bewußtsein aus, daß zwischen<lb/>
dem einzelnen und der Menschheit Unterabteilungen verschiedener Grade not¬<lb/>
wendig, und daß die Nationen die wichtigsten dieser notwendigen Unterabteilungen<lb/>
seien. So fanden die deutschen Idealisten ihr Herz zum deutschen Volke wieder,<lb/>
dadurch daß ja auch dieses als eine solche notwendige Unterabteilung der<lb/>
Menschheit erschien. Und bald ging man einen Schritt weiter. Gerade weil<lb/>
man im Verlaufe der Revolution an den Franzosen eine Enttäuschung erlebte,<lb/>
weil diese bisher bewunderte Nation ihre humanen Ziele doch in recht eigen¬<lb/>
artiger Weise verwirklichte, begann man den Mut zu fassen, dem eigenen Volke<lb/>
etwas zuzutrauen und zu glauben, daß Deutsche denn doch nicht fähig wären,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0305] Der internationale Gedanke Staates wurde freilich in schier unbewußten Übergange ein recht gewalttätiges französisches Nationalreich fertig: nebenbei einer der Fälle, wo man deutlich sehen kann, daß die Geschichte eine eigene immanente Logik hat, die über die Gedanken der jedesmaligen verehrlichen Zeitgenossen erhaben ist. Aber der rationalistische weltbürgerliche Gedanke hatte damit seine Rolle noch keineswegs ausgespielt. Die deutsche idealistische Philosophie, die in der Erkenntnistheorie so scharf mit dem Rationalismus brach, zog die ethischen Konsequenzen vielfach nicht, und so spielen denn die Weltbürgerpflichten und -rechte bei Kant und seinen Ge¬ sinnungsgenossen noch eine große Rolle. Um diese Zeit begann auch in Deutschland der Liberalismus aus den Ergebnissen des neuzeitlichen Denkens politische Folgerungen zu ziehen. Für die erstarkenden liberalen Anschauungen war der internationale Gedanke höchst wichtig. Politik sollte eigentlich sein die Kunst des praktisch Möglichen, war aber damals weit mehr ein kräftig gefühlter Imperativ, philosophisch gefundene Lehrsätze in die Wirklichkeit einzuführen. Dem begriffsstolzen, immer zum Deduzieren geneigten Rationalismus war die volkstümliche Wahrheit, daß das Hemde näher als der Rock sei, viel zu drastisch. Ihm schien das Gedanken¬ wesen des Weltbürgertums viel wichtiger als die Wirklichkeit des Staatsverbandes und Volkstums. Nationalgefühl erschien beinahe ein wenig rückständig, Staats¬ gesinnung als äußerliche Ordnungspflicht: daher war im politischen Programm des Liberalismus von Hause aus der internationale Gedanke, das weltbürgerliche Empfinden eine viel selbstverständlichere Sache als Nationalismus und warme Hingabe an den Staat. Nicht jene weiteren, sondern diese engeren Gefühle mußten hinzugelernt werden. Die geistesgeschichtliche Situation war gerade umgekehrt wie in der Antike, wo der Stadt- und Stammespatriotismus ur- anfänglich gegeben waren, und die internationalen Gefühle neu hinzukamen. Wir haben schon erwähnt, wie die Ziele der französischen Revolution aus weltbürgerlichen unversehens in nationale umschlugen. Ähnlich, aber langsamer und theoretischer, verlief die Entwicklung in Deutschland. Man begann zunächst einzusehen, daß die weltbürgerliche Arbeit unmittelbar zum Wohle der Menschheit doch ihre sehr großen praktischen Schwierigkeiten fand, daß man fast immer darauf angewiesen sei, seine humanen Bestrebungen in einem engeren Kreise Zur Geltung zu bringen. So bildete sich das Bewußtsein aus, daß zwischen dem einzelnen und der Menschheit Unterabteilungen verschiedener Grade not¬ wendig, und daß die Nationen die wichtigsten dieser notwendigen Unterabteilungen seien. So fanden die deutschen Idealisten ihr Herz zum deutschen Volke wieder, dadurch daß ja auch dieses als eine solche notwendige Unterabteilung der Menschheit erschien. Und bald ging man einen Schritt weiter. Gerade weil man im Verlaufe der Revolution an den Franzosen eine Enttäuschung erlebte, weil diese bisher bewunderte Nation ihre humanen Ziele doch in recht eigen¬ artiger Weise verwirklichte, begann man den Mut zu fassen, dem eigenen Volke etwas zuzutrauen und zu glauben, daß Deutsche denn doch nicht fähig wären,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/305
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/305>, abgerufen am 15.01.2025.