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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

macht, zeigt sich z. B. darin, daß Louis Hans Pfitzner für den einzigen genialen
Komponisten unter den Modernen hält, während Jstel den "Armen Heinrich"
das gequälteste Werk nennt, das jemals über die Bühne gegangen sei, und
auch "Die Rose vom Liebesgarten", namentlich des Textes wegen, nicht eben
hochstellt.

Bei seiner ausgesprochenen Hinneigung zu romanischem Wesen und romanischer
Kunst ist es natürlich, daß er die französische und die italienische Oper verhältnis¬
mäßig ausführlich behandelt. Er gibt eingehende Analysen von Bizets "Carmen"
und Verdis "Falstaff", namentlich um die Vorzüglichkeit und Bühnengemäßheit
der beiden Textbücher klarzulegen. Es folgt noch ein Kapitel über "Nationale
Opern", in welchem die tschechische, polnische, ungarische, russische und skandi¬
navische Oper mehr gestreift als behandelt wird. Doch vermisse ich genügend
scharfe Bestimmungen darüber, weshalb die deutsche, französische und italienische
Oper weniger national sei als jene. In dem "Rückblick und Ausblick" sowie
im Vorwort zeigt es sich, daß Jstel die Einwirkung der politischen Ereignisse
auf die Kunst überschätzt. Bis zum Kriege sah er das Heil für die Oper in
der Vereinigung französischer und deutscher Elemente. Jetzt aber ist er über¬
zeugt, daß Frankreich zu politischer und darum auch zu künstlerischer Ohnmacht
herabsinken werde; die deutsche Oper werde also völlig auf sich selbst gestellt
sein, falls ihr nicht von Osten her neue Einflüsse zuströmen sollten, was davon
abhänge, ob Rußland nach dem Kriege politisch und daher auch künstlerisch
erstarken werde oder nicht. Demgegenüber kann darauf hingewiesen werden,
daß, wie schon oft betont wurde, die höchste Blüte des deutschen Kunstlebens
in eine Zeit der höchsten politischen Zerrissenheit, die zweite Hälfte des 18. Jahr¬
hunderts, fällt. Wir sollten endlich einsehen, daß wir, bis jetzt wenigstens,
durchaus nicht in der Lage sind, über derartige Zusammenhänge, soweit sie
überhaupt bestehen, allgemeine Gesetze aufzustellen.

Nach der Oper bespricht Louis "Sinfonie und sinfonische Dichtung", wobei
besonders die auf rassentheoretischen Vorurteilen beruhende schroffe Ablehnung
der Werke Mahlers auffällt. Ein weiteres Kapitel faßt Lied, Chor-, Kirchen-
und Kammermusik zusammen und ist offenbar in Eile geschrieben. Interessant
und für das Wesen des Parteigeistes charakteristisch ist das Bekenntnis des
Verfassers, daß er in seinen Jünglingsjahren zusammen mit anderen Wagner¬
heißspornen an der Kammermusik achtlos vorübergegangen sei, bis dann auch
sogenannte Vertreter der neudeutschen Richtung, wie Pfitzner und Klose, sich
diesem Gebiete zuwandten. Den Schluß des Buches bildet ein Kapitel über
Ausübung und Pflege der Musik.

Eine ganz anders geartete Übersicht vermittelt uns H. Kretzschmars weit
verbreiteter "Führer durch den Konzertsaal". Hier handelt es sich nicht nur
um Neuschöpfungen, sondern um Alles, was in unseren Konzertsälen zur Auf¬
führung gelangt und wenigstens einige Bedeutung beanspruchen kann. Bekanntlich
will Kretzschmar durch seine Analysen den Konzertbesucher auf das, was er zu hören


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macht, zeigt sich z. B. darin, daß Louis Hans Pfitzner für den einzigen genialen
Komponisten unter den Modernen hält, während Jstel den „Armen Heinrich"
das gequälteste Werk nennt, das jemals über die Bühne gegangen sei, und
auch „Die Rose vom Liebesgarten", namentlich des Textes wegen, nicht eben
hochstellt.

Bei seiner ausgesprochenen Hinneigung zu romanischem Wesen und romanischer
Kunst ist es natürlich, daß er die französische und die italienische Oper verhältnis¬
mäßig ausführlich behandelt. Er gibt eingehende Analysen von Bizets „Carmen"
und Verdis „Falstaff", namentlich um die Vorzüglichkeit und Bühnengemäßheit
der beiden Textbücher klarzulegen. Es folgt noch ein Kapitel über „Nationale
Opern", in welchem die tschechische, polnische, ungarische, russische und skandi¬
navische Oper mehr gestreift als behandelt wird. Doch vermisse ich genügend
scharfe Bestimmungen darüber, weshalb die deutsche, französische und italienische
Oper weniger national sei als jene. In dem „Rückblick und Ausblick" sowie
im Vorwort zeigt es sich, daß Jstel die Einwirkung der politischen Ereignisse
auf die Kunst überschätzt. Bis zum Kriege sah er das Heil für die Oper in
der Vereinigung französischer und deutscher Elemente. Jetzt aber ist er über¬
zeugt, daß Frankreich zu politischer und darum auch zu künstlerischer Ohnmacht
herabsinken werde; die deutsche Oper werde also völlig auf sich selbst gestellt
sein, falls ihr nicht von Osten her neue Einflüsse zuströmen sollten, was davon
abhänge, ob Rußland nach dem Kriege politisch und daher auch künstlerisch
erstarken werde oder nicht. Demgegenüber kann darauf hingewiesen werden,
daß, wie schon oft betont wurde, die höchste Blüte des deutschen Kunstlebens
in eine Zeit der höchsten politischen Zerrissenheit, die zweite Hälfte des 18. Jahr¬
hunderts, fällt. Wir sollten endlich einsehen, daß wir, bis jetzt wenigstens,
durchaus nicht in der Lage sind, über derartige Zusammenhänge, soweit sie
überhaupt bestehen, allgemeine Gesetze aufzustellen.

Nach der Oper bespricht Louis „Sinfonie und sinfonische Dichtung", wobei
besonders die auf rassentheoretischen Vorurteilen beruhende schroffe Ablehnung
der Werke Mahlers auffällt. Ein weiteres Kapitel faßt Lied, Chor-, Kirchen-
und Kammermusik zusammen und ist offenbar in Eile geschrieben. Interessant
und für das Wesen des Parteigeistes charakteristisch ist das Bekenntnis des
Verfassers, daß er in seinen Jünglingsjahren zusammen mit anderen Wagner¬
heißspornen an der Kammermusik achtlos vorübergegangen sei, bis dann auch
sogenannte Vertreter der neudeutschen Richtung, wie Pfitzner und Klose, sich
diesem Gebiete zuwandten. Den Schluß des Buches bildet ein Kapitel über
Ausübung und Pflege der Musik.

Eine ganz anders geartete Übersicht vermittelt uns H. Kretzschmars weit
verbreiteter „Führer durch den Konzertsaal". Hier handelt es sich nicht nur
um Neuschöpfungen, sondern um Alles, was in unseren Konzertsälen zur Auf¬
führung gelangt und wenigstens einige Bedeutung beanspruchen kann. Bekanntlich
will Kretzschmar durch seine Analysen den Konzertbesucher auf das, was er zu hören


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[0292] Neue Bücher über Musik macht, zeigt sich z. B. darin, daß Louis Hans Pfitzner für den einzigen genialen Komponisten unter den Modernen hält, während Jstel den „Armen Heinrich" das gequälteste Werk nennt, das jemals über die Bühne gegangen sei, und auch „Die Rose vom Liebesgarten", namentlich des Textes wegen, nicht eben hochstellt. Bei seiner ausgesprochenen Hinneigung zu romanischem Wesen und romanischer Kunst ist es natürlich, daß er die französische und die italienische Oper verhältnis¬ mäßig ausführlich behandelt. Er gibt eingehende Analysen von Bizets „Carmen" und Verdis „Falstaff", namentlich um die Vorzüglichkeit und Bühnengemäßheit der beiden Textbücher klarzulegen. Es folgt noch ein Kapitel über „Nationale Opern", in welchem die tschechische, polnische, ungarische, russische und skandi¬ navische Oper mehr gestreift als behandelt wird. Doch vermisse ich genügend scharfe Bestimmungen darüber, weshalb die deutsche, französische und italienische Oper weniger national sei als jene. In dem „Rückblick und Ausblick" sowie im Vorwort zeigt es sich, daß Jstel die Einwirkung der politischen Ereignisse auf die Kunst überschätzt. Bis zum Kriege sah er das Heil für die Oper in der Vereinigung französischer und deutscher Elemente. Jetzt aber ist er über¬ zeugt, daß Frankreich zu politischer und darum auch zu künstlerischer Ohnmacht herabsinken werde; die deutsche Oper werde also völlig auf sich selbst gestellt sein, falls ihr nicht von Osten her neue Einflüsse zuströmen sollten, was davon abhänge, ob Rußland nach dem Kriege politisch und daher auch künstlerisch erstarken werde oder nicht. Demgegenüber kann darauf hingewiesen werden, daß, wie schon oft betont wurde, die höchste Blüte des deutschen Kunstlebens in eine Zeit der höchsten politischen Zerrissenheit, die zweite Hälfte des 18. Jahr¬ hunderts, fällt. Wir sollten endlich einsehen, daß wir, bis jetzt wenigstens, durchaus nicht in der Lage sind, über derartige Zusammenhänge, soweit sie überhaupt bestehen, allgemeine Gesetze aufzustellen. Nach der Oper bespricht Louis „Sinfonie und sinfonische Dichtung", wobei besonders die auf rassentheoretischen Vorurteilen beruhende schroffe Ablehnung der Werke Mahlers auffällt. Ein weiteres Kapitel faßt Lied, Chor-, Kirchen- und Kammermusik zusammen und ist offenbar in Eile geschrieben. Interessant und für das Wesen des Parteigeistes charakteristisch ist das Bekenntnis des Verfassers, daß er in seinen Jünglingsjahren zusammen mit anderen Wagner¬ heißspornen an der Kammermusik achtlos vorübergegangen sei, bis dann auch sogenannte Vertreter der neudeutschen Richtung, wie Pfitzner und Klose, sich diesem Gebiete zuwandten. Den Schluß des Buches bildet ein Kapitel über Ausübung und Pflege der Musik. Eine ganz anders geartete Übersicht vermittelt uns H. Kretzschmars weit verbreiteter „Führer durch den Konzertsaal". Hier handelt es sich nicht nur um Neuschöpfungen, sondern um Alles, was in unseren Konzertsälen zur Auf¬ führung gelangt und wenigstens einige Bedeutung beanspruchen kann. Bekanntlich will Kretzschmar durch seine Analysen den Konzertbesucher auf das, was er zu hören

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/292>, abgerufen am 15.01.2025.