Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

Krieg von 1870 bisher sahen. Er erschien uns bis jetzt als Abschluß der
Kämpfe, welche um die Wiedererweckung des alten Deutschen Reichs fast seit
seiner Zertrümmerung geführt wurden. Er wird auch stets das Fundament
bleiben, auf welchem das neue Deutsche Reich geschaffen worden ist, aber wir
sind schon jetzt geneigt, die heutigen Kämpfe als diejenigen anzusehen, welche
das damals Geschaffene vollenden. Wohl zeigten der glänzende Aufschwung
unserer Industrie, die beispiellose Ausdehnung unseres Welthandels, unsere
soziale Gesetzgebung und der Erwerb unserer Kolonien, die aufsteigende Ent¬
wicklung des Reichs, aber noch hatte es keine geographischen Landesgrenzen,
die uns einen unserer zentralen Lage entsprechenden Schutz gegen Angriffe
unserer Nachbaren gewähren konnten, und kein gesichertes Wirtschaftsgebiet,
ohne dessen Besitz und Nutzbarmachung wir mit den anderen Großmächten
nicht fchritthalten konnten und in Gefahr gerieten, in die frühere Ohnmacht zu¬
rückzusinken. Und nicht nur die äußere Bedrohung des Reichs, anfangs nur
durch den Revanchegedanken der Franzosen, später durch dessen Verbindung
mit der Vergrößerungssucht des russischen Reichs und schließlich mit dem Mi߬
trauen und der Eifersucht Englands, wird der Nachwelt den Bestand des neuen
Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 keineswegs als gesichert erscheinen lassen:
die innerpolitischen Verhältnisse der jüngst vergangenen Periode mögen sie in
dieser Anschauung bestärken. Wir dürfen nicht vergessen, daß noch in den
siebziger Jahren der Kulturkampf in dem katholischen Teil der Bevölkerung
Abneigung gegen das "protestantische Kaisertum" weckte und daß außer der
sozialistischen Partei auch das Zentrum und der linksstehende Freisinn der
Reichsregierung bei Heeres- und Flottenvermehrungen und -reformen die Ge¬
folgschaft versagten. Das heißt, so wie wir die Dinge heute sehen, dürfen
wir direkt sagen: in Existenzfragen des Reichs. Daß doktrinäre Parteipolitik
in der sozialdemokratischen Partei im Ernstfall nicht den Sieg über gesundes
vaterländisches Empfinden davontragen würde, ist der Welt erst am 4. August
1914 bekannt geworden. Bis dahin kann ihr Verhalten ebenso wohl als Be¬
drohung des Neichsbestandes angesehen werden wie das von verschiedenen
elsaß-lothringischen und polnischen Abgeordneten, schon weil es unsere Gegner
in ihren Plänen gegen uns bestärkte. Die Ereignisse von 1870/71 bilden nur
den Abschluß einer Periode in dem inneren und äußeren Kampf um Deutsch¬
lands Stellung als europäische Großmacht.

Über die Tätigkeit der historischen Forscher in den anderen am Krieg be¬
teiligten Großstaaten sind wir naturgemäß nur für Österreich-Ungarn er¬
schöpfend unterrichtet. Wie der Soldat mit der Waffe hat dort auch der Ge¬
lehrte mit der Feder gemeinsam mit uns gearbeitet. Aufsätze der österreich¬
ungarischen Historiker sind ebenso in deutschen wie in österreichischen Zeit¬
schriften erschienen,- naturgemäß sind sie ausschließlicher den östlichen Problemen
gewidmet. In Frankreich und England sind bekannte Historiker schon vor
dem Krieg mit Kundgebungen an die Öffentlichkeit getreten, welche sich von


Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

Krieg von 1870 bisher sahen. Er erschien uns bis jetzt als Abschluß der
Kämpfe, welche um die Wiedererweckung des alten Deutschen Reichs fast seit
seiner Zertrümmerung geführt wurden. Er wird auch stets das Fundament
bleiben, auf welchem das neue Deutsche Reich geschaffen worden ist, aber wir
sind schon jetzt geneigt, die heutigen Kämpfe als diejenigen anzusehen, welche
das damals Geschaffene vollenden. Wohl zeigten der glänzende Aufschwung
unserer Industrie, die beispiellose Ausdehnung unseres Welthandels, unsere
soziale Gesetzgebung und der Erwerb unserer Kolonien, die aufsteigende Ent¬
wicklung des Reichs, aber noch hatte es keine geographischen Landesgrenzen,
die uns einen unserer zentralen Lage entsprechenden Schutz gegen Angriffe
unserer Nachbaren gewähren konnten, und kein gesichertes Wirtschaftsgebiet,
ohne dessen Besitz und Nutzbarmachung wir mit den anderen Großmächten
nicht fchritthalten konnten und in Gefahr gerieten, in die frühere Ohnmacht zu¬
rückzusinken. Und nicht nur die äußere Bedrohung des Reichs, anfangs nur
durch den Revanchegedanken der Franzosen, später durch dessen Verbindung
mit der Vergrößerungssucht des russischen Reichs und schließlich mit dem Mi߬
trauen und der Eifersucht Englands, wird der Nachwelt den Bestand des neuen
Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 keineswegs als gesichert erscheinen lassen:
die innerpolitischen Verhältnisse der jüngst vergangenen Periode mögen sie in
dieser Anschauung bestärken. Wir dürfen nicht vergessen, daß noch in den
siebziger Jahren der Kulturkampf in dem katholischen Teil der Bevölkerung
Abneigung gegen das „protestantische Kaisertum" weckte und daß außer der
sozialistischen Partei auch das Zentrum und der linksstehende Freisinn der
Reichsregierung bei Heeres- und Flottenvermehrungen und -reformen die Ge¬
folgschaft versagten. Das heißt, so wie wir die Dinge heute sehen, dürfen
wir direkt sagen: in Existenzfragen des Reichs. Daß doktrinäre Parteipolitik
in der sozialdemokratischen Partei im Ernstfall nicht den Sieg über gesundes
vaterländisches Empfinden davontragen würde, ist der Welt erst am 4. August
1914 bekannt geworden. Bis dahin kann ihr Verhalten ebenso wohl als Be¬
drohung des Neichsbestandes angesehen werden wie das von verschiedenen
elsaß-lothringischen und polnischen Abgeordneten, schon weil es unsere Gegner
in ihren Plänen gegen uns bestärkte. Die Ereignisse von 1870/71 bilden nur
den Abschluß einer Periode in dem inneren und äußeren Kampf um Deutsch¬
lands Stellung als europäische Großmacht.

Über die Tätigkeit der historischen Forscher in den anderen am Krieg be¬
teiligten Großstaaten sind wir naturgemäß nur für Österreich-Ungarn er¬
schöpfend unterrichtet. Wie der Soldat mit der Waffe hat dort auch der Ge¬
lehrte mit der Feder gemeinsam mit uns gearbeitet. Aufsätze der österreich¬
ungarischen Historiker sind ebenso in deutschen wie in österreichischen Zeit¬
schriften erschienen,- naturgemäß sind sie ausschließlicher den östlichen Problemen
gewidmet. In Frankreich und England sind bekannte Historiker schon vor
dem Krieg mit Kundgebungen an die Öffentlichkeit getreten, welche sich von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329694"/>
          <fw type="header" place="top"> Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_59" prev="#ID_58"> Krieg von 1870 bisher sahen. Er erschien uns bis jetzt als Abschluß der<lb/>
Kämpfe, welche um die Wiedererweckung des alten Deutschen Reichs fast seit<lb/>
seiner Zertrümmerung geführt wurden. Er wird auch stets das Fundament<lb/>
bleiben, auf welchem das neue Deutsche Reich geschaffen worden ist, aber wir<lb/>
sind schon jetzt geneigt, die heutigen Kämpfe als diejenigen anzusehen, welche<lb/>
das damals Geschaffene vollenden. Wohl zeigten der glänzende Aufschwung<lb/>
unserer Industrie, die beispiellose Ausdehnung unseres Welthandels, unsere<lb/>
soziale Gesetzgebung und der Erwerb unserer Kolonien, die aufsteigende Ent¬<lb/>
wicklung des Reichs, aber noch hatte es keine geographischen Landesgrenzen,<lb/>
die uns einen unserer zentralen Lage entsprechenden Schutz gegen Angriffe<lb/>
unserer Nachbaren gewähren konnten, und kein gesichertes Wirtschaftsgebiet,<lb/>
ohne dessen Besitz und Nutzbarmachung wir mit den anderen Großmächten<lb/>
nicht fchritthalten konnten und in Gefahr gerieten, in die frühere Ohnmacht zu¬<lb/>
rückzusinken. Und nicht nur die äußere Bedrohung des Reichs, anfangs nur<lb/>
durch den Revanchegedanken der Franzosen, später durch dessen Verbindung<lb/>
mit der Vergrößerungssucht des russischen Reichs und schließlich mit dem Mi߬<lb/>
trauen und der Eifersucht Englands, wird der Nachwelt den Bestand des neuen<lb/>
Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 keineswegs als gesichert erscheinen lassen:<lb/>
die innerpolitischen Verhältnisse der jüngst vergangenen Periode mögen sie in<lb/>
dieser Anschauung bestärken. Wir dürfen nicht vergessen, daß noch in den<lb/>
siebziger Jahren der Kulturkampf in dem katholischen Teil der Bevölkerung<lb/>
Abneigung gegen das &#x201E;protestantische Kaisertum" weckte und daß außer der<lb/>
sozialistischen Partei auch das Zentrum und der linksstehende Freisinn der<lb/>
Reichsregierung bei Heeres- und Flottenvermehrungen und -reformen die Ge¬<lb/>
folgschaft versagten. Das heißt, so wie wir die Dinge heute sehen, dürfen<lb/>
wir direkt sagen: in Existenzfragen des Reichs. Daß doktrinäre Parteipolitik<lb/>
in der sozialdemokratischen Partei im Ernstfall nicht den Sieg über gesundes<lb/>
vaterländisches Empfinden davontragen würde, ist der Welt erst am 4. August<lb/>
1914 bekannt geworden. Bis dahin kann ihr Verhalten ebenso wohl als Be¬<lb/>
drohung des Neichsbestandes angesehen werden wie das von verschiedenen<lb/>
elsaß-lothringischen und polnischen Abgeordneten, schon weil es unsere Gegner<lb/>
in ihren Plänen gegen uns bestärkte. Die Ereignisse von 1870/71 bilden nur<lb/>
den Abschluß einer Periode in dem inneren und äußeren Kampf um Deutsch¬<lb/>
lands Stellung als europäische Großmacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_60" next="#ID_61"> Über die Tätigkeit der historischen Forscher in den anderen am Krieg be¬<lb/>
teiligten Großstaaten sind wir naturgemäß nur für Österreich-Ungarn er¬<lb/>
schöpfend unterrichtet. Wie der Soldat mit der Waffe hat dort auch der Ge¬<lb/>
lehrte mit der Feder gemeinsam mit uns gearbeitet. Aufsätze der österreich¬<lb/>
ungarischen Historiker sind ebenso in deutschen wie in österreichischen Zeit¬<lb/>
schriften erschienen,- naturgemäß sind sie ausschließlicher den östlichen Problemen<lb/>
gewidmet. In Frankreich und England sind bekannte Historiker schon vor<lb/>
dem Krieg mit Kundgebungen an die Öffentlichkeit getreten, welche sich von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0028] Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit Krieg von 1870 bisher sahen. Er erschien uns bis jetzt als Abschluß der Kämpfe, welche um die Wiedererweckung des alten Deutschen Reichs fast seit seiner Zertrümmerung geführt wurden. Er wird auch stets das Fundament bleiben, auf welchem das neue Deutsche Reich geschaffen worden ist, aber wir sind schon jetzt geneigt, die heutigen Kämpfe als diejenigen anzusehen, welche das damals Geschaffene vollenden. Wohl zeigten der glänzende Aufschwung unserer Industrie, die beispiellose Ausdehnung unseres Welthandels, unsere soziale Gesetzgebung und der Erwerb unserer Kolonien, die aufsteigende Ent¬ wicklung des Reichs, aber noch hatte es keine geographischen Landesgrenzen, die uns einen unserer zentralen Lage entsprechenden Schutz gegen Angriffe unserer Nachbaren gewähren konnten, und kein gesichertes Wirtschaftsgebiet, ohne dessen Besitz und Nutzbarmachung wir mit den anderen Großmächten nicht fchritthalten konnten und in Gefahr gerieten, in die frühere Ohnmacht zu¬ rückzusinken. Und nicht nur die äußere Bedrohung des Reichs, anfangs nur durch den Revanchegedanken der Franzosen, später durch dessen Verbindung mit der Vergrößerungssucht des russischen Reichs und schließlich mit dem Mi߬ trauen und der Eifersucht Englands, wird der Nachwelt den Bestand des neuen Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 keineswegs als gesichert erscheinen lassen: die innerpolitischen Verhältnisse der jüngst vergangenen Periode mögen sie in dieser Anschauung bestärken. Wir dürfen nicht vergessen, daß noch in den siebziger Jahren der Kulturkampf in dem katholischen Teil der Bevölkerung Abneigung gegen das „protestantische Kaisertum" weckte und daß außer der sozialistischen Partei auch das Zentrum und der linksstehende Freisinn der Reichsregierung bei Heeres- und Flottenvermehrungen und -reformen die Ge¬ folgschaft versagten. Das heißt, so wie wir die Dinge heute sehen, dürfen wir direkt sagen: in Existenzfragen des Reichs. Daß doktrinäre Parteipolitik in der sozialdemokratischen Partei im Ernstfall nicht den Sieg über gesundes vaterländisches Empfinden davontragen würde, ist der Welt erst am 4. August 1914 bekannt geworden. Bis dahin kann ihr Verhalten ebenso wohl als Be¬ drohung des Neichsbestandes angesehen werden wie das von verschiedenen elsaß-lothringischen und polnischen Abgeordneten, schon weil es unsere Gegner in ihren Plänen gegen uns bestärkte. Die Ereignisse von 1870/71 bilden nur den Abschluß einer Periode in dem inneren und äußeren Kampf um Deutsch¬ lands Stellung als europäische Großmacht. Über die Tätigkeit der historischen Forscher in den anderen am Krieg be¬ teiligten Großstaaten sind wir naturgemäß nur für Österreich-Ungarn er¬ schöpfend unterrichtet. Wie der Soldat mit der Waffe hat dort auch der Ge¬ lehrte mit der Feder gemeinsam mit uns gearbeitet. Aufsätze der österreich¬ ungarischen Historiker sind ebenso in deutschen wie in österreichischen Zeit¬ schriften erschienen,- naturgemäß sind sie ausschließlicher den östlichen Problemen gewidmet. In Frankreich und England sind bekannte Historiker schon vor dem Krieg mit Kundgebungen an die Öffentlichkeit getreten, welche sich von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/28
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/28>, abgerufen am 15.01.2025.