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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

auf Willkür und Egoismus aufgebaut ist, gegen eine Kultur, die auf Vernunft, auf
Überlegung, auf Willen und Altruismus aufgebaut ist. Eine heidnische Kultur --
um das letzte Wort zu sagen -- gegen eine christliche. Man lasse sich nicht
narren von der scheinbaren Religiosität der Deutschen I Mit ihr ist es beschaffen,
wie mit der des Weibes -- es ist Religion aus Egoismus .... Nach dem
Karneval und dem Festtrubel wünscht man Zutritt zur ewigen Seligkeit!

Dies ist Jörgensens Erklärung und wer kann sich noch darüber
wundern, daß die Deutschen nicht nur die schändlichsten Verbrechen begangen
haben, sondern infolge ihrer Natur begehen mußten. Nur schade, daß Jörgensen
dies nicht beizeiten gesehen hat, dann hätte er uns warnen können. -- Die
Erklärung ist weder vernünftiger noch törichter -- oder doch vielleicht etwas
törichter -- als die Mehrzahl der Erklärungen, die denselben Zweck verfolgen.
Aber die Sache ist vie, daß die Aufgabe einfach unmöglich ist. Es ist un"
möglich, irgendwelche vernünftige Erklärung für die behauptete Tatsache zu geben,
daß das deutsche Volk sich plötzlich als eine gegenüber uns andern wesens¬
fremde und moralisch tieferstehende Menschenart entschleiert habe".

In ausnehmend ruhiger und verständiger Weise sucht Gad selbst dagegen
in einem anderen Umstände eine Erklärung für so manches Schreckliche in diesem
Kriege, die auch für den belgischen Volkskrieg notwendig angenommen werden
muß: warum sollen die belgischen Vorfälle durchaus ein Zeichen besonderer
moralischer Verderbtheit einzelner Nationen sein und nicht lieber ein Glied in
der Kette von Folgen dieser "Kulturform Krieg"? Im Kriege, in dem alle
Grundmauern der Vorstellungen von Gut und Böse wanken müssen, wird das
Bewußtsein wider Willen gezwungen, einen anderen Maßstab anzulegen. Ent¬
setzliches wird hier Alltäglichkeit, Schrecken zum Handwerk. Von Soldaten wird
eben ein doppelter Moralbegriff gefordert: Auf der einen Seite soll er seinem
Vaterlande dienen, muß er "rasen", auf der anderen ist er ein Schurke, wenn
er als Privatmann seine Leidenschaften nicht zügelt. "Kann man sich dann
darüber wundern, wenn manchem Soldaten dies Auseinanderhalten nicht glückt?"
Sind denn in früheren Kriegen keine Grausamkeiten begangen worden, fragt
Gad mit Recht, und er unterläßt dabei nicht, des Vorgehens der Engländer in
Badajos und im Burenkriege zu gedenken. Doch glaubt er zugeben zu müssen,
daß in dem gegenwärtigen Kriege noch Schrecklicheres vorgekommen sein mag
als früher. Er findet hierfür die zwei Erklärungen:

"Erstens, die Leidenschaften und der Haß waren so stark erregt, daß der
Krieg sozusagen überall als ein Volkskrieg geführt wurde. Als die Deutschen
1864 Jütland besetzten, führten sie sich anständig auf, weil die Bevölkerung sich
ruhig verhielt. Wenn ein Heer nur gegen Soldaten kämpft, braucht es gar
keine feindseligen Gefühle gegen die Zivilbeoölkerung zu hegen und tut es auch
in der Regel nicht. Aber wenn die Zivilpersonen handelnd am Kriege teil¬
nehmen, so ist es allerdings sehr zu beklagen, aber doch keineswegs unverständlich,
wenn bei den eindringenden Soldaten Mißtrauen und Feindschaft geweckt werden^


Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

auf Willkür und Egoismus aufgebaut ist, gegen eine Kultur, die auf Vernunft, auf
Überlegung, auf Willen und Altruismus aufgebaut ist. Eine heidnische Kultur —
um das letzte Wort zu sagen — gegen eine christliche. Man lasse sich nicht
narren von der scheinbaren Religiosität der Deutschen I Mit ihr ist es beschaffen,
wie mit der des Weibes — es ist Religion aus Egoismus .... Nach dem
Karneval und dem Festtrubel wünscht man Zutritt zur ewigen Seligkeit!

Dies ist Jörgensens Erklärung und wer kann sich noch darüber
wundern, daß die Deutschen nicht nur die schändlichsten Verbrechen begangen
haben, sondern infolge ihrer Natur begehen mußten. Nur schade, daß Jörgensen
dies nicht beizeiten gesehen hat, dann hätte er uns warnen können. — Die
Erklärung ist weder vernünftiger noch törichter — oder doch vielleicht etwas
törichter — als die Mehrzahl der Erklärungen, die denselben Zweck verfolgen.
Aber die Sache ist vie, daß die Aufgabe einfach unmöglich ist. Es ist un»
möglich, irgendwelche vernünftige Erklärung für die behauptete Tatsache zu geben,
daß das deutsche Volk sich plötzlich als eine gegenüber uns andern wesens¬
fremde und moralisch tieferstehende Menschenart entschleiert habe".

In ausnehmend ruhiger und verständiger Weise sucht Gad selbst dagegen
in einem anderen Umstände eine Erklärung für so manches Schreckliche in diesem
Kriege, die auch für den belgischen Volkskrieg notwendig angenommen werden
muß: warum sollen die belgischen Vorfälle durchaus ein Zeichen besonderer
moralischer Verderbtheit einzelner Nationen sein und nicht lieber ein Glied in
der Kette von Folgen dieser „Kulturform Krieg"? Im Kriege, in dem alle
Grundmauern der Vorstellungen von Gut und Böse wanken müssen, wird das
Bewußtsein wider Willen gezwungen, einen anderen Maßstab anzulegen. Ent¬
setzliches wird hier Alltäglichkeit, Schrecken zum Handwerk. Von Soldaten wird
eben ein doppelter Moralbegriff gefordert: Auf der einen Seite soll er seinem
Vaterlande dienen, muß er „rasen", auf der anderen ist er ein Schurke, wenn
er als Privatmann seine Leidenschaften nicht zügelt. „Kann man sich dann
darüber wundern, wenn manchem Soldaten dies Auseinanderhalten nicht glückt?"
Sind denn in früheren Kriegen keine Grausamkeiten begangen worden, fragt
Gad mit Recht, und er unterläßt dabei nicht, des Vorgehens der Engländer in
Badajos und im Burenkriege zu gedenken. Doch glaubt er zugeben zu müssen,
daß in dem gegenwärtigen Kriege noch Schrecklicheres vorgekommen sein mag
als früher. Er findet hierfür die zwei Erklärungen:

„Erstens, die Leidenschaften und der Haß waren so stark erregt, daß der
Krieg sozusagen überall als ein Volkskrieg geführt wurde. Als die Deutschen
1864 Jütland besetzten, führten sie sich anständig auf, weil die Bevölkerung sich
ruhig verhielt. Wenn ein Heer nur gegen Soldaten kämpft, braucht es gar
keine feindseligen Gefühle gegen die Zivilbeoölkerung zu hegen und tut es auch
in der Regel nicht. Aber wenn die Zivilpersonen handelnd am Kriege teil¬
nehmen, so ist es allerdings sehr zu beklagen, aber doch keineswegs unverständlich,
wenn bei den eindringenden Soldaten Mißtrauen und Feindschaft geweckt werden^


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[0256] Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen auf Willkür und Egoismus aufgebaut ist, gegen eine Kultur, die auf Vernunft, auf Überlegung, auf Willen und Altruismus aufgebaut ist. Eine heidnische Kultur — um das letzte Wort zu sagen — gegen eine christliche. Man lasse sich nicht narren von der scheinbaren Religiosität der Deutschen I Mit ihr ist es beschaffen, wie mit der des Weibes — es ist Religion aus Egoismus .... Nach dem Karneval und dem Festtrubel wünscht man Zutritt zur ewigen Seligkeit! Dies ist Jörgensens Erklärung und wer kann sich noch darüber wundern, daß die Deutschen nicht nur die schändlichsten Verbrechen begangen haben, sondern infolge ihrer Natur begehen mußten. Nur schade, daß Jörgensen dies nicht beizeiten gesehen hat, dann hätte er uns warnen können. — Die Erklärung ist weder vernünftiger noch törichter — oder doch vielleicht etwas törichter — als die Mehrzahl der Erklärungen, die denselben Zweck verfolgen. Aber die Sache ist vie, daß die Aufgabe einfach unmöglich ist. Es ist un» möglich, irgendwelche vernünftige Erklärung für die behauptete Tatsache zu geben, daß das deutsche Volk sich plötzlich als eine gegenüber uns andern wesens¬ fremde und moralisch tieferstehende Menschenart entschleiert habe". In ausnehmend ruhiger und verständiger Weise sucht Gad selbst dagegen in einem anderen Umstände eine Erklärung für so manches Schreckliche in diesem Kriege, die auch für den belgischen Volkskrieg notwendig angenommen werden muß: warum sollen die belgischen Vorfälle durchaus ein Zeichen besonderer moralischer Verderbtheit einzelner Nationen sein und nicht lieber ein Glied in der Kette von Folgen dieser „Kulturform Krieg"? Im Kriege, in dem alle Grundmauern der Vorstellungen von Gut und Böse wanken müssen, wird das Bewußtsein wider Willen gezwungen, einen anderen Maßstab anzulegen. Ent¬ setzliches wird hier Alltäglichkeit, Schrecken zum Handwerk. Von Soldaten wird eben ein doppelter Moralbegriff gefordert: Auf der einen Seite soll er seinem Vaterlande dienen, muß er „rasen", auf der anderen ist er ein Schurke, wenn er als Privatmann seine Leidenschaften nicht zügelt. „Kann man sich dann darüber wundern, wenn manchem Soldaten dies Auseinanderhalten nicht glückt?" Sind denn in früheren Kriegen keine Grausamkeiten begangen worden, fragt Gad mit Recht, und er unterläßt dabei nicht, des Vorgehens der Engländer in Badajos und im Burenkriege zu gedenken. Doch glaubt er zugeben zu müssen, daß in dem gegenwärtigen Kriege noch Schrecklicheres vorgekommen sein mag als früher. Er findet hierfür die zwei Erklärungen: „Erstens, die Leidenschaften und der Haß waren so stark erregt, daß der Krieg sozusagen überall als ein Volkskrieg geführt wurde. Als die Deutschen 1864 Jütland besetzten, führten sie sich anständig auf, weil die Bevölkerung sich ruhig verhielt. Wenn ein Heer nur gegen Soldaten kämpft, braucht es gar keine feindseligen Gefühle gegen die Zivilbeoölkerung zu hegen und tut es auch in der Regel nicht. Aber wenn die Zivilpersonen handelnd am Kriege teil¬ nehmen, so ist es allerdings sehr zu beklagen, aber doch keineswegs unverständlich, wenn bei den eindringenden Soldaten Mißtrauen und Feindschaft geweckt werden^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/256>, abgerufen am 15.01.2025.