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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

von dort aufs Land gereist sei, um nach den belgischen Kindern, von denen
ich sprach, zu sehen; ich habe aber nun herausgefunden, daß das ganze nur
Altweibergeschwätz gewesen ist, und bin nun behutsamer geworden, an derartige
Geschichten zu glauben. -- Ja, wenn die Leute doch etwas vorsichtiger in dieser
Richtung wären, dann kämen nicht so viele Ungerechtigkeiten vor."

Gad spinnt diese Betrachtungen in interessanter Weise noch weiter aus,
indem er der Theorie von der "Expansionskrast der Erinnerung" (August Groll)
eben auch für den Fall Belgien eine gewisse Geltung einräumt, und stellt die
wohl nicht unberechtigte Frage: warum sollen die Belgier besser sein als andere
Menschen?

Dem Glöckner Jörgensen aber hält er noch vor: "Übrigens gibt es noch
eine Stufe, und auf der steht Johannes Jörgensen offenbar: der Journalist
oder Kriegsbuchversasser wendet die Geschichten im Dienste der Indignation an.
Er verallgemeinert und zieht eine Lehre aus dem Geschehenen. Es wird
ein Prinzip bei den Deutschen oder eine Eigentümlichkeit ihres Wesens,
Dörfer niederzubrennen, Frauen die Augen auszustechen und kleine Kinder zu
ermorden. Die Deutschen sind ein Volk von Barbaren, der Abschaum der
Erde. Die .Glocke Roland' läutet unaufhörlich und unerbittlich: Du sollst
hassen, Du sollst hassen!"

In dem gewiß lobenswerten Bedürfnis, eben nach beiden Seiten Gerechtig¬
keit walten zu lassen, glaubt Gad auch auf deutscher Seite manche Fälle von
Härten annehmen zu sollen; es ist eben Krieg, der unmenschlich genug ist, die
Erbitterung auf beiden Seiten ist nur zu verständlich, und entsetzt wendet sich
der Kulturmensch von den Bildern des Jammers ab. Ohne mit dem Verfasser
rechten zu wollen, auf welcher Seite diese Erbitterung ihren schrecklicheren Aus¬
druck fand, auf welcher Seite sie menschlich verständlicher war, man wird ihm
zugestehen müssen, daß er sich in seiner kritischen Würdigung eine Zurückhaltung
und vor allem ein wahrhaft menschliches Begreifenwollen zu eigen gemacht hat,
das wir in neutralen Ländern nur zu oft mit Bedauern vermissen mußten.

Einen lehrreichen Beitrag dafür, daß eben zu vielen seiner Zeitgenossen
und Mitneutralen diese Fähigkeit oder wenigstens dieser Wille zur Ehrlichkeit
gänzlich abgeht, liefert Gad selbst in seiner weiteren Polemik gegen Jörgensens
"Glocke Roland".

"Jörgensen begnügt sich für alles mit der einen Erklärung, die er darin
findet, daß dies ein Krieg zwischen Heidentum und Christentum sei. Es soll
die germanische Revolte, der Barbarenaufruhr sein, -- das, was vor vier
Jahrhunderten die Reformation war, vor anderthalb Jahrhunderten literarischer
Sturm und Drang, und was nun zu Eisen und Blut geworden ist und die
Gestalt von 420-Millimeter-Mörsern angenommen hat! Gegen die deutsche
Kultur steht die lateinische. Und der Mittelpunkt für die lateinische Kultur ist
(jetzt wie immer) Rom. Germania gegen Rom -- dies ist auf eine Formel gebracht
das innerste Wesen des Weltkrieges. Eine Kultur, die auf Gefühl, auf Leidenschaft.


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Der belgische Volkskrieg im Urteil der Neutralen

von dort aufs Land gereist sei, um nach den belgischen Kindern, von denen
ich sprach, zu sehen; ich habe aber nun herausgefunden, daß das ganze nur
Altweibergeschwätz gewesen ist, und bin nun behutsamer geworden, an derartige
Geschichten zu glauben. — Ja, wenn die Leute doch etwas vorsichtiger in dieser
Richtung wären, dann kämen nicht so viele Ungerechtigkeiten vor."

Gad spinnt diese Betrachtungen in interessanter Weise noch weiter aus,
indem er der Theorie von der „Expansionskrast der Erinnerung" (August Groll)
eben auch für den Fall Belgien eine gewisse Geltung einräumt, und stellt die
wohl nicht unberechtigte Frage: warum sollen die Belgier besser sein als andere
Menschen?

Dem Glöckner Jörgensen aber hält er noch vor: „Übrigens gibt es noch
eine Stufe, und auf der steht Johannes Jörgensen offenbar: der Journalist
oder Kriegsbuchversasser wendet die Geschichten im Dienste der Indignation an.
Er verallgemeinert und zieht eine Lehre aus dem Geschehenen. Es wird
ein Prinzip bei den Deutschen oder eine Eigentümlichkeit ihres Wesens,
Dörfer niederzubrennen, Frauen die Augen auszustechen und kleine Kinder zu
ermorden. Die Deutschen sind ein Volk von Barbaren, der Abschaum der
Erde. Die .Glocke Roland' läutet unaufhörlich und unerbittlich: Du sollst
hassen, Du sollst hassen!"

In dem gewiß lobenswerten Bedürfnis, eben nach beiden Seiten Gerechtig¬
keit walten zu lassen, glaubt Gad auch auf deutscher Seite manche Fälle von
Härten annehmen zu sollen; es ist eben Krieg, der unmenschlich genug ist, die
Erbitterung auf beiden Seiten ist nur zu verständlich, und entsetzt wendet sich
der Kulturmensch von den Bildern des Jammers ab. Ohne mit dem Verfasser
rechten zu wollen, auf welcher Seite diese Erbitterung ihren schrecklicheren Aus¬
druck fand, auf welcher Seite sie menschlich verständlicher war, man wird ihm
zugestehen müssen, daß er sich in seiner kritischen Würdigung eine Zurückhaltung
und vor allem ein wahrhaft menschliches Begreifenwollen zu eigen gemacht hat,
das wir in neutralen Ländern nur zu oft mit Bedauern vermissen mußten.

Einen lehrreichen Beitrag dafür, daß eben zu vielen seiner Zeitgenossen
und Mitneutralen diese Fähigkeit oder wenigstens dieser Wille zur Ehrlichkeit
gänzlich abgeht, liefert Gad selbst in seiner weiteren Polemik gegen Jörgensens
„Glocke Roland".

„Jörgensen begnügt sich für alles mit der einen Erklärung, die er darin
findet, daß dies ein Krieg zwischen Heidentum und Christentum sei. Es soll
die germanische Revolte, der Barbarenaufruhr sein, — das, was vor vier
Jahrhunderten die Reformation war, vor anderthalb Jahrhunderten literarischer
Sturm und Drang, und was nun zu Eisen und Blut geworden ist und die
Gestalt von 420-Millimeter-Mörsern angenommen hat! Gegen die deutsche
Kultur steht die lateinische. Und der Mittelpunkt für die lateinische Kultur ist
(jetzt wie immer) Rom. Germania gegen Rom — dies ist auf eine Formel gebracht
das innerste Wesen des Weltkrieges. Eine Kultur, die auf Gefühl, auf Leidenschaft.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/255>, abgerufen am 15.01.2025.