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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

ohnmächtigen Staatenbund in einen einheitlichen Bundesstaat zu verwandeln,
der sich sofort die ihm 1815 verweigerten Grenzlande Elsaß-Lothringen er¬
oberte. Schließlich erstarkten auch die Balkanvölker so. daß es ihnen glückte,
der jahrhundertelang ertragenen türkischen Herrschaft ledig zu werden. So
große Umwälzungen alle diese Konflikte auch für die einzelnen Beteiligten
brachten, vom Standpunkt der europäischen Geschichte gesehen blieben sie lokal
beschränkt, bereiteten jedoch alle, wie die gegenwärtigen Ereignisse zum Über¬
fluß beweisen, den Boden für einen allgemeinen Konflikt vor, der in seiner
Ausdehnung über Europa in nichts hinter dem dreißigjährigen Kriege und
dem napoleonischen zurücksteht, ja sie noch übertrifft. Dabei ist hervorzuheben,
daß diesmal mit Rücksicht auf die großen materiellen und Kulturwerte und
die höhere Schätzung des Menschenlebens der Versuch gemacht wurde, den
Übergang von einem Zeitabschnitt in den anderen -- vom deutschen Stand¬
punkt dürfen wir vielleicht sagen: den Übergang Deutschlands von nationaler
Wirtschaft zur Weltwirtschaft -- ohne einen Krieg zu erreichen und die
Streitigkeiten auf friedlichem, diplomatischem Wege auszugleichen. Es gelang
nicht. Als England, die Macht, welche aus dem Krieg vor hundert Jahren
als stärkste See- und Handelsmacht Europas hervorgegangen war, sich als
solche von dem emporstrebenden Deutschen Reich bedroht stthlte, schlössen sich
sämtliche Staaten, die sich durch die Entwicklung des vergangenen Zeitalters benach¬
teiligt oder bedroht fühlten, beziehungsweise ihre Wünsche nicht erfüllt sahen, den bei¬
den Parteien an, in der Hoffnung, unter dem Schutz der stärksten Mächte des
Zeitalters doch ihr Schicksal in dem von ihnen gewünschten Sinn wenden zu
können. So hoffte Frankreich Elsaß-Lothringen wieder zu erlangen, Italien
die noch fehlenden Landesteile italienischer Zunge, Trient und Trieft, seinem
Königreich einzuverleiben. Rußland die diplomatischen Niederlagen wettzu¬
machen, welche Österreich-Ungarn seinem Expansionsdrang zu verschiedenen
Malen bereitet hatte. Die Türkei hofft durch den Anschluß an Deutschland-
Osterreich vor weiterer Verkleinerung geschützt zu werden, Bulgarien sucht mit
Hilfe der Zentralmächte seine Niederlage im zweiten Balkankrieg zu rächen.
Wir sehen also, daß der gesamte Konfliktstoff, welcher durch den Zusammen¬
schluß alter und junger Kräfte und durch die unbefriedigende Lösung terri¬
torialer Fragen (Belgien, Polen) in den letzten hundert Jahren entstanden
war. mit erstaunlicher Geschlossenheit in dem gegenwärtigen Krieg seinen Aus¬
trag sucht. Und diese Entwicklung der Geschichte von 1314 bis 1914 ge¬
stattet uns wohl schon jetzt zu sagen, daß -- wie immer sich die Dinge auch
im Friedensschluß gestalten mögen -- alle Voraussetzungen gegeben sind, um
künftigen Geschlechtern diese Zeit als eine geschlossene Epoche der europäischen
Geschichte erscheinen zu lassen. Sie ist beherrscht von dem Streben der Völker¬
schaften, nationale Einheiten zu politischen zu gestalten.

Aber auch für die deutsche Geschichte wird sie künstig ein geschlossener
Zeitabschnitt sein. Schon für uns verschiebt sich das Bild, in welchem wir den.


Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit

ohnmächtigen Staatenbund in einen einheitlichen Bundesstaat zu verwandeln,
der sich sofort die ihm 1815 verweigerten Grenzlande Elsaß-Lothringen er¬
oberte. Schließlich erstarkten auch die Balkanvölker so. daß es ihnen glückte,
der jahrhundertelang ertragenen türkischen Herrschaft ledig zu werden. So
große Umwälzungen alle diese Konflikte auch für die einzelnen Beteiligten
brachten, vom Standpunkt der europäischen Geschichte gesehen blieben sie lokal
beschränkt, bereiteten jedoch alle, wie die gegenwärtigen Ereignisse zum Über¬
fluß beweisen, den Boden für einen allgemeinen Konflikt vor, der in seiner
Ausdehnung über Europa in nichts hinter dem dreißigjährigen Kriege und
dem napoleonischen zurücksteht, ja sie noch übertrifft. Dabei ist hervorzuheben,
daß diesmal mit Rücksicht auf die großen materiellen und Kulturwerte und
die höhere Schätzung des Menschenlebens der Versuch gemacht wurde, den
Übergang von einem Zeitabschnitt in den anderen — vom deutschen Stand¬
punkt dürfen wir vielleicht sagen: den Übergang Deutschlands von nationaler
Wirtschaft zur Weltwirtschaft — ohne einen Krieg zu erreichen und die
Streitigkeiten auf friedlichem, diplomatischem Wege auszugleichen. Es gelang
nicht. Als England, die Macht, welche aus dem Krieg vor hundert Jahren
als stärkste See- und Handelsmacht Europas hervorgegangen war, sich als
solche von dem emporstrebenden Deutschen Reich bedroht stthlte, schlössen sich
sämtliche Staaten, die sich durch die Entwicklung des vergangenen Zeitalters benach¬
teiligt oder bedroht fühlten, beziehungsweise ihre Wünsche nicht erfüllt sahen, den bei¬
den Parteien an, in der Hoffnung, unter dem Schutz der stärksten Mächte des
Zeitalters doch ihr Schicksal in dem von ihnen gewünschten Sinn wenden zu
können. So hoffte Frankreich Elsaß-Lothringen wieder zu erlangen, Italien
die noch fehlenden Landesteile italienischer Zunge, Trient und Trieft, seinem
Königreich einzuverleiben. Rußland die diplomatischen Niederlagen wettzu¬
machen, welche Österreich-Ungarn seinem Expansionsdrang zu verschiedenen
Malen bereitet hatte. Die Türkei hofft durch den Anschluß an Deutschland-
Osterreich vor weiterer Verkleinerung geschützt zu werden, Bulgarien sucht mit
Hilfe der Zentralmächte seine Niederlage im zweiten Balkankrieg zu rächen.
Wir sehen also, daß der gesamte Konfliktstoff, welcher durch den Zusammen¬
schluß alter und junger Kräfte und durch die unbefriedigende Lösung terri¬
torialer Fragen (Belgien, Polen) in den letzten hundert Jahren entstanden
war. mit erstaunlicher Geschlossenheit in dem gegenwärtigen Krieg seinen Aus¬
trag sucht. Und diese Entwicklung der Geschichte von 1314 bis 1914 ge¬
stattet uns wohl schon jetzt zu sagen, daß — wie immer sich die Dinge auch
im Friedensschluß gestalten mögen — alle Voraussetzungen gegeben sind, um
künftigen Geschlechtern diese Zeit als eine geschlossene Epoche der europäischen
Geschichte erscheinen zu lassen. Sie ist beherrscht von dem Streben der Völker¬
schaften, nationale Einheiten zu politischen zu gestalten.

Aber auch für die deutsche Geschichte wird sie künstig ein geschlossener
Zeitabschnitt sein. Schon für uns verschiebt sich das Bild, in welchem wir den.


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[0027] Die geschichtliche Betrachtung der vergangenen Friedenszeit ohnmächtigen Staatenbund in einen einheitlichen Bundesstaat zu verwandeln, der sich sofort die ihm 1815 verweigerten Grenzlande Elsaß-Lothringen er¬ oberte. Schließlich erstarkten auch die Balkanvölker so. daß es ihnen glückte, der jahrhundertelang ertragenen türkischen Herrschaft ledig zu werden. So große Umwälzungen alle diese Konflikte auch für die einzelnen Beteiligten brachten, vom Standpunkt der europäischen Geschichte gesehen blieben sie lokal beschränkt, bereiteten jedoch alle, wie die gegenwärtigen Ereignisse zum Über¬ fluß beweisen, den Boden für einen allgemeinen Konflikt vor, der in seiner Ausdehnung über Europa in nichts hinter dem dreißigjährigen Kriege und dem napoleonischen zurücksteht, ja sie noch übertrifft. Dabei ist hervorzuheben, daß diesmal mit Rücksicht auf die großen materiellen und Kulturwerte und die höhere Schätzung des Menschenlebens der Versuch gemacht wurde, den Übergang von einem Zeitabschnitt in den anderen — vom deutschen Stand¬ punkt dürfen wir vielleicht sagen: den Übergang Deutschlands von nationaler Wirtschaft zur Weltwirtschaft — ohne einen Krieg zu erreichen und die Streitigkeiten auf friedlichem, diplomatischem Wege auszugleichen. Es gelang nicht. Als England, die Macht, welche aus dem Krieg vor hundert Jahren als stärkste See- und Handelsmacht Europas hervorgegangen war, sich als solche von dem emporstrebenden Deutschen Reich bedroht stthlte, schlössen sich sämtliche Staaten, die sich durch die Entwicklung des vergangenen Zeitalters benach¬ teiligt oder bedroht fühlten, beziehungsweise ihre Wünsche nicht erfüllt sahen, den bei¬ den Parteien an, in der Hoffnung, unter dem Schutz der stärksten Mächte des Zeitalters doch ihr Schicksal in dem von ihnen gewünschten Sinn wenden zu können. So hoffte Frankreich Elsaß-Lothringen wieder zu erlangen, Italien die noch fehlenden Landesteile italienischer Zunge, Trient und Trieft, seinem Königreich einzuverleiben. Rußland die diplomatischen Niederlagen wettzu¬ machen, welche Österreich-Ungarn seinem Expansionsdrang zu verschiedenen Malen bereitet hatte. Die Türkei hofft durch den Anschluß an Deutschland- Osterreich vor weiterer Verkleinerung geschützt zu werden, Bulgarien sucht mit Hilfe der Zentralmächte seine Niederlage im zweiten Balkankrieg zu rächen. Wir sehen also, daß der gesamte Konfliktstoff, welcher durch den Zusammen¬ schluß alter und junger Kräfte und durch die unbefriedigende Lösung terri¬ torialer Fragen (Belgien, Polen) in den letzten hundert Jahren entstanden war. mit erstaunlicher Geschlossenheit in dem gegenwärtigen Krieg seinen Aus¬ trag sucht. Und diese Entwicklung der Geschichte von 1314 bis 1914 ge¬ stattet uns wohl schon jetzt zu sagen, daß — wie immer sich die Dinge auch im Friedensschluß gestalten mögen — alle Voraussetzungen gegeben sind, um künftigen Geschlechtern diese Zeit als eine geschlossene Epoche der europäischen Geschichte erscheinen zu lassen. Sie ist beherrscht von dem Streben der Völker¬ schaften, nationale Einheiten zu politischen zu gestalten. Aber auch für die deutsche Geschichte wird sie künstig ein geschlossener Zeitabschnitt sein. Schon für uns verschiebt sich das Bild, in welchem wir den.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/27>, abgerufen am 15.01.2025.