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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die französische Internationale

Sallon im entscheidenden Augenblick versagte, lag weniger an ihrem guten Willen,
als an der plötzlichen Erkenntnis von physischen und psychischen Grundtatsachen,
deren Bedeutung sie bisher verspottet und geleugnet hatten. Ihre Unaufrichtig-
keit besteht nur darin, daß sie scheinen wollen, was sie nicht mehr sind: Sozialisten
alten Stils (Stuttgart 1907). Dadurch, daß die ganze sozialistische Partei sich
mehr oder weniger fest auf den Boden der Internationale gestellt hatte, mußte
auch der französische Sozialismus in dem Augenblick an Bedeutung verlieren,
als sein schwungvoll angekündigter Widerstand sich schamhaft in den breiten
Strom der nationalen Stimmung schlängelte. Wenn Guesde und Sembat
Ministerposten bekamen, so wurde ihnen und den Parteigenossen der öffentlichen
Einheit zuliebe eine Wichtigkeit vorgetäuscht, die sie nicht mehr besaßen. Der
Sozialismus war zu sehr mit dem internationalen Gedanken verknüpft, um
unversehrt oder unverändert aus diesem internationalen Kampf hervorzugehen.

Um diese Schlußfolgerung sucht man sich immer noch herumzudrücken. In
allen Kundgebungen der Partei bemühte man sich, die eingestandenen nationalen
Kriegsziele mit den Sätzen des sozialistischen Programms in Einklang zu bringen.
Die Niederwerfung des schuldigen preußischen Militarismus sieht dann fast so
wie eine antimilitaristische Tat aus. Die Eroberung Elsaß-Lothringens wird
zu einer bloßen "Wiedernahme von Rechts wegen". Die Phrase von der Be¬
freiung der unterdrückten Völker (Elsässer, Belgier, Dänen, Polen, Italiener) kann
Annexionen verdecken und mundgerecht machen. Man versuchte auch an die alte
Überlieferung mit einem scheinbar internationalen Kongreß wieder anzuknüpfen,
auf dem in Wirklichkeit die Verbündeten ganz unter sich waren. Die Londoner
Versammlung im Februar 1915 vereinigte in ihren Mitgliedern die Vertreter
sämtlicher französischer Sozialistenparteien, auch den äußersten linken Flügel, die
revolutionären Syndikalisten. Der Kongreßbeschluß wurde wieder mit dem be¬
kannten antikapitalistischen Glaubensbekenntnis eingeleitet, das im Munde der
Minister Guesde und Sembat nur noch eine herkömmliche Formalität ist. Der
Stimmungswechsel soll durch eine Phrase verhüllt und erklärt werden, die der
Diplomaten spräche des Vierverbandes entnommen ist: "Der Einbruch der deutschen
Heere in Belgien und Frankreich bedroht die Existenz der unabhängigen Na¬
tionalitäten und verletzt das Vertragsrecht". Sie weisen es allerdings von sich,
einen Eroberungskrieg mitzumachen (und dieser Entschluß, den sie schon vorsichtig
durch das Prinzip der Völkerbefreiung eingeengt haben, ist ihnen angesichts der
Kriegslage sicherlich nicht schwer geworden), sie raffen sich auch zu einem schüchternen
Protest gegen die Verhaftung von sozialistischen Dumaabgeordneten auf und
sprechen die Hoffnung aus. daß sich nach dem Kriege die Arbeiterklassen aller
Industrieländer wieder in der Internationale vereinigen, um den Frieden aufrecht¬
zuerhalten. Aber man sieht besonders an dieser letzten Forderung, wie sie sich
selber verspotten. Sie haben den Glauben verloren. Die ganze Erklärung ist
von bodenloser Unehrlichkeit und Bedeutungslosigkeit. Vergebens breiten sie ihre
alten, abgelegten Grundsätze aus. Vergebens suchen sie ihr eigenes Gewissen


Die französische Internationale

Sallon im entscheidenden Augenblick versagte, lag weniger an ihrem guten Willen,
als an der plötzlichen Erkenntnis von physischen und psychischen Grundtatsachen,
deren Bedeutung sie bisher verspottet und geleugnet hatten. Ihre Unaufrichtig-
keit besteht nur darin, daß sie scheinen wollen, was sie nicht mehr sind: Sozialisten
alten Stils (Stuttgart 1907). Dadurch, daß die ganze sozialistische Partei sich
mehr oder weniger fest auf den Boden der Internationale gestellt hatte, mußte
auch der französische Sozialismus in dem Augenblick an Bedeutung verlieren,
als sein schwungvoll angekündigter Widerstand sich schamhaft in den breiten
Strom der nationalen Stimmung schlängelte. Wenn Guesde und Sembat
Ministerposten bekamen, so wurde ihnen und den Parteigenossen der öffentlichen
Einheit zuliebe eine Wichtigkeit vorgetäuscht, die sie nicht mehr besaßen. Der
Sozialismus war zu sehr mit dem internationalen Gedanken verknüpft, um
unversehrt oder unverändert aus diesem internationalen Kampf hervorzugehen.

Um diese Schlußfolgerung sucht man sich immer noch herumzudrücken. In
allen Kundgebungen der Partei bemühte man sich, die eingestandenen nationalen
Kriegsziele mit den Sätzen des sozialistischen Programms in Einklang zu bringen.
Die Niederwerfung des schuldigen preußischen Militarismus sieht dann fast so
wie eine antimilitaristische Tat aus. Die Eroberung Elsaß-Lothringens wird
zu einer bloßen „Wiedernahme von Rechts wegen". Die Phrase von der Be¬
freiung der unterdrückten Völker (Elsässer, Belgier, Dänen, Polen, Italiener) kann
Annexionen verdecken und mundgerecht machen. Man versuchte auch an die alte
Überlieferung mit einem scheinbar internationalen Kongreß wieder anzuknüpfen,
auf dem in Wirklichkeit die Verbündeten ganz unter sich waren. Die Londoner
Versammlung im Februar 1915 vereinigte in ihren Mitgliedern die Vertreter
sämtlicher französischer Sozialistenparteien, auch den äußersten linken Flügel, die
revolutionären Syndikalisten. Der Kongreßbeschluß wurde wieder mit dem be¬
kannten antikapitalistischen Glaubensbekenntnis eingeleitet, das im Munde der
Minister Guesde und Sembat nur noch eine herkömmliche Formalität ist. Der
Stimmungswechsel soll durch eine Phrase verhüllt und erklärt werden, die der
Diplomaten spräche des Vierverbandes entnommen ist: „Der Einbruch der deutschen
Heere in Belgien und Frankreich bedroht die Existenz der unabhängigen Na¬
tionalitäten und verletzt das Vertragsrecht". Sie weisen es allerdings von sich,
einen Eroberungskrieg mitzumachen (und dieser Entschluß, den sie schon vorsichtig
durch das Prinzip der Völkerbefreiung eingeengt haben, ist ihnen angesichts der
Kriegslage sicherlich nicht schwer geworden), sie raffen sich auch zu einem schüchternen
Protest gegen die Verhaftung von sozialistischen Dumaabgeordneten auf und
sprechen die Hoffnung aus. daß sich nach dem Kriege die Arbeiterklassen aller
Industrieländer wieder in der Internationale vereinigen, um den Frieden aufrecht¬
zuerhalten. Aber man sieht besonders an dieser letzten Forderung, wie sie sich
selber verspotten. Sie haben den Glauben verloren. Die ganze Erklärung ist
von bodenloser Unehrlichkeit und Bedeutungslosigkeit. Vergebens breiten sie ihre
alten, abgelegten Grundsätze aus. Vergebens suchen sie ihr eigenes Gewissen


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[0276] Die französische Internationale Sallon im entscheidenden Augenblick versagte, lag weniger an ihrem guten Willen, als an der plötzlichen Erkenntnis von physischen und psychischen Grundtatsachen, deren Bedeutung sie bisher verspottet und geleugnet hatten. Ihre Unaufrichtig- keit besteht nur darin, daß sie scheinen wollen, was sie nicht mehr sind: Sozialisten alten Stils (Stuttgart 1907). Dadurch, daß die ganze sozialistische Partei sich mehr oder weniger fest auf den Boden der Internationale gestellt hatte, mußte auch der französische Sozialismus in dem Augenblick an Bedeutung verlieren, als sein schwungvoll angekündigter Widerstand sich schamhaft in den breiten Strom der nationalen Stimmung schlängelte. Wenn Guesde und Sembat Ministerposten bekamen, so wurde ihnen und den Parteigenossen der öffentlichen Einheit zuliebe eine Wichtigkeit vorgetäuscht, die sie nicht mehr besaßen. Der Sozialismus war zu sehr mit dem internationalen Gedanken verknüpft, um unversehrt oder unverändert aus diesem internationalen Kampf hervorzugehen. Um diese Schlußfolgerung sucht man sich immer noch herumzudrücken. In allen Kundgebungen der Partei bemühte man sich, die eingestandenen nationalen Kriegsziele mit den Sätzen des sozialistischen Programms in Einklang zu bringen. Die Niederwerfung des schuldigen preußischen Militarismus sieht dann fast so wie eine antimilitaristische Tat aus. Die Eroberung Elsaß-Lothringens wird zu einer bloßen „Wiedernahme von Rechts wegen". Die Phrase von der Be¬ freiung der unterdrückten Völker (Elsässer, Belgier, Dänen, Polen, Italiener) kann Annexionen verdecken und mundgerecht machen. Man versuchte auch an die alte Überlieferung mit einem scheinbar internationalen Kongreß wieder anzuknüpfen, auf dem in Wirklichkeit die Verbündeten ganz unter sich waren. Die Londoner Versammlung im Februar 1915 vereinigte in ihren Mitgliedern die Vertreter sämtlicher französischer Sozialistenparteien, auch den äußersten linken Flügel, die revolutionären Syndikalisten. Der Kongreßbeschluß wurde wieder mit dem be¬ kannten antikapitalistischen Glaubensbekenntnis eingeleitet, das im Munde der Minister Guesde und Sembat nur noch eine herkömmliche Formalität ist. Der Stimmungswechsel soll durch eine Phrase verhüllt und erklärt werden, die der Diplomaten spräche des Vierverbandes entnommen ist: „Der Einbruch der deutschen Heere in Belgien und Frankreich bedroht die Existenz der unabhängigen Na¬ tionalitäten und verletzt das Vertragsrecht". Sie weisen es allerdings von sich, einen Eroberungskrieg mitzumachen (und dieser Entschluß, den sie schon vorsichtig durch das Prinzip der Völkerbefreiung eingeengt haben, ist ihnen angesichts der Kriegslage sicherlich nicht schwer geworden), sie raffen sich auch zu einem schüchternen Protest gegen die Verhaftung von sozialistischen Dumaabgeordneten auf und sprechen die Hoffnung aus. daß sich nach dem Kriege die Arbeiterklassen aller Industrieländer wieder in der Internationale vereinigen, um den Frieden aufrecht¬ zuerhalten. Aber man sieht besonders an dieser letzten Forderung, wie sie sich selber verspotten. Sie haben den Glauben verloren. Die ganze Erklärung ist von bodenloser Unehrlichkeit und Bedeutungslosigkeit. Vergebens breiten sie ihre alten, abgelegten Grundsätze aus. Vergebens suchen sie ihr eigenes Gewissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/276>, abgerufen am 15.01.2025.