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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Richtungen der Psychologie

Stand von Sonne und Mond oder die Fallgeschwindigkeit eines Körpers für
irgendeinen Zeitpunkt vorauszusagen vermögen. Wenn wir aber auch auf
dieses höchste Ziel mathematischen Erfassens des Seelenlebens verzichten, und
uns mit der Feststellung allgemein geltender Regeln begnügen, bleiben für ein expe-
rimentelles Forschen in der Psychologie große Erschwerungen und Einschränkungen
gegenüber den Naturwissenschaften bestehen: um die Gesetze des Falles zu
erproben, kann ich mich ein und desselben Objektes beliebig oft unter verschiedenen
Versuchsbedingungen bedienen, oder mir, etwa bei chemischen Experimenten, be¬
liebig viel gleiche Mengen desselben Salzes bereit halten. Der Mensch jedoch,
in dem jedes seelische Erlebnis eine Gedächtnisspur zurückläßt, steht der Wieder¬
holung eines Versuches, sei es auch nur ein Rechemxempel, als ein bereits
verändertes Versuchsobjekt gegenüber, und ebenso ist es unmöglich, auch nur
zwei körperlich und geistig annähernd gleiche Versuchspersonen zu beschaffen.
Schließlich -- und auch dieses Hemmnis führt Kant in seiner Anthropologie
an -- muß das Wissen der Versuchsperson, daß es sich um ein Experiment
handelt, die natürliche seelische Reaktion vielfach stark beeinflussen und vermag
eine völlige Entstellung des Resultats zu bewirken; am meisten tritt diese
Schwierigkeit bei Versuchen, etwa den Zustand der Freude, Angst, Liebe, Zweifel,
Entschlossenheit, oder Eigenschaften wie Mut, Lügenhaftigkeit, Faulheit usw.
einem Experiment zugänglich zu machen, zutage.

Daß sich die experimentelle Psychologie nicht abschrecken ließ, trotz dieser
Hindernisse -- soweit sie sie zugab -- den Aufbau einer Wissenschaft zu versuchen,
muß vor allem anerkannt werden. Freilich ergab sich dabei die Notwendigkeit,
kompliziertere und höhere Seelenvorgänge zunächst ganz außer Betracht zu lassen,
und sich vielmehr auf die Untersuchung einfachster seelischer Vorgänge zu beschränken,
oder aber, mit künstlich vereinfachten geistigen Prozessen zu experimentieren.

So wurden die Reaktionszeiten und ihre Typen für die verschiedenen Sinnes¬
eindrücke genauestens erforscht, der Bewußtseinsumfang für tachistoskopisch vor¬
geführte Wortbilder festgestellt, und damit auch die Vorgänge des Lesens analysiert,
die Vorzüge der verschiedenen Buchstabentypen und satzweisen in exakter Weise
aufgeklärt. Die bekannten Lernversuche, mit künstlich gebildeten sinnlosen Silben an¬
gestellt, gaben Aufklärung über die Bedingungen, die Art und die Einflüsse der Merk-
fähigkeits- und Gedächtnisleistungen. Durch die dem wirklichen Leben fremden, in
der Psychiatrie aber schon erfolgreich verwendeten Wortzurufexperimente, die jahre¬
lang den psychologischen Laboratorien Arbeitsstoff gaben, suchte man die Gesetze der
Vorstellungsverknüpfung (Assoziaüon) festzustellen, und glaubte damit auch un¬
bewußte, ja selbst absichtlich verborgene Gedanken- und Gefühlsvorgänge offen
zutage legen zu können (Komplexforschung, experimentelle Überführung von
Verbrechern). Ob freilich die Resultate dieser und ähnlicher Versuche nicht
lediglich als "Laboratoriumsprodukte" anzusehen sind, oder ob ihnen wriklich
allgemeinere Geltung und Anwendbarkeit zukommt, ist eine bis heute noch nicht
ganz entschiedene Frage.


Richtungen der Psychologie

Stand von Sonne und Mond oder die Fallgeschwindigkeit eines Körpers für
irgendeinen Zeitpunkt vorauszusagen vermögen. Wenn wir aber auch auf
dieses höchste Ziel mathematischen Erfassens des Seelenlebens verzichten, und
uns mit der Feststellung allgemein geltender Regeln begnügen, bleiben für ein expe-
rimentelles Forschen in der Psychologie große Erschwerungen und Einschränkungen
gegenüber den Naturwissenschaften bestehen: um die Gesetze des Falles zu
erproben, kann ich mich ein und desselben Objektes beliebig oft unter verschiedenen
Versuchsbedingungen bedienen, oder mir, etwa bei chemischen Experimenten, be¬
liebig viel gleiche Mengen desselben Salzes bereit halten. Der Mensch jedoch,
in dem jedes seelische Erlebnis eine Gedächtnisspur zurückläßt, steht der Wieder¬
holung eines Versuches, sei es auch nur ein Rechemxempel, als ein bereits
verändertes Versuchsobjekt gegenüber, und ebenso ist es unmöglich, auch nur
zwei körperlich und geistig annähernd gleiche Versuchspersonen zu beschaffen.
Schließlich — und auch dieses Hemmnis führt Kant in seiner Anthropologie
an — muß das Wissen der Versuchsperson, daß es sich um ein Experiment
handelt, die natürliche seelische Reaktion vielfach stark beeinflussen und vermag
eine völlige Entstellung des Resultats zu bewirken; am meisten tritt diese
Schwierigkeit bei Versuchen, etwa den Zustand der Freude, Angst, Liebe, Zweifel,
Entschlossenheit, oder Eigenschaften wie Mut, Lügenhaftigkeit, Faulheit usw.
einem Experiment zugänglich zu machen, zutage.

Daß sich die experimentelle Psychologie nicht abschrecken ließ, trotz dieser
Hindernisse — soweit sie sie zugab — den Aufbau einer Wissenschaft zu versuchen,
muß vor allem anerkannt werden. Freilich ergab sich dabei die Notwendigkeit,
kompliziertere und höhere Seelenvorgänge zunächst ganz außer Betracht zu lassen,
und sich vielmehr auf die Untersuchung einfachster seelischer Vorgänge zu beschränken,
oder aber, mit künstlich vereinfachten geistigen Prozessen zu experimentieren.

So wurden die Reaktionszeiten und ihre Typen für die verschiedenen Sinnes¬
eindrücke genauestens erforscht, der Bewußtseinsumfang für tachistoskopisch vor¬
geführte Wortbilder festgestellt, und damit auch die Vorgänge des Lesens analysiert,
die Vorzüge der verschiedenen Buchstabentypen und satzweisen in exakter Weise
aufgeklärt. Die bekannten Lernversuche, mit künstlich gebildeten sinnlosen Silben an¬
gestellt, gaben Aufklärung über die Bedingungen, die Art und die Einflüsse der Merk-
fähigkeits- und Gedächtnisleistungen. Durch die dem wirklichen Leben fremden, in
der Psychiatrie aber schon erfolgreich verwendeten Wortzurufexperimente, die jahre¬
lang den psychologischen Laboratorien Arbeitsstoff gaben, suchte man die Gesetze der
Vorstellungsverknüpfung (Assoziaüon) festzustellen, und glaubte damit auch un¬
bewußte, ja selbst absichtlich verborgene Gedanken- und Gefühlsvorgänge offen
zutage legen zu können (Komplexforschung, experimentelle Überführung von
Verbrechern). Ob freilich die Resultate dieser und ähnlicher Versuche nicht
lediglich als „Laboratoriumsprodukte" anzusehen sind, oder ob ihnen wriklich
allgemeinere Geltung und Anwendbarkeit zukommt, ist eine bis heute noch nicht
ganz entschiedene Frage.


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[0264] Richtungen der Psychologie Stand von Sonne und Mond oder die Fallgeschwindigkeit eines Körpers für irgendeinen Zeitpunkt vorauszusagen vermögen. Wenn wir aber auch auf dieses höchste Ziel mathematischen Erfassens des Seelenlebens verzichten, und uns mit der Feststellung allgemein geltender Regeln begnügen, bleiben für ein expe- rimentelles Forschen in der Psychologie große Erschwerungen und Einschränkungen gegenüber den Naturwissenschaften bestehen: um die Gesetze des Falles zu erproben, kann ich mich ein und desselben Objektes beliebig oft unter verschiedenen Versuchsbedingungen bedienen, oder mir, etwa bei chemischen Experimenten, be¬ liebig viel gleiche Mengen desselben Salzes bereit halten. Der Mensch jedoch, in dem jedes seelische Erlebnis eine Gedächtnisspur zurückläßt, steht der Wieder¬ holung eines Versuches, sei es auch nur ein Rechemxempel, als ein bereits verändertes Versuchsobjekt gegenüber, und ebenso ist es unmöglich, auch nur zwei körperlich und geistig annähernd gleiche Versuchspersonen zu beschaffen. Schließlich — und auch dieses Hemmnis führt Kant in seiner Anthropologie an — muß das Wissen der Versuchsperson, daß es sich um ein Experiment handelt, die natürliche seelische Reaktion vielfach stark beeinflussen und vermag eine völlige Entstellung des Resultats zu bewirken; am meisten tritt diese Schwierigkeit bei Versuchen, etwa den Zustand der Freude, Angst, Liebe, Zweifel, Entschlossenheit, oder Eigenschaften wie Mut, Lügenhaftigkeit, Faulheit usw. einem Experiment zugänglich zu machen, zutage. Daß sich die experimentelle Psychologie nicht abschrecken ließ, trotz dieser Hindernisse — soweit sie sie zugab — den Aufbau einer Wissenschaft zu versuchen, muß vor allem anerkannt werden. Freilich ergab sich dabei die Notwendigkeit, kompliziertere und höhere Seelenvorgänge zunächst ganz außer Betracht zu lassen, und sich vielmehr auf die Untersuchung einfachster seelischer Vorgänge zu beschränken, oder aber, mit künstlich vereinfachten geistigen Prozessen zu experimentieren. So wurden die Reaktionszeiten und ihre Typen für die verschiedenen Sinnes¬ eindrücke genauestens erforscht, der Bewußtseinsumfang für tachistoskopisch vor¬ geführte Wortbilder festgestellt, und damit auch die Vorgänge des Lesens analysiert, die Vorzüge der verschiedenen Buchstabentypen und satzweisen in exakter Weise aufgeklärt. Die bekannten Lernversuche, mit künstlich gebildeten sinnlosen Silben an¬ gestellt, gaben Aufklärung über die Bedingungen, die Art und die Einflüsse der Merk- fähigkeits- und Gedächtnisleistungen. Durch die dem wirklichen Leben fremden, in der Psychiatrie aber schon erfolgreich verwendeten Wortzurufexperimente, die jahre¬ lang den psychologischen Laboratorien Arbeitsstoff gaben, suchte man die Gesetze der Vorstellungsverknüpfung (Assoziaüon) festzustellen, und glaubte damit auch un¬ bewußte, ja selbst absichtlich verborgene Gedanken- und Gefühlsvorgänge offen zutage legen zu können (Komplexforschung, experimentelle Überführung von Verbrechern). Ob freilich die Resultate dieser und ähnlicher Versuche nicht lediglich als „Laboratoriumsprodukte" anzusehen sind, oder ob ihnen wriklich allgemeinere Geltung und Anwendbarkeit zukommt, ist eine bis heute noch nicht ganz entschiedene Frage.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/264>, abgerufen am 15.01.2025.