Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der internationale Gedanke

der Verkehr knüpfte Verbindungen mit überseeischen Ländern, und das Auf-
kommen der Geldwirtschaft beschleunigte den Rhythmus des Lebens. Man sah,
man fühlte, man begriff, man mußte begreifen, daß die Menschheit etwas
faktisch Größeres war als die Gemeinschaft der katholischen Kirche. Und dazu
kam, daß diese Gemeinschaft in sich selber zerriß. Die alte Kirche gebar aus
sich selbst eine Antithese: den Protestantismus, die abendländische Kultur verlor
also ihren einheitlichen religiösen Ausdruck. Dabei tat sich aber im übrigen
keine Kulturkluft zwischen Katholiken und Protestanten auf: das ist der Unter¬
schied der abendländischen Kirchenspaltung von der älteren zwischen Rom und
Byzanz. In dieser Lage mußte offenbar werden, daß das internationale Interesse
ein anderes und räumlich weiteres geworden war als das katholische.

Der internationale Gedanke überflutete alle Dämme. Es war kein Reich
mehr da, auch in der Idee nicht mehr, das ihm eine räumliche Unterlage
gegeben hätte. Jenseits der Meere wohnten ja auch Menschen anderer Reiche
und fremdartiger Religionen. Also war die Menschheit mehr als alle Reiche
und Religionsgemeinschaften, der internationale Gedanke konnte weder Reichs¬
gedanke noch katholischer Gedanke mehr sein, er floß in die Weite wie das
Weltmeer und wurde "uferlos". Bei dem Mangel einer Menschheitsorganisation,
die dieser erweiterten Einsicht entsprochen hätte, blieb doch der universale Trieb
im Menschenherzen lebendig, der nicht nur für den Fortschritt beschränkter
Kreise, sondern für das Wohl des ganzen Menschendaseins etwas leisten will.
Und weil man keine sichtbare Einheit der Menschen mehr vor Augen sah, begann
man sie sittlich zu fordern und im Denken vorauszusetzen. So verlor der
internationale Gedanke seine historische Bodenständigkeit und nahm die Flügel
des rationalen Denkens. Aus der neuen Erfahrung und Wissenschaft gewann
er den Begriff der "Menschheit" im modernen Sinne. Bald genug fand eine
nicht minder rationalisierte Sittenlehre Pflichten, die aus diesem Begriff flössen,
und "Menschenrechte". Erleuchtete Geister begannen sich als "Weltbürger" zu
fühlen, obwohl es gar keinen Weltstaat gab, nicht einmal ein noch so schwaches
Surrogat dafür. Man war Weltbürger eigentlich in die blaue Luft hinein.
Die Zeit selber hatte ein luftiges Gefühl dabei freilich keineswegs. Das ist
kein Wunder, weil die rationalistische Philosophie Denken und Sein grund¬
sätzlich verwechselte. Es war also nur zeitgemäß, wenn der Rationalismus die
gedachte "Menschheit" für eine Tatsache der Wirklichkeit hielt.

So ist denn in der Zeit der Aufklärung die einst bodenständige und be¬
grenzte internationale Idee so weit geworden, aber auch so von des Gedankens
Blässe angekränkelt und "uferlos", wie sie dem Verdammungschorus der
modernen Nationalisten erscheint. Auf dem europäischen Kontinent -- von der
besonderen Jnselkultur Großbritanniens sehen wir ab -- war es die französische
Revolution, die endlich den Versuch unternahm, dem weltbürgerlichen Gedanken
eine tatsächliche Unterlage zu geben und einen Anlauf zur Organisation der
Menschheit zu machen. Statt des erträumten beglückenden universalen Menschen-


Der internationale Gedanke

der Verkehr knüpfte Verbindungen mit überseeischen Ländern, und das Auf-
kommen der Geldwirtschaft beschleunigte den Rhythmus des Lebens. Man sah,
man fühlte, man begriff, man mußte begreifen, daß die Menschheit etwas
faktisch Größeres war als die Gemeinschaft der katholischen Kirche. Und dazu
kam, daß diese Gemeinschaft in sich selber zerriß. Die alte Kirche gebar aus
sich selbst eine Antithese: den Protestantismus, die abendländische Kultur verlor
also ihren einheitlichen religiösen Ausdruck. Dabei tat sich aber im übrigen
keine Kulturkluft zwischen Katholiken und Protestanten auf: das ist der Unter¬
schied der abendländischen Kirchenspaltung von der älteren zwischen Rom und
Byzanz. In dieser Lage mußte offenbar werden, daß das internationale Interesse
ein anderes und räumlich weiteres geworden war als das katholische.

Der internationale Gedanke überflutete alle Dämme. Es war kein Reich
mehr da, auch in der Idee nicht mehr, das ihm eine räumliche Unterlage
gegeben hätte. Jenseits der Meere wohnten ja auch Menschen anderer Reiche
und fremdartiger Religionen. Also war die Menschheit mehr als alle Reiche
und Religionsgemeinschaften, der internationale Gedanke konnte weder Reichs¬
gedanke noch katholischer Gedanke mehr sein, er floß in die Weite wie das
Weltmeer und wurde „uferlos". Bei dem Mangel einer Menschheitsorganisation,
die dieser erweiterten Einsicht entsprochen hätte, blieb doch der universale Trieb
im Menschenherzen lebendig, der nicht nur für den Fortschritt beschränkter
Kreise, sondern für das Wohl des ganzen Menschendaseins etwas leisten will.
Und weil man keine sichtbare Einheit der Menschen mehr vor Augen sah, begann
man sie sittlich zu fordern und im Denken vorauszusetzen. So verlor der
internationale Gedanke seine historische Bodenständigkeit und nahm die Flügel
des rationalen Denkens. Aus der neuen Erfahrung und Wissenschaft gewann
er den Begriff der „Menschheit" im modernen Sinne. Bald genug fand eine
nicht minder rationalisierte Sittenlehre Pflichten, die aus diesem Begriff flössen,
und „Menschenrechte". Erleuchtete Geister begannen sich als „Weltbürger" zu
fühlen, obwohl es gar keinen Weltstaat gab, nicht einmal ein noch so schwaches
Surrogat dafür. Man war Weltbürger eigentlich in die blaue Luft hinein.
Die Zeit selber hatte ein luftiges Gefühl dabei freilich keineswegs. Das ist
kein Wunder, weil die rationalistische Philosophie Denken und Sein grund¬
sätzlich verwechselte. Es war also nur zeitgemäß, wenn der Rationalismus die
gedachte „Menschheit" für eine Tatsache der Wirklichkeit hielt.

So ist denn in der Zeit der Aufklärung die einst bodenständige und be¬
grenzte internationale Idee so weit geworden, aber auch so von des Gedankens
Blässe angekränkelt und „uferlos", wie sie dem Verdammungschorus der
modernen Nationalisten erscheint. Auf dem europäischen Kontinent — von der
besonderen Jnselkultur Großbritanniens sehen wir ab — war es die französische
Revolution, die endlich den Versuch unternahm, dem weltbürgerlichen Gedanken
eine tatsächliche Unterlage zu geben und einen Anlauf zur Organisation der
Menschheit zu machen. Statt des erträumten beglückenden universalen Menschen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329972"/>
          <fw type="header" place="top"> Der internationale Gedanke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1001" prev="#ID_1000"> der Verkehr knüpfte Verbindungen mit überseeischen Ländern, und das Auf-<lb/>
kommen der Geldwirtschaft beschleunigte den Rhythmus des Lebens. Man sah,<lb/>
man fühlte, man begriff, man mußte begreifen, daß die Menschheit etwas<lb/>
faktisch Größeres war als die Gemeinschaft der katholischen Kirche. Und dazu<lb/>
kam, daß diese Gemeinschaft in sich selber zerriß. Die alte Kirche gebar aus<lb/>
sich selbst eine Antithese: den Protestantismus, die abendländische Kultur verlor<lb/>
also ihren einheitlichen religiösen Ausdruck. Dabei tat sich aber im übrigen<lb/>
keine Kulturkluft zwischen Katholiken und Protestanten auf: das ist der Unter¬<lb/>
schied der abendländischen Kirchenspaltung von der älteren zwischen Rom und<lb/>
Byzanz. In dieser Lage mußte offenbar werden, daß das internationale Interesse<lb/>
ein anderes und räumlich weiteres geworden war als das katholische.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1002"> Der internationale Gedanke überflutete alle Dämme. Es war kein Reich<lb/>
mehr da, auch in der Idee nicht mehr, das ihm eine räumliche Unterlage<lb/>
gegeben hätte. Jenseits der Meere wohnten ja auch Menschen anderer Reiche<lb/>
und fremdartiger Religionen. Also war die Menschheit mehr als alle Reiche<lb/>
und Religionsgemeinschaften, der internationale Gedanke konnte weder Reichs¬<lb/>
gedanke noch katholischer Gedanke mehr sein, er floß in die Weite wie das<lb/>
Weltmeer und wurde &#x201E;uferlos". Bei dem Mangel einer Menschheitsorganisation,<lb/>
die dieser erweiterten Einsicht entsprochen hätte, blieb doch der universale Trieb<lb/>
im Menschenherzen lebendig, der nicht nur für den Fortschritt beschränkter<lb/>
Kreise, sondern für das Wohl des ganzen Menschendaseins etwas leisten will.<lb/>
Und weil man keine sichtbare Einheit der Menschen mehr vor Augen sah, begann<lb/>
man sie sittlich zu fordern und im Denken vorauszusetzen. So verlor der<lb/>
internationale Gedanke seine historische Bodenständigkeit und nahm die Flügel<lb/>
des rationalen Denkens. Aus der neuen Erfahrung und Wissenschaft gewann<lb/>
er den Begriff der &#x201E;Menschheit" im modernen Sinne. Bald genug fand eine<lb/>
nicht minder rationalisierte Sittenlehre Pflichten, die aus diesem Begriff flössen,<lb/>
und &#x201E;Menschenrechte". Erleuchtete Geister begannen sich als &#x201E;Weltbürger" zu<lb/>
fühlen, obwohl es gar keinen Weltstaat gab, nicht einmal ein noch so schwaches<lb/>
Surrogat dafür. Man war Weltbürger eigentlich in die blaue Luft hinein.<lb/>
Die Zeit selber hatte ein luftiges Gefühl dabei freilich keineswegs. Das ist<lb/>
kein Wunder, weil die rationalistische Philosophie Denken und Sein grund¬<lb/>
sätzlich verwechselte. Es war also nur zeitgemäß, wenn der Rationalismus die<lb/>
gedachte &#x201E;Menschheit" für eine Tatsache der Wirklichkeit hielt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1003" next="#ID_1004"> So ist denn in der Zeit der Aufklärung die einst bodenständige und be¬<lb/>
grenzte internationale Idee so weit geworden, aber auch so von des Gedankens<lb/>
Blässe angekränkelt und &#x201E;uferlos", wie sie dem Verdammungschorus der<lb/>
modernen Nationalisten erscheint. Auf dem europäischen Kontinent &#x2014; von der<lb/>
besonderen Jnselkultur Großbritanniens sehen wir ab &#x2014; war es die französische<lb/>
Revolution, die endlich den Versuch unternahm, dem weltbürgerlichen Gedanken<lb/>
eine tatsächliche Unterlage zu geben und einen Anlauf zur Organisation der<lb/>
Menschheit zu machen.  Statt des erträumten beglückenden universalen Menschen-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0304] Der internationale Gedanke der Verkehr knüpfte Verbindungen mit überseeischen Ländern, und das Auf- kommen der Geldwirtschaft beschleunigte den Rhythmus des Lebens. Man sah, man fühlte, man begriff, man mußte begreifen, daß die Menschheit etwas faktisch Größeres war als die Gemeinschaft der katholischen Kirche. Und dazu kam, daß diese Gemeinschaft in sich selber zerriß. Die alte Kirche gebar aus sich selbst eine Antithese: den Protestantismus, die abendländische Kultur verlor also ihren einheitlichen religiösen Ausdruck. Dabei tat sich aber im übrigen keine Kulturkluft zwischen Katholiken und Protestanten auf: das ist der Unter¬ schied der abendländischen Kirchenspaltung von der älteren zwischen Rom und Byzanz. In dieser Lage mußte offenbar werden, daß das internationale Interesse ein anderes und räumlich weiteres geworden war als das katholische. Der internationale Gedanke überflutete alle Dämme. Es war kein Reich mehr da, auch in der Idee nicht mehr, das ihm eine räumliche Unterlage gegeben hätte. Jenseits der Meere wohnten ja auch Menschen anderer Reiche und fremdartiger Religionen. Also war die Menschheit mehr als alle Reiche und Religionsgemeinschaften, der internationale Gedanke konnte weder Reichs¬ gedanke noch katholischer Gedanke mehr sein, er floß in die Weite wie das Weltmeer und wurde „uferlos". Bei dem Mangel einer Menschheitsorganisation, die dieser erweiterten Einsicht entsprochen hätte, blieb doch der universale Trieb im Menschenherzen lebendig, der nicht nur für den Fortschritt beschränkter Kreise, sondern für das Wohl des ganzen Menschendaseins etwas leisten will. Und weil man keine sichtbare Einheit der Menschen mehr vor Augen sah, begann man sie sittlich zu fordern und im Denken vorauszusetzen. So verlor der internationale Gedanke seine historische Bodenständigkeit und nahm die Flügel des rationalen Denkens. Aus der neuen Erfahrung und Wissenschaft gewann er den Begriff der „Menschheit" im modernen Sinne. Bald genug fand eine nicht minder rationalisierte Sittenlehre Pflichten, die aus diesem Begriff flössen, und „Menschenrechte". Erleuchtete Geister begannen sich als „Weltbürger" zu fühlen, obwohl es gar keinen Weltstaat gab, nicht einmal ein noch so schwaches Surrogat dafür. Man war Weltbürger eigentlich in die blaue Luft hinein. Die Zeit selber hatte ein luftiges Gefühl dabei freilich keineswegs. Das ist kein Wunder, weil die rationalistische Philosophie Denken und Sein grund¬ sätzlich verwechselte. Es war also nur zeitgemäß, wenn der Rationalismus die gedachte „Menschheit" für eine Tatsache der Wirklichkeit hielt. So ist denn in der Zeit der Aufklärung die einst bodenständige und be¬ grenzte internationale Idee so weit geworden, aber auch so von des Gedankens Blässe angekränkelt und „uferlos", wie sie dem Verdammungschorus der modernen Nationalisten erscheint. Auf dem europäischen Kontinent — von der besonderen Jnselkultur Großbritanniens sehen wir ab — war es die französische Revolution, die endlich den Versuch unternahm, dem weltbürgerlichen Gedanken eine tatsächliche Unterlage zu geben und einen Anlauf zur Organisation der Menschheit zu machen. Statt des erträumten beglückenden universalen Menschen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/304
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/304>, abgerufen am 15.01.2025.