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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Richtungen der Psychologie

Sicherer und wertvoller, wenn auch durch eine kleinere Zahl gelungener
Experimente gestützt, erwiesen sich die sogenannten Aussageversuche, bei denen
der Versuchsleiter eine wirkliche Situation des Lebens nach einem vorbedachten
Plan herbeiführt und die Teilnehmer danach als Zeugen protokollarisch ver¬
nimmt. Schon das erste im Liszt'schen kriminalistischen Seminar ausgeführte
Experiment brachte bekanntlich den Nachweis, wie sehr die Aussagen auch best¬
williger Zeugen durch Wahrnehmungstäuschuugen und Suggestionen gefälscht
werden können. Eine große Zweigwissenschaft der experimentellen Psychologie,
die Psychologie der Aussage, wurde unter Zuhilfenahme bildlich dargestellter
Vorgänge hierauf aufgebaut.

Ein exaktes Untersuchungsverfahren hat die experimentelle Psychologie
weiter für die sogenannten Begleiterscheinungen der Gefühle im Anschluß an
die Physiologie ausgebildet. Jene heute aufs feinste meßbaren Veränderungen
der Atmung, des Pulses, der Blutverteilung und der galvanischen Leitung im
Körper, die die Gefühlszustände in mehr oder weniger charakteristischer Weise
begleiten, können naturgemäß nur als äußere Signale der seelischen Vorgänge
dienen, vermögen dagegen nicht die subjektive Betrachtung und Analyse des
inneren Erlebens zu ersetzen.

Eine große Ausdehnung und Bedeutung haben die Jntelligenzprüfungen,
besonders durch ihre Beziehung zum Schul- und Hilfsschulwesen, zum Jugend¬
gericht, Fürsorgewesen, Militärdienst und zur Psychiatrie erlangt. Zahlreiche, teils
wertvolle Methoden sind aufgestellt worden, um die Altersstufen normaler Jn-
telligenzentwicklung und den Grad ihrer Abweichung festzustellen. Da eine
einheitliche Definition des Begriffes Intelligenz nicht existiert, Intelligenz sich
vielmehr in individuell wechselnder Weise aus den verschiedensten Befähigungen
und Kenntnissen zusammensetzen kann -- man denke an mathematische,
literarische, sprachliche, künstlerische Begabung -- so wird die Bewertung einer
Jntelligenzvrüfung doch stets eines erfahrenen Beurteilers bedürfen, und ein
allgemeiner, objektiver Kanon nur in beschränktem Sinne aufstellbar sein. Will
man diese Prüfungen den psychologischen Experimenten zurechnen, so können sie
es nur in dem Sinne sein, in dem auch jedes Diktat, jedes Extemporale ein
Experiment des Lehrers ist, und nur die systematische Ausführung und Bearbeitung
der Resultate verleiht ihnen den wissenschaftlichen Charakter. Die Berechtigung,
als ein psychologisches Experiment zu gelten, muß dagegen ganz abgesprochen werden
dem in Amerika besonders beliebten Verfahren, durch ausgesandte Fragebogen
über alle möglichen inneren Erlebnisse, über Frömmigkeit, Bekehrungen, Lügen¬
haftigkeit, Ahnungen, Beobachtungsmaterial zu erhalten. Diese unkontrollierbaren
schriftlichen Mitteilungen verdienen höchstens die Bezeichnung einer statistischen
Sammlung; ihre Fehlerquellen sind unberechenbar, und größer als die jeder
wissenschaftlichen Selbstbeobachtung.

Im letzten Jahrzehnt hat sich die experimentelle Psychologie in natürlicher
Entwicklung auch der Analyse höherer Bewußtseinsvorgänge, den Denk- und


Richtungen der Psychologie

Sicherer und wertvoller, wenn auch durch eine kleinere Zahl gelungener
Experimente gestützt, erwiesen sich die sogenannten Aussageversuche, bei denen
der Versuchsleiter eine wirkliche Situation des Lebens nach einem vorbedachten
Plan herbeiführt und die Teilnehmer danach als Zeugen protokollarisch ver¬
nimmt. Schon das erste im Liszt'schen kriminalistischen Seminar ausgeführte
Experiment brachte bekanntlich den Nachweis, wie sehr die Aussagen auch best¬
williger Zeugen durch Wahrnehmungstäuschuugen und Suggestionen gefälscht
werden können. Eine große Zweigwissenschaft der experimentellen Psychologie,
die Psychologie der Aussage, wurde unter Zuhilfenahme bildlich dargestellter
Vorgänge hierauf aufgebaut.

Ein exaktes Untersuchungsverfahren hat die experimentelle Psychologie
weiter für die sogenannten Begleiterscheinungen der Gefühle im Anschluß an
die Physiologie ausgebildet. Jene heute aufs feinste meßbaren Veränderungen
der Atmung, des Pulses, der Blutverteilung und der galvanischen Leitung im
Körper, die die Gefühlszustände in mehr oder weniger charakteristischer Weise
begleiten, können naturgemäß nur als äußere Signale der seelischen Vorgänge
dienen, vermögen dagegen nicht die subjektive Betrachtung und Analyse des
inneren Erlebens zu ersetzen.

Eine große Ausdehnung und Bedeutung haben die Jntelligenzprüfungen,
besonders durch ihre Beziehung zum Schul- und Hilfsschulwesen, zum Jugend¬
gericht, Fürsorgewesen, Militärdienst und zur Psychiatrie erlangt. Zahlreiche, teils
wertvolle Methoden sind aufgestellt worden, um die Altersstufen normaler Jn-
telligenzentwicklung und den Grad ihrer Abweichung festzustellen. Da eine
einheitliche Definition des Begriffes Intelligenz nicht existiert, Intelligenz sich
vielmehr in individuell wechselnder Weise aus den verschiedensten Befähigungen
und Kenntnissen zusammensetzen kann — man denke an mathematische,
literarische, sprachliche, künstlerische Begabung — so wird die Bewertung einer
Jntelligenzvrüfung doch stets eines erfahrenen Beurteilers bedürfen, und ein
allgemeiner, objektiver Kanon nur in beschränktem Sinne aufstellbar sein. Will
man diese Prüfungen den psychologischen Experimenten zurechnen, so können sie
es nur in dem Sinne sein, in dem auch jedes Diktat, jedes Extemporale ein
Experiment des Lehrers ist, und nur die systematische Ausführung und Bearbeitung
der Resultate verleiht ihnen den wissenschaftlichen Charakter. Die Berechtigung,
als ein psychologisches Experiment zu gelten, muß dagegen ganz abgesprochen werden
dem in Amerika besonders beliebten Verfahren, durch ausgesandte Fragebogen
über alle möglichen inneren Erlebnisse, über Frömmigkeit, Bekehrungen, Lügen¬
haftigkeit, Ahnungen, Beobachtungsmaterial zu erhalten. Diese unkontrollierbaren
schriftlichen Mitteilungen verdienen höchstens die Bezeichnung einer statistischen
Sammlung; ihre Fehlerquellen sind unberechenbar, und größer als die jeder
wissenschaftlichen Selbstbeobachtung.

Im letzten Jahrzehnt hat sich die experimentelle Psychologie in natürlicher
Entwicklung auch der Analyse höherer Bewußtseinsvorgänge, den Denk- und


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[0265] Richtungen der Psychologie Sicherer und wertvoller, wenn auch durch eine kleinere Zahl gelungener Experimente gestützt, erwiesen sich die sogenannten Aussageversuche, bei denen der Versuchsleiter eine wirkliche Situation des Lebens nach einem vorbedachten Plan herbeiführt und die Teilnehmer danach als Zeugen protokollarisch ver¬ nimmt. Schon das erste im Liszt'schen kriminalistischen Seminar ausgeführte Experiment brachte bekanntlich den Nachweis, wie sehr die Aussagen auch best¬ williger Zeugen durch Wahrnehmungstäuschuugen und Suggestionen gefälscht werden können. Eine große Zweigwissenschaft der experimentellen Psychologie, die Psychologie der Aussage, wurde unter Zuhilfenahme bildlich dargestellter Vorgänge hierauf aufgebaut. Ein exaktes Untersuchungsverfahren hat die experimentelle Psychologie weiter für die sogenannten Begleiterscheinungen der Gefühle im Anschluß an die Physiologie ausgebildet. Jene heute aufs feinste meßbaren Veränderungen der Atmung, des Pulses, der Blutverteilung und der galvanischen Leitung im Körper, die die Gefühlszustände in mehr oder weniger charakteristischer Weise begleiten, können naturgemäß nur als äußere Signale der seelischen Vorgänge dienen, vermögen dagegen nicht die subjektive Betrachtung und Analyse des inneren Erlebens zu ersetzen. Eine große Ausdehnung und Bedeutung haben die Jntelligenzprüfungen, besonders durch ihre Beziehung zum Schul- und Hilfsschulwesen, zum Jugend¬ gericht, Fürsorgewesen, Militärdienst und zur Psychiatrie erlangt. Zahlreiche, teils wertvolle Methoden sind aufgestellt worden, um die Altersstufen normaler Jn- telligenzentwicklung und den Grad ihrer Abweichung festzustellen. Da eine einheitliche Definition des Begriffes Intelligenz nicht existiert, Intelligenz sich vielmehr in individuell wechselnder Weise aus den verschiedensten Befähigungen und Kenntnissen zusammensetzen kann — man denke an mathematische, literarische, sprachliche, künstlerische Begabung — so wird die Bewertung einer Jntelligenzvrüfung doch stets eines erfahrenen Beurteilers bedürfen, und ein allgemeiner, objektiver Kanon nur in beschränktem Sinne aufstellbar sein. Will man diese Prüfungen den psychologischen Experimenten zurechnen, so können sie es nur in dem Sinne sein, in dem auch jedes Diktat, jedes Extemporale ein Experiment des Lehrers ist, und nur die systematische Ausführung und Bearbeitung der Resultate verleiht ihnen den wissenschaftlichen Charakter. Die Berechtigung, als ein psychologisches Experiment zu gelten, muß dagegen ganz abgesprochen werden dem in Amerika besonders beliebten Verfahren, durch ausgesandte Fragebogen über alle möglichen inneren Erlebnisse, über Frömmigkeit, Bekehrungen, Lügen¬ haftigkeit, Ahnungen, Beobachtungsmaterial zu erhalten. Diese unkontrollierbaren schriftlichen Mitteilungen verdienen höchstens die Bezeichnung einer statistischen Sammlung; ihre Fehlerquellen sind unberechenbar, und größer als die jeder wissenschaftlichen Selbstbeobachtung. Im letzten Jahrzehnt hat sich die experimentelle Psychologie in natürlicher Entwicklung auch der Analyse höherer Bewußtseinsvorgänge, den Denk- und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/265>, abgerufen am 15.01.2025.