Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Bücher über Musik

im höchsten Maße beherzigenswert. Vergleicht man vollendete Kunstwerke mit¬
einander, so kann man überhaupt nicht von Fortschritt reden. Beispielsweise
hat es keinen Sinn, zu sagen, die Entwicklung sei von Palestrina zu Bach, von
diesem zu Beethoven "fortgeschritten; denn keiner der drei Meister schuf Höheres
als der andere, vielmehr nur Andersartiges. In der Wissenschaft und in der
Technik gibt es Fortschritt, insofern eine Überzeugung durch eine andere, eine
Konstruktion durch eine andere ersetzt wird. Das vollendete Kunstwerk dagegen
ist ein Individuum, ein absolut Einzigartiges, das ebensowenig wie ein Mensch
durch ein anderes Individuum ersetzt werden kann. Dennoch gibt es auch in
der Kunstgeschichte fortschreitende Entwicklungen, nämlich überall da, wo die
vollendeten Kunstwerke, die Höhepunkte der Kunst, durch allmähliche Aufwärts¬
bewegung aus primitiven Anfängen heraus vorbereitet werden. Ist der Höhe¬
punkt erreicht, kennen wir also das Ziel, so läßt sich auch der Weg verfolgen,
der zu demselben führte. Eine hiervon verschiedene und schwer zu entscheidende
Frage ist es dagegen, ob den jeweiligen Zeitgenossen die Etappen dieses Weges
als solche, d. h. als mehr oder weniger unbefriedigende Versuche, oder bereits
als das Vollendete erschienen, und andererseits kann uns nicht die Geschichte,
sondern nur unser ästhetisches und künstlerisches Urteil lehren, wo die Versuche
aufhören und die Vollendung zutage tritt. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß
eine fortgesetzte Entwicklung in der gleichen Richtung durchaus nicht immer einen
Fortschritt bedeutet und daß die Reaktion, dieses Wort in seinem ursprünglichen
Sinn, d. h. als natürliche Gegenwirkung verstanden, eine segensreiche Notwendig¬
keit ist. Es wechseln eben Zeiten des Aufstieges, der Höhe und des Verfalls
sowohl bestimmter Richtungen als auch ganzer Kunstzweige, ja selbst der Kunst
überhaupt. Wer ausgerüstet mit diesen aus dem Wesen der Kunst und aus
der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung gewonnenen Grundsätzen an die
Gegenwart herantritt, der mag im Zweifel darüber sein, ob er in ihr eine
Periode der Blüte, des Verfalls oder der Vorbereitung auf neue Höhepunkte
sehen soll; aber er wird wissen, was er von dem Gerede der Kunstpolitiker,
die mit den Schlagworten "Fortschritt" und "Reaktion" operieren, zu halten hat.

Jstel hat Louis' Gedanken mit Recht übernommen und an einer Stelle
seines Buches kurz wiedergegeben. Auch in der Behandlung der deutschen Oper
stimmt er, was die Klassifizierung betrifft, im wesentlichen mit seinem Vorgänger
überein. Den Hanpteinteilungsgründ bildet naturgemäß das Verhältnis der
verschiedenen Komponisten und Richtungen zu Wagner. Aber der Gesichtspunkt,
unter welchem die beiden Verfasser die Werke künstlerisch beurteilen, ist nicht
ganz der gleiche. Während Louis in erster Linie von der Musik ausgeht, über¬
wiegt bei Jstel das dramaturgische Interesse. Mit vollem Recht betont er die
Wichtigkeit eines guten Textbuches für den Bühnenerfolg. Aber er scheint mir
bisweilen zu sehr als Theaterpraktiker zu urteilen, d. h. seine Bewertung einer
Oper zu sehr davon abhängig zu machen, ob ihr ein dauernder Erfolg beschieden
war oder nicht. Wie stark sich in beiden Büchern das subjektive Moment geltend


Neue Bücher über Musik

im höchsten Maße beherzigenswert. Vergleicht man vollendete Kunstwerke mit¬
einander, so kann man überhaupt nicht von Fortschritt reden. Beispielsweise
hat es keinen Sinn, zu sagen, die Entwicklung sei von Palestrina zu Bach, von
diesem zu Beethoven „fortgeschritten; denn keiner der drei Meister schuf Höheres
als der andere, vielmehr nur Andersartiges. In der Wissenschaft und in der
Technik gibt es Fortschritt, insofern eine Überzeugung durch eine andere, eine
Konstruktion durch eine andere ersetzt wird. Das vollendete Kunstwerk dagegen
ist ein Individuum, ein absolut Einzigartiges, das ebensowenig wie ein Mensch
durch ein anderes Individuum ersetzt werden kann. Dennoch gibt es auch in
der Kunstgeschichte fortschreitende Entwicklungen, nämlich überall da, wo die
vollendeten Kunstwerke, die Höhepunkte der Kunst, durch allmähliche Aufwärts¬
bewegung aus primitiven Anfängen heraus vorbereitet werden. Ist der Höhe¬
punkt erreicht, kennen wir also das Ziel, so läßt sich auch der Weg verfolgen,
der zu demselben führte. Eine hiervon verschiedene und schwer zu entscheidende
Frage ist es dagegen, ob den jeweiligen Zeitgenossen die Etappen dieses Weges
als solche, d. h. als mehr oder weniger unbefriedigende Versuche, oder bereits
als das Vollendete erschienen, und andererseits kann uns nicht die Geschichte,
sondern nur unser ästhetisches und künstlerisches Urteil lehren, wo die Versuche
aufhören und die Vollendung zutage tritt. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß
eine fortgesetzte Entwicklung in der gleichen Richtung durchaus nicht immer einen
Fortschritt bedeutet und daß die Reaktion, dieses Wort in seinem ursprünglichen
Sinn, d. h. als natürliche Gegenwirkung verstanden, eine segensreiche Notwendig¬
keit ist. Es wechseln eben Zeiten des Aufstieges, der Höhe und des Verfalls
sowohl bestimmter Richtungen als auch ganzer Kunstzweige, ja selbst der Kunst
überhaupt. Wer ausgerüstet mit diesen aus dem Wesen der Kunst und aus
der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung gewonnenen Grundsätzen an die
Gegenwart herantritt, der mag im Zweifel darüber sein, ob er in ihr eine
Periode der Blüte, des Verfalls oder der Vorbereitung auf neue Höhepunkte
sehen soll; aber er wird wissen, was er von dem Gerede der Kunstpolitiker,
die mit den Schlagworten „Fortschritt" und „Reaktion" operieren, zu halten hat.

Jstel hat Louis' Gedanken mit Recht übernommen und an einer Stelle
seines Buches kurz wiedergegeben. Auch in der Behandlung der deutschen Oper
stimmt er, was die Klassifizierung betrifft, im wesentlichen mit seinem Vorgänger
überein. Den Hanpteinteilungsgründ bildet naturgemäß das Verhältnis der
verschiedenen Komponisten und Richtungen zu Wagner. Aber der Gesichtspunkt,
unter welchem die beiden Verfasser die Werke künstlerisch beurteilen, ist nicht
ganz der gleiche. Während Louis in erster Linie von der Musik ausgeht, über¬
wiegt bei Jstel das dramaturgische Interesse. Mit vollem Recht betont er die
Wichtigkeit eines guten Textbuches für den Bühnenerfolg. Aber er scheint mir
bisweilen zu sehr als Theaterpraktiker zu urteilen, d. h. seine Bewertung einer
Oper zu sehr davon abhängig zu machen, ob ihr ein dauernder Erfolg beschieden
war oder nicht. Wie stark sich in beiden Büchern das subjektive Moment geltend


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329959"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Bücher über Musik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_973" prev="#ID_972"> im höchsten Maße beherzigenswert. Vergleicht man vollendete Kunstwerke mit¬<lb/>
einander, so kann man überhaupt nicht von Fortschritt reden. Beispielsweise<lb/>
hat es keinen Sinn, zu sagen, die Entwicklung sei von Palestrina zu Bach, von<lb/>
diesem zu Beethoven &#x201E;fortgeschritten; denn keiner der drei Meister schuf Höheres<lb/>
als der andere, vielmehr nur Andersartiges. In der Wissenschaft und in der<lb/>
Technik gibt es Fortschritt, insofern eine Überzeugung durch eine andere, eine<lb/>
Konstruktion durch eine andere ersetzt wird. Das vollendete Kunstwerk dagegen<lb/>
ist ein Individuum, ein absolut Einzigartiges, das ebensowenig wie ein Mensch<lb/>
durch ein anderes Individuum ersetzt werden kann. Dennoch gibt es auch in<lb/>
der Kunstgeschichte fortschreitende Entwicklungen, nämlich überall da, wo die<lb/>
vollendeten Kunstwerke, die Höhepunkte der Kunst, durch allmähliche Aufwärts¬<lb/>
bewegung aus primitiven Anfängen heraus vorbereitet werden. Ist der Höhe¬<lb/>
punkt erreicht, kennen wir also das Ziel, so läßt sich auch der Weg verfolgen,<lb/>
der zu demselben führte. Eine hiervon verschiedene und schwer zu entscheidende<lb/>
Frage ist es dagegen, ob den jeweiligen Zeitgenossen die Etappen dieses Weges<lb/>
als solche, d. h. als mehr oder weniger unbefriedigende Versuche, oder bereits<lb/>
als das Vollendete erschienen, und andererseits kann uns nicht die Geschichte,<lb/>
sondern nur unser ästhetisches und künstlerisches Urteil lehren, wo die Versuche<lb/>
aufhören und die Vollendung zutage tritt. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß<lb/>
eine fortgesetzte Entwicklung in der gleichen Richtung durchaus nicht immer einen<lb/>
Fortschritt bedeutet und daß die Reaktion, dieses Wort in seinem ursprünglichen<lb/>
Sinn, d. h. als natürliche Gegenwirkung verstanden, eine segensreiche Notwendig¬<lb/>
keit ist. Es wechseln eben Zeiten des Aufstieges, der Höhe und des Verfalls<lb/>
sowohl bestimmter Richtungen als auch ganzer Kunstzweige, ja selbst der Kunst<lb/>
überhaupt. Wer ausgerüstet mit diesen aus dem Wesen der Kunst und aus<lb/>
der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung gewonnenen Grundsätzen an die<lb/>
Gegenwart herantritt, der mag im Zweifel darüber sein, ob er in ihr eine<lb/>
Periode der Blüte, des Verfalls oder der Vorbereitung auf neue Höhepunkte<lb/>
sehen soll; aber er wird wissen, was er von dem Gerede der Kunstpolitiker,<lb/>
die mit den Schlagworten &#x201E;Fortschritt" und &#x201E;Reaktion" operieren, zu halten hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_974" next="#ID_975"> Jstel hat Louis' Gedanken mit Recht übernommen und an einer Stelle<lb/>
seines Buches kurz wiedergegeben. Auch in der Behandlung der deutschen Oper<lb/>
stimmt er, was die Klassifizierung betrifft, im wesentlichen mit seinem Vorgänger<lb/>
überein. Den Hanpteinteilungsgründ bildet naturgemäß das Verhältnis der<lb/>
verschiedenen Komponisten und Richtungen zu Wagner. Aber der Gesichtspunkt,<lb/>
unter welchem die beiden Verfasser die Werke künstlerisch beurteilen, ist nicht<lb/>
ganz der gleiche. Während Louis in erster Linie von der Musik ausgeht, über¬<lb/>
wiegt bei Jstel das dramaturgische Interesse. Mit vollem Recht betont er die<lb/>
Wichtigkeit eines guten Textbuches für den Bühnenerfolg. Aber er scheint mir<lb/>
bisweilen zu sehr als Theaterpraktiker zu urteilen, d. h. seine Bewertung einer<lb/>
Oper zu sehr davon abhängig zu machen, ob ihr ein dauernder Erfolg beschieden<lb/>
war oder nicht. Wie stark sich in beiden Büchern das subjektive Moment geltend</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0291] Neue Bücher über Musik im höchsten Maße beherzigenswert. Vergleicht man vollendete Kunstwerke mit¬ einander, so kann man überhaupt nicht von Fortschritt reden. Beispielsweise hat es keinen Sinn, zu sagen, die Entwicklung sei von Palestrina zu Bach, von diesem zu Beethoven „fortgeschritten; denn keiner der drei Meister schuf Höheres als der andere, vielmehr nur Andersartiges. In der Wissenschaft und in der Technik gibt es Fortschritt, insofern eine Überzeugung durch eine andere, eine Konstruktion durch eine andere ersetzt wird. Das vollendete Kunstwerk dagegen ist ein Individuum, ein absolut Einzigartiges, das ebensowenig wie ein Mensch durch ein anderes Individuum ersetzt werden kann. Dennoch gibt es auch in der Kunstgeschichte fortschreitende Entwicklungen, nämlich überall da, wo die vollendeten Kunstwerke, die Höhepunkte der Kunst, durch allmähliche Aufwärts¬ bewegung aus primitiven Anfängen heraus vorbereitet werden. Ist der Höhe¬ punkt erreicht, kennen wir also das Ziel, so läßt sich auch der Weg verfolgen, der zu demselben führte. Eine hiervon verschiedene und schwer zu entscheidende Frage ist es dagegen, ob den jeweiligen Zeitgenossen die Etappen dieses Weges als solche, d. h. als mehr oder weniger unbefriedigende Versuche, oder bereits als das Vollendete erschienen, und andererseits kann uns nicht die Geschichte, sondern nur unser ästhetisches und künstlerisches Urteil lehren, wo die Versuche aufhören und die Vollendung zutage tritt. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß eine fortgesetzte Entwicklung in der gleichen Richtung durchaus nicht immer einen Fortschritt bedeutet und daß die Reaktion, dieses Wort in seinem ursprünglichen Sinn, d. h. als natürliche Gegenwirkung verstanden, eine segensreiche Notwendig¬ keit ist. Es wechseln eben Zeiten des Aufstieges, der Höhe und des Verfalls sowohl bestimmter Richtungen als auch ganzer Kunstzweige, ja selbst der Kunst überhaupt. Wer ausgerüstet mit diesen aus dem Wesen der Kunst und aus der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung gewonnenen Grundsätzen an die Gegenwart herantritt, der mag im Zweifel darüber sein, ob er in ihr eine Periode der Blüte, des Verfalls oder der Vorbereitung auf neue Höhepunkte sehen soll; aber er wird wissen, was er von dem Gerede der Kunstpolitiker, die mit den Schlagworten „Fortschritt" und „Reaktion" operieren, zu halten hat. Jstel hat Louis' Gedanken mit Recht übernommen und an einer Stelle seines Buches kurz wiedergegeben. Auch in der Behandlung der deutschen Oper stimmt er, was die Klassifizierung betrifft, im wesentlichen mit seinem Vorgänger überein. Den Hanpteinteilungsgründ bildet naturgemäß das Verhältnis der verschiedenen Komponisten und Richtungen zu Wagner. Aber der Gesichtspunkt, unter welchem die beiden Verfasser die Werke künstlerisch beurteilen, ist nicht ganz der gleiche. Während Louis in erster Linie von der Musik ausgeht, über¬ wiegt bei Jstel das dramaturgische Interesse. Mit vollem Recht betont er die Wichtigkeit eines guten Textbuches für den Bühnenerfolg. Aber er scheint mir bisweilen zu sehr als Theaterpraktiker zu urteilen, d. h. seine Bewertung einer Oper zu sehr davon abhängig zu machen, ob ihr ein dauernder Erfolg beschieden war oder nicht. Wie stark sich in beiden Büchern das subjektive Moment geltend

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/291
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/291>, abgerufen am 15.01.2025.