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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Revolutionäre Strömungen in Rußland

näher eingehen will. Auf einer Seite ertönt der Schlachtruf: "die Revolution
um des Sieges willen", wobei eine vorausschauende Phantasie alle Phasen der
Revolution, des russischen Staatsbankrotts, der bewußt herbeigeführt werden
wird, und eines zweiten Kampfes gegen das reaktionäre Deutschland, jetzt schon
ausmalt, -- aus der anderen Seite hören wir: "die Revolution um der Revo¬
lution willen". Doch das sind vielfach Philosophien der emigrierten Intelligenz.
Die Flugblätter der Arbeiterschaft selbst sind derber und volkstümlicher. Sie
sind mit echt revolutionärem Geiste erfüllt. Da heißt es:


"Aber werden wir, russische Arbeiter, wirklich so dumm sein, um auf
ihre (der russischen Regierung) lügenhafte Behauptungen hereinzufallen
(daß der Feind des russischen Volkes die Deutschen sind?). Werden wir
unsere eigene Sache um ihrer Sache willen vergessen? Nein, wenn wir
schon sterben müssen, dann wollen wir für die Sache des Volkes sterben
und nicht für die der Romanows und der Adligen vom Schwarzen Hundert".

Die Flugblätter wenden sich an die russischen Soldaten:


"Wenn die Revolution auflodert, so erinnert Euch, Ihr Brüder
Soldaten daran, daß Euer Platz nicht gegen uns, sondern mit uns ist".

In den späteren heißt es ausdrücklich:


"Nicht fern mehr ist der Moment der nahenden russischen Revolution . . .
Weg mit der Selbstherrschaft. Es lebe die zweite russische Revolution!" --

Wir sehen also, Symptome für die revolutionäre Stimmung der russischen
Arbeiterschaft sind reichlich vorhanden.

Andererseits wird die Stimmung der Arbeiterschaft solange keine ausschlag¬
gebende Rolle spielen können, als die Bourgeoisie immer noch auf den Schlacht¬
ruf "alles für den Krieg" eingeschworen ist, als die Armee bei der Stange
bleibt, was sie nach allen Berichten noch tut, und als das Dorf sich nicht
offen zur Revolution bekennt. Wie die Stimmung dort ist, wissen wir nicht.
Nach den Berichten der sozialistischen russischen Blätter, die nicht ohne weiteres
Autorität für sich beanspruchen können, ist sie schlecht. Die Revolutionäre suchen
für ihre Ideen durch die Losung: "Konfiskation der Ländereien der Gutsbesitzer
zu Gunsten der Bauern" Stimmung zu machen, wie sie behaupten, mit Erfolg.

Eines steht jedenfalls fest. Ruhig ists in Rußland keineswegs. Es brodelt
in den Tiefen, und es liegen dort Symptome einer späteren Zersetzung vor,
die auch bei uns volle Beachtung verdienen. Wir dürfen, wenn der Stand
der Dinge so bleibt, wie er ist, mit einer baldigen Revolution in Rußland
nicht rechnen, werden aber gut tun, den Gang der Dinge weiter mit der Auf¬
merksamkeit zu verfolgen, die er verdient. Eine einschneidende Veränderung
der Kriegslage, die Fortsetzung der strammen und gewaltsamen reaktionären
Regierungspolilik, eine Schwenkung der bürgerlichen Parteien, können der inneren
russischen Lage diejenigen Wendungen geben, die allerdings unter Umständen für
ihr Gleichgewicht verhängnisvoll werden müssen.




Revolutionäre Strömungen in Rußland

näher eingehen will. Auf einer Seite ertönt der Schlachtruf: „die Revolution
um des Sieges willen", wobei eine vorausschauende Phantasie alle Phasen der
Revolution, des russischen Staatsbankrotts, der bewußt herbeigeführt werden
wird, und eines zweiten Kampfes gegen das reaktionäre Deutschland, jetzt schon
ausmalt, — aus der anderen Seite hören wir: „die Revolution um der Revo¬
lution willen". Doch das sind vielfach Philosophien der emigrierten Intelligenz.
Die Flugblätter der Arbeiterschaft selbst sind derber und volkstümlicher. Sie
sind mit echt revolutionärem Geiste erfüllt. Da heißt es:


„Aber werden wir, russische Arbeiter, wirklich so dumm sein, um auf
ihre (der russischen Regierung) lügenhafte Behauptungen hereinzufallen
(daß der Feind des russischen Volkes die Deutschen sind?). Werden wir
unsere eigene Sache um ihrer Sache willen vergessen? Nein, wenn wir
schon sterben müssen, dann wollen wir für die Sache des Volkes sterben
und nicht für die der Romanows und der Adligen vom Schwarzen Hundert".

Die Flugblätter wenden sich an die russischen Soldaten:


„Wenn die Revolution auflodert, so erinnert Euch, Ihr Brüder
Soldaten daran, daß Euer Platz nicht gegen uns, sondern mit uns ist".

In den späteren heißt es ausdrücklich:


„Nicht fern mehr ist der Moment der nahenden russischen Revolution . . .
Weg mit der Selbstherrschaft. Es lebe die zweite russische Revolution!" —

Wir sehen also, Symptome für die revolutionäre Stimmung der russischen
Arbeiterschaft sind reichlich vorhanden.

Andererseits wird die Stimmung der Arbeiterschaft solange keine ausschlag¬
gebende Rolle spielen können, als die Bourgeoisie immer noch auf den Schlacht¬
ruf „alles für den Krieg" eingeschworen ist, als die Armee bei der Stange
bleibt, was sie nach allen Berichten noch tut, und als das Dorf sich nicht
offen zur Revolution bekennt. Wie die Stimmung dort ist, wissen wir nicht.
Nach den Berichten der sozialistischen russischen Blätter, die nicht ohne weiteres
Autorität für sich beanspruchen können, ist sie schlecht. Die Revolutionäre suchen
für ihre Ideen durch die Losung: „Konfiskation der Ländereien der Gutsbesitzer
zu Gunsten der Bauern" Stimmung zu machen, wie sie behaupten, mit Erfolg.

Eines steht jedenfalls fest. Ruhig ists in Rußland keineswegs. Es brodelt
in den Tiefen, und es liegen dort Symptome einer späteren Zersetzung vor,
die auch bei uns volle Beachtung verdienen. Wir dürfen, wenn der Stand
der Dinge so bleibt, wie er ist, mit einer baldigen Revolution in Rußland
nicht rechnen, werden aber gut tun, den Gang der Dinge weiter mit der Auf¬
merksamkeit zu verfolgen, die er verdient. Eine einschneidende Veränderung
der Kriegslage, die Fortsetzung der strammen und gewaltsamen reaktionären
Regierungspolilik, eine Schwenkung der bürgerlichen Parteien, können der inneren
russischen Lage diejenigen Wendungen geben, die allerdings unter Umständen für
ihr Gleichgewicht verhängnisvoll werden müssen.




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[0024] Revolutionäre Strömungen in Rußland näher eingehen will. Auf einer Seite ertönt der Schlachtruf: „die Revolution um des Sieges willen", wobei eine vorausschauende Phantasie alle Phasen der Revolution, des russischen Staatsbankrotts, der bewußt herbeigeführt werden wird, und eines zweiten Kampfes gegen das reaktionäre Deutschland, jetzt schon ausmalt, — aus der anderen Seite hören wir: „die Revolution um der Revo¬ lution willen". Doch das sind vielfach Philosophien der emigrierten Intelligenz. Die Flugblätter der Arbeiterschaft selbst sind derber und volkstümlicher. Sie sind mit echt revolutionärem Geiste erfüllt. Da heißt es: „Aber werden wir, russische Arbeiter, wirklich so dumm sein, um auf ihre (der russischen Regierung) lügenhafte Behauptungen hereinzufallen (daß der Feind des russischen Volkes die Deutschen sind?). Werden wir unsere eigene Sache um ihrer Sache willen vergessen? Nein, wenn wir schon sterben müssen, dann wollen wir für die Sache des Volkes sterben und nicht für die der Romanows und der Adligen vom Schwarzen Hundert". Die Flugblätter wenden sich an die russischen Soldaten: „Wenn die Revolution auflodert, so erinnert Euch, Ihr Brüder Soldaten daran, daß Euer Platz nicht gegen uns, sondern mit uns ist". In den späteren heißt es ausdrücklich: „Nicht fern mehr ist der Moment der nahenden russischen Revolution . . . Weg mit der Selbstherrschaft. Es lebe die zweite russische Revolution!" — Wir sehen also, Symptome für die revolutionäre Stimmung der russischen Arbeiterschaft sind reichlich vorhanden. Andererseits wird die Stimmung der Arbeiterschaft solange keine ausschlag¬ gebende Rolle spielen können, als die Bourgeoisie immer noch auf den Schlacht¬ ruf „alles für den Krieg" eingeschworen ist, als die Armee bei der Stange bleibt, was sie nach allen Berichten noch tut, und als das Dorf sich nicht offen zur Revolution bekennt. Wie die Stimmung dort ist, wissen wir nicht. Nach den Berichten der sozialistischen russischen Blätter, die nicht ohne weiteres Autorität für sich beanspruchen können, ist sie schlecht. Die Revolutionäre suchen für ihre Ideen durch die Losung: „Konfiskation der Ländereien der Gutsbesitzer zu Gunsten der Bauern" Stimmung zu machen, wie sie behaupten, mit Erfolg. Eines steht jedenfalls fest. Ruhig ists in Rußland keineswegs. Es brodelt in den Tiefen, und es liegen dort Symptome einer späteren Zersetzung vor, die auch bei uns volle Beachtung verdienen. Wir dürfen, wenn der Stand der Dinge so bleibt, wie er ist, mit einer baldigen Revolution in Rußland nicht rechnen, werden aber gut tun, den Gang der Dinge weiter mit der Auf¬ merksamkeit zu verfolgen, die er verdient. Eine einschneidende Veränderung der Kriegslage, die Fortsetzung der strammen und gewaltsamen reaktionären Regierungspolilik, eine Schwenkung der bürgerlichen Parteien, können der inneren russischen Lage diejenigen Wendungen geben, die allerdings unter Umständen für ihr Gleichgewicht verhängnisvoll werden müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/24>, abgerufen am 15.01.2025.