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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

denen chauvinistischer Politiker in nichts unterschieden. Erneste Lapisse, deutschen
Historikern in erster Linie als der Herausgeber der "Nistoire Zenörale an
4° siöels a nos jours" bekannt, richtete schon im April 1914 einen Brief
an die "Times", in dem er für die festere Gestaltung der Lntents Lordiale ein¬
trat und die elsaß-lothringische Frage als europäische und Weltfrage bezeichnete.
Das Schreiben veranlaßte den belgischen Gesandten in Berlin, Baron Beyens,
laut den bekannten Gesandschaftsberichten zu der Bemerkung, der Brief habe
bewiesen "qu'un bon nistorien peut kort bien n'etre qu'un pistre ecrivain
politiqus." In England hielt der ehemalige Cambridger Professor I. A. Cramb
Vorträge, die zum Kampf gegen das kriegslüsterne Deutschland aufforderten.
Noch dringender hat übrigens ein neutraler Historiker, der Amerikaner Homer
Lea, bekannt durch seine Werke über die spanische Inquisition in dem Buch
"l'NL ela^ ok tus Laxon" 1912 die Engländer ermahnt >>to unit tus
political ana territorial Expansion o! an^ Luropean state."

Nach dem Ausbruch des Krieges betätigte sich der Vorgänger Delcassös,
der Verfasser des Lebens Richelieus und des auch in Deutschland sehr ge¬
schätzten Werks über den Ursprung der Einrichtung der Provizialintendanten,
Gabriel Hanotaux, als Publizist im "Figaro" in einer Weise, die mit sachlicher,
wissenschaftlicher Arbeit nichts zu tun hat, und Henri Welschinger überzeugte
mit dem Gewicht seiner historischen Kenntnisse die Mitglieder der Acadsmie
francaise mit Leichtigkeit davon, daß Elsaß-Lothringen nur zu Frankreich ge¬
hören könne. Auf das niedrigste Niveau, auch französischer Publizistik, hat sich
Arthur Chuquets "of Valm^ a la Narns 1914/15" begeben, in dem alle
Märchen über Ermordung unschuldiger Einwohner mit und ohne Befehl
deutscher Offiziere usw. in glänzendem Stil zu Essais verarbeitet sind; Chuquet
studierte in Deutschland und schrieb außer einem großen Werk über die fran-
zöstschen Revolutionskriege auch über Heinrich von Kleist. Es muß überhaupt
hervorgehoben werden, daß es in den vergangenen Jahrzehnten sehr wohl
Franzosen gab, welche mit ihrer Tätigkeit im politischen Leben Kenntnis und
Verständnis für deutsche Geschichte für vereinbar hielten: der französische Senator
Waddington, Schwiegersohn des Präsidenten Jules Grsvy, schrieb ein be¬
achtenswertes, zweibändiges Werk über den Großen Kurfürsten; von Cavaignac,
dem Kriegsminister um die Jahrhundertwende, besitzen wir eine Schilderung
Preußens von 1806/13 (l.a tormation as la prusse contemporains). Eine
Besonderheit weist die französische Kriegsliteratur dadurch auf. daß ihr Staats¬
oberhaupt sich persönlich darum bemüht, geschichtliche Legenden in Zeitschriften
zu verbreiten. Noch jüngst hat Herr Poincare in der "I^eeture pour tous"
die Darstellung gegeben, daß im Juli 1914 keinerlei Kriegsvorbereitungen getroffen
gewesen seien. Man braucht sich nur Georges Ohnets "Journal ä'un bourZeois
ac Paris penäant la Zusrre 6e 1914" anzusehen, um sich von der Unwahr¬
heit dieser Angaben zu überzeugen.

Die englische Literatur über Vorgeschichte und Ursprung d"s Krieges ist


Grenzboten I 1918
Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

denen chauvinistischer Politiker in nichts unterschieden. Erneste Lapisse, deutschen
Historikern in erster Linie als der Herausgeber der „Nistoire Zenörale an
4° siöels a nos jours" bekannt, richtete schon im April 1914 einen Brief
an die „Times", in dem er für die festere Gestaltung der Lntents Lordiale ein¬
trat und die elsaß-lothringische Frage als europäische und Weltfrage bezeichnete.
Das Schreiben veranlaßte den belgischen Gesandten in Berlin, Baron Beyens,
laut den bekannten Gesandschaftsberichten zu der Bemerkung, der Brief habe
bewiesen „qu'un bon nistorien peut kort bien n'etre qu'un pistre ecrivain
politiqus." In England hielt der ehemalige Cambridger Professor I. A. Cramb
Vorträge, die zum Kampf gegen das kriegslüsterne Deutschland aufforderten.
Noch dringender hat übrigens ein neutraler Historiker, der Amerikaner Homer
Lea, bekannt durch seine Werke über die spanische Inquisition in dem Buch
„l'NL ela^ ok tus Laxon" 1912 die Engländer ermahnt >>to unit tus
political ana territorial Expansion o! an^ Luropean state."

Nach dem Ausbruch des Krieges betätigte sich der Vorgänger Delcassös,
der Verfasser des Lebens Richelieus und des auch in Deutschland sehr ge¬
schätzten Werks über den Ursprung der Einrichtung der Provizialintendanten,
Gabriel Hanotaux, als Publizist im „Figaro" in einer Weise, die mit sachlicher,
wissenschaftlicher Arbeit nichts zu tun hat, und Henri Welschinger überzeugte
mit dem Gewicht seiner historischen Kenntnisse die Mitglieder der Acadsmie
francaise mit Leichtigkeit davon, daß Elsaß-Lothringen nur zu Frankreich ge¬
hören könne. Auf das niedrigste Niveau, auch französischer Publizistik, hat sich
Arthur Chuquets „of Valm^ a la Narns 1914/15" begeben, in dem alle
Märchen über Ermordung unschuldiger Einwohner mit und ohne Befehl
deutscher Offiziere usw. in glänzendem Stil zu Essais verarbeitet sind; Chuquet
studierte in Deutschland und schrieb außer einem großen Werk über die fran-
zöstschen Revolutionskriege auch über Heinrich von Kleist. Es muß überhaupt
hervorgehoben werden, daß es in den vergangenen Jahrzehnten sehr wohl
Franzosen gab, welche mit ihrer Tätigkeit im politischen Leben Kenntnis und
Verständnis für deutsche Geschichte für vereinbar hielten: der französische Senator
Waddington, Schwiegersohn des Präsidenten Jules Grsvy, schrieb ein be¬
achtenswertes, zweibändiges Werk über den Großen Kurfürsten; von Cavaignac,
dem Kriegsminister um die Jahrhundertwende, besitzen wir eine Schilderung
Preußens von 1806/13 (l.a tormation as la prusse contemporains). Eine
Besonderheit weist die französische Kriegsliteratur dadurch auf. daß ihr Staats¬
oberhaupt sich persönlich darum bemüht, geschichtliche Legenden in Zeitschriften
zu verbreiten. Noch jüngst hat Herr Poincare in der „I^eeture pour tous"
die Darstellung gegeben, daß im Juli 1914 keinerlei Kriegsvorbereitungen getroffen
gewesen seien. Man braucht sich nur Georges Ohnets „Journal ä'un bourZeois
ac Paris penäant la Zusrre 6e 1914" anzusehen, um sich von der Unwahr¬
heit dieser Angaben zu überzeugen.

Die englische Literatur über Vorgeschichte und Ursprung d«s Krieges ist


Grenzboten I 1918
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[0029] Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit denen chauvinistischer Politiker in nichts unterschieden. Erneste Lapisse, deutschen Historikern in erster Linie als der Herausgeber der „Nistoire Zenörale an 4° siöels a nos jours" bekannt, richtete schon im April 1914 einen Brief an die „Times", in dem er für die festere Gestaltung der Lntents Lordiale ein¬ trat und die elsaß-lothringische Frage als europäische und Weltfrage bezeichnete. Das Schreiben veranlaßte den belgischen Gesandten in Berlin, Baron Beyens, laut den bekannten Gesandschaftsberichten zu der Bemerkung, der Brief habe bewiesen „qu'un bon nistorien peut kort bien n'etre qu'un pistre ecrivain politiqus." In England hielt der ehemalige Cambridger Professor I. A. Cramb Vorträge, die zum Kampf gegen das kriegslüsterne Deutschland aufforderten. Noch dringender hat übrigens ein neutraler Historiker, der Amerikaner Homer Lea, bekannt durch seine Werke über die spanische Inquisition in dem Buch „l'NL ela^ ok tus Laxon" 1912 die Engländer ermahnt >>to unit tus political ana territorial Expansion o! an^ Luropean state." Nach dem Ausbruch des Krieges betätigte sich der Vorgänger Delcassös, der Verfasser des Lebens Richelieus und des auch in Deutschland sehr ge¬ schätzten Werks über den Ursprung der Einrichtung der Provizialintendanten, Gabriel Hanotaux, als Publizist im „Figaro" in einer Weise, die mit sachlicher, wissenschaftlicher Arbeit nichts zu tun hat, und Henri Welschinger überzeugte mit dem Gewicht seiner historischen Kenntnisse die Mitglieder der Acadsmie francaise mit Leichtigkeit davon, daß Elsaß-Lothringen nur zu Frankreich ge¬ hören könne. Auf das niedrigste Niveau, auch französischer Publizistik, hat sich Arthur Chuquets „of Valm^ a la Narns 1914/15" begeben, in dem alle Märchen über Ermordung unschuldiger Einwohner mit und ohne Befehl deutscher Offiziere usw. in glänzendem Stil zu Essais verarbeitet sind; Chuquet studierte in Deutschland und schrieb außer einem großen Werk über die fran- zöstschen Revolutionskriege auch über Heinrich von Kleist. Es muß überhaupt hervorgehoben werden, daß es in den vergangenen Jahrzehnten sehr wohl Franzosen gab, welche mit ihrer Tätigkeit im politischen Leben Kenntnis und Verständnis für deutsche Geschichte für vereinbar hielten: der französische Senator Waddington, Schwiegersohn des Präsidenten Jules Grsvy, schrieb ein be¬ achtenswertes, zweibändiges Werk über den Großen Kurfürsten; von Cavaignac, dem Kriegsminister um die Jahrhundertwende, besitzen wir eine Schilderung Preußens von 1806/13 (l.a tormation as la prusse contemporains). Eine Besonderheit weist die französische Kriegsliteratur dadurch auf. daß ihr Staats¬ oberhaupt sich persönlich darum bemüht, geschichtliche Legenden in Zeitschriften zu verbreiten. Noch jüngst hat Herr Poincare in der „I^eeture pour tous" die Darstellung gegeben, daß im Juli 1914 keinerlei Kriegsvorbereitungen getroffen gewesen seien. Man braucht sich nur Georges Ohnets „Journal ä'un bourZeois ac Paris penäant la Zusrre 6e 1914" anzusehen, um sich von der Unwahr¬ heit dieser Angaben zu überzeugen. Die englische Literatur über Vorgeschichte und Ursprung d«s Krieges ist Grenzboten I 1918

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/29>, abgerufen am 15.01.2025.