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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die französische Internationale

Veranlagung der Franzosen einen eigenen, nationalen und strengen Zuschnitt
erhalten mußte.

1862 kamen zum ersten Male französische Arbeiterführer zu Marx nach
London, nachdem bereits eine internationale Korrespondenz eingerichtet war und
die Weltausstellungen einen Gedankenaustausch nahegelegt und erleichtert hatten.
Zwar blieb der Begriff der Internationale vorläufig noch unsicher umgrenzt.
Doch bildeten die Zusammenkünfte ein Gemeinsamkeitsgefühl heraus, das bei
drohenden internationalen Verwicklungen sofort Lebenszeichen von sich gab.
1867, als der Streit über Luxemburg ausbrach, wurde in Berlin, Paris und
der Schweiz protestiert. Auf dem Kongreß desselben Jahres zu Lausanne
wurde erklärt: der Krieg laste hauptsächlich auf der Arbeiterklasse und bedrohe
das internationale Ideal des Proletariats; die stehenden Heere müßten ab¬
geschafft, der Friede aufrechterhalten bleiben.

So drohte die soziale Internationale im Gegensatz zur geistigen, von der
sie gleichwohl die humanitäre Sentimentalität geerbt hatte, sogleich in das innere
Leben des Staates einzugreifen. Das erkannte man jetzt auch in Frankreich,
wo die kaiserliche Regierung, in liberale Bahnen einlenkend, den Arbeiter¬
vereinigungen zuerst gewogen war. Die Pariser Kommission wurde von der
Polizei aufgelöst, wirkte allerdings im Geheimen weiter und sandte auch ihre
Vertreter zu dem Brüsseler Kongreß (1868). Der radikale und revolutionäre
Trieb, der eine Eigentümlichkeit der französischen Rasse ist, tritt hier bereits
klar hervor und sucht sich zur Geltung zu bringen. Das französische Mitglied
Longuet stellte folgenden Antrag, den die Versammlung annahm: Der Kongreß
empfehle den Arbeitern, im Falle eines Krieges jede Arbeit einzustellen; im
Vertrauen auf die Solidarität aller Länder erwarte er, daß alle mittun werden
in diesem Kriege gegen den Krieg. So ging der erste Vorschlag, im Falle
eines Krieges sich gegen die eigene Regierung aufzulehnen, von den Fran¬
zosen aus.

Jedermann, zumindest die Eingeweihten der Internationale, mußten danach
im Jahre 1870 die Revolution der französischen Arbeiterpartei erwarten, zumal
ihre Regierung den Krieg herausgefordert hatte. Aber es kam anders. Die
Pariser Internationale hatte einige Tage vor Ausbruch der Feindseligkeiten
f.olgende Kundgebung veröffentlicht: "Deutsche Brüder! Bleibt taub gegenüber
den unsinnigen Herausforderungen, denn der Krieg zwischen uns wäre ein
Bruderkrieg". Anhänger des programmlosen Blanquismus machten in Marseille
den vergeblichen Versuch, in dem Augenblick das Rathaus zu stürmen, als sich
einige Arbeiterführer vor dem Lyoner Gericht wegen Teilnahme an der Inter¬
nationale verantworten sollten. Doch blieb dieses Unternehmen vollständig ver¬
einzelt und fand im ganzen Lande keine Nachahmer. Man war allgemein der
Überzeugung, daß die Verschwörer von der kaiserlichen Negierung gestellte Polizei¬
spitzel waren, während die Regierungspresse von preußischem Golde sprach.
Richard, einer der einflußreichsten Sozialisten, fühlte "angesichts dieses großen


Die französische Internationale

Veranlagung der Franzosen einen eigenen, nationalen und strengen Zuschnitt
erhalten mußte.

1862 kamen zum ersten Male französische Arbeiterführer zu Marx nach
London, nachdem bereits eine internationale Korrespondenz eingerichtet war und
die Weltausstellungen einen Gedankenaustausch nahegelegt und erleichtert hatten.
Zwar blieb der Begriff der Internationale vorläufig noch unsicher umgrenzt.
Doch bildeten die Zusammenkünfte ein Gemeinsamkeitsgefühl heraus, das bei
drohenden internationalen Verwicklungen sofort Lebenszeichen von sich gab.
1867, als der Streit über Luxemburg ausbrach, wurde in Berlin, Paris und
der Schweiz protestiert. Auf dem Kongreß desselben Jahres zu Lausanne
wurde erklärt: der Krieg laste hauptsächlich auf der Arbeiterklasse und bedrohe
das internationale Ideal des Proletariats; die stehenden Heere müßten ab¬
geschafft, der Friede aufrechterhalten bleiben.

So drohte die soziale Internationale im Gegensatz zur geistigen, von der
sie gleichwohl die humanitäre Sentimentalität geerbt hatte, sogleich in das innere
Leben des Staates einzugreifen. Das erkannte man jetzt auch in Frankreich,
wo die kaiserliche Regierung, in liberale Bahnen einlenkend, den Arbeiter¬
vereinigungen zuerst gewogen war. Die Pariser Kommission wurde von der
Polizei aufgelöst, wirkte allerdings im Geheimen weiter und sandte auch ihre
Vertreter zu dem Brüsseler Kongreß (1868). Der radikale und revolutionäre
Trieb, der eine Eigentümlichkeit der französischen Rasse ist, tritt hier bereits
klar hervor und sucht sich zur Geltung zu bringen. Das französische Mitglied
Longuet stellte folgenden Antrag, den die Versammlung annahm: Der Kongreß
empfehle den Arbeitern, im Falle eines Krieges jede Arbeit einzustellen; im
Vertrauen auf die Solidarität aller Länder erwarte er, daß alle mittun werden
in diesem Kriege gegen den Krieg. So ging der erste Vorschlag, im Falle
eines Krieges sich gegen die eigene Regierung aufzulehnen, von den Fran¬
zosen aus.

Jedermann, zumindest die Eingeweihten der Internationale, mußten danach
im Jahre 1870 die Revolution der französischen Arbeiterpartei erwarten, zumal
ihre Regierung den Krieg herausgefordert hatte. Aber es kam anders. Die
Pariser Internationale hatte einige Tage vor Ausbruch der Feindseligkeiten
f.olgende Kundgebung veröffentlicht: „Deutsche Brüder! Bleibt taub gegenüber
den unsinnigen Herausforderungen, denn der Krieg zwischen uns wäre ein
Bruderkrieg". Anhänger des programmlosen Blanquismus machten in Marseille
den vergeblichen Versuch, in dem Augenblick das Rathaus zu stürmen, als sich
einige Arbeiterführer vor dem Lyoner Gericht wegen Teilnahme an der Inter¬
nationale verantworten sollten. Doch blieb dieses Unternehmen vollständig ver¬
einzelt und fand im ganzen Lande keine Nachahmer. Man war allgemein der
Überzeugung, daß die Verschwörer von der kaiserlichen Negierung gestellte Polizei¬
spitzel waren, während die Regierungspresse von preußischem Golde sprach.
Richard, einer der einflußreichsten Sozialisten, fühlte „angesichts dieses großen


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[0270] Die französische Internationale Veranlagung der Franzosen einen eigenen, nationalen und strengen Zuschnitt erhalten mußte. 1862 kamen zum ersten Male französische Arbeiterführer zu Marx nach London, nachdem bereits eine internationale Korrespondenz eingerichtet war und die Weltausstellungen einen Gedankenaustausch nahegelegt und erleichtert hatten. Zwar blieb der Begriff der Internationale vorläufig noch unsicher umgrenzt. Doch bildeten die Zusammenkünfte ein Gemeinsamkeitsgefühl heraus, das bei drohenden internationalen Verwicklungen sofort Lebenszeichen von sich gab. 1867, als der Streit über Luxemburg ausbrach, wurde in Berlin, Paris und der Schweiz protestiert. Auf dem Kongreß desselben Jahres zu Lausanne wurde erklärt: der Krieg laste hauptsächlich auf der Arbeiterklasse und bedrohe das internationale Ideal des Proletariats; die stehenden Heere müßten ab¬ geschafft, der Friede aufrechterhalten bleiben. So drohte die soziale Internationale im Gegensatz zur geistigen, von der sie gleichwohl die humanitäre Sentimentalität geerbt hatte, sogleich in das innere Leben des Staates einzugreifen. Das erkannte man jetzt auch in Frankreich, wo die kaiserliche Regierung, in liberale Bahnen einlenkend, den Arbeiter¬ vereinigungen zuerst gewogen war. Die Pariser Kommission wurde von der Polizei aufgelöst, wirkte allerdings im Geheimen weiter und sandte auch ihre Vertreter zu dem Brüsseler Kongreß (1868). Der radikale und revolutionäre Trieb, der eine Eigentümlichkeit der französischen Rasse ist, tritt hier bereits klar hervor und sucht sich zur Geltung zu bringen. Das französische Mitglied Longuet stellte folgenden Antrag, den die Versammlung annahm: Der Kongreß empfehle den Arbeitern, im Falle eines Krieges jede Arbeit einzustellen; im Vertrauen auf die Solidarität aller Länder erwarte er, daß alle mittun werden in diesem Kriege gegen den Krieg. So ging der erste Vorschlag, im Falle eines Krieges sich gegen die eigene Regierung aufzulehnen, von den Fran¬ zosen aus. Jedermann, zumindest die Eingeweihten der Internationale, mußten danach im Jahre 1870 die Revolution der französischen Arbeiterpartei erwarten, zumal ihre Regierung den Krieg herausgefordert hatte. Aber es kam anders. Die Pariser Internationale hatte einige Tage vor Ausbruch der Feindseligkeiten f.olgende Kundgebung veröffentlicht: „Deutsche Brüder! Bleibt taub gegenüber den unsinnigen Herausforderungen, denn der Krieg zwischen uns wäre ein Bruderkrieg". Anhänger des programmlosen Blanquismus machten in Marseille den vergeblichen Versuch, in dem Augenblick das Rathaus zu stürmen, als sich einige Arbeiterführer vor dem Lyoner Gericht wegen Teilnahme an der Inter¬ nationale verantworten sollten. Doch blieb dieses Unternehmen vollständig ver¬ einzelt und fand im ganzen Lande keine Nachahmer. Man war allgemein der Überzeugung, daß die Verschwörer von der kaiserlichen Negierung gestellte Polizei¬ spitzel waren, während die Regierungspresse von preußischem Golde sprach. Richard, einer der einflußreichsten Sozialisten, fühlte „angesichts dieses großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/270>, abgerufen am 15.01.2025.