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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Gewerbliche Rinderarbeit

richte der Schulärzte fast monatlich. Im Landespolizeibezirk Berlin schätzte
anfangs 1914 ein Berliner Schularzt, daß 15 v. H. aller Volksschüler -- also
jener Kinder, welche in der Hauptsache gewerblich beschäftigt werden! -- krank
oder leidend sind. Für unsere Volksgesundheit bedeuten derartige Zahlen doch
recht bedenkliche Tatsachen. Gerade heute, da man sich mit den Problemen
des Kindes so nachhaltig beschäftigt, sollte man dazu helfen, daß unsere
Kinder des Volkes körperlich und sittlich gesund aufwachsen können, daß sie sich
nicht mehr, wie es heute in der Heimindustrie noch der Fall ist, in einer
zehnstündiger Arbeitszeit einen Lohn von 30--40 Pfennigen erarbeiten müssen.
Das Publikum kann in dieser Frage manches tun. Wenn man die Ramsch-
und Schleudsrtage für den Handel weniger rentabel machte, wenn man wieder
anfinge, mehr nach guter als nach gutscheinender billiger Arbeit zu verlangen,
wenn man die Ausnahmetage weniger besuchen würde, wäre schon manches getan.
Günstige Erfolge hob auf diesem Gebiete nur zu erreichen, wenn ein Zusammen¬
arbeiten von Gesetzesnorm, gutem Willen und einsichtigen Pflichtgefühl ermög¬
licht wird. Gewiß, man könnte einfach sagen: hebt die Elternlöhne, dann wird
auch die Kinderarbeit fortfallen. Abgesehen davon, daß von der erhöhten Lohn¬
quote vieles den steigenden Ansprüchen anheimfallen würde und die Kinder,
insbesondere die fremden, doch weiter beschäftigt würden, ist es zwecklos,
mit Forderungen operieren zu wollen, die sich nicht verwirklichen lassen.
Auf den Boden der Wirklichkeit muß man sich stellen. Soziale Zweckmäßigkeit
und Mitleid sind selten so widerspruchslos harmonische Träger der sozial¬
politischen Maßnahmen wie auf diesem Gebiete. Soweit ist die soziale Wirt¬
schaftlichkeit heute ja doch schon gefördert, daß angesichts gewisser Tatsachen der
Kinderausnutzung zu gewerblichen Zwecken der Gedanke an die kommenden
Generationen rege wird. Es ist sehr zu hoffen, daß man sich angesichts der
neuen Propaganda für das Kind auch mit neuem, nachhaltigen Eifer dem
Wohl und Wehe des gewerblich arbeitenden Kindes, dem Kinde von 6--14
Jahren zuwenden wird. Es ist nötig, daß nicht nur das Fachinteresse, sondern
das breite Allgemeininteresse sich hilfreich diesem Gebiete erschließt! -- Der
Wandel, der sich in der Beurteilung der gewerblichen Arbeit des Kindes seit
einem Jahrhundert vollzogen hat, ist bezeichnend für das Wachstum der Kraft
des sozialen Gesichtspunktes in der Betrachtungsweise des Phänomens des
Arbeitsverhältnisses. Aber diese Umwandlung ist eben leider zumeist nur
theoretisch, nur gedanklich erfolgt; darum das Schweigen der interessierten Kreise
und die vielfach zweckwidrige Handlung.

Die Theoretiker "aus Prinzip" aber mögen sich doch erinnern, das allein
1913 in Deutschland 10 546 Fälle der brutalsten Kindermißhandlung an die
Öffentlichkeit kamen. An die Öffentlichkeit! Wie viele aber blieben noch ver¬
borgen. Bedenken möge man doch auch, daß bei der Kinderarbeit nicht nur
die gesundheitlichen, sondern gleichermaßen auch die "moralischen" Werte auf
das Spiel gesetzt werden. Es kommt bei der gewerblichen Arbeit der Kleinen


Gewerbliche Rinderarbeit

richte der Schulärzte fast monatlich. Im Landespolizeibezirk Berlin schätzte
anfangs 1914 ein Berliner Schularzt, daß 15 v. H. aller Volksschüler — also
jener Kinder, welche in der Hauptsache gewerblich beschäftigt werden! — krank
oder leidend sind. Für unsere Volksgesundheit bedeuten derartige Zahlen doch
recht bedenkliche Tatsachen. Gerade heute, da man sich mit den Problemen
des Kindes so nachhaltig beschäftigt, sollte man dazu helfen, daß unsere
Kinder des Volkes körperlich und sittlich gesund aufwachsen können, daß sie sich
nicht mehr, wie es heute in der Heimindustrie noch der Fall ist, in einer
zehnstündiger Arbeitszeit einen Lohn von 30—40 Pfennigen erarbeiten müssen.
Das Publikum kann in dieser Frage manches tun. Wenn man die Ramsch-
und Schleudsrtage für den Handel weniger rentabel machte, wenn man wieder
anfinge, mehr nach guter als nach gutscheinender billiger Arbeit zu verlangen,
wenn man die Ausnahmetage weniger besuchen würde, wäre schon manches getan.
Günstige Erfolge hob auf diesem Gebiete nur zu erreichen, wenn ein Zusammen¬
arbeiten von Gesetzesnorm, gutem Willen und einsichtigen Pflichtgefühl ermög¬
licht wird. Gewiß, man könnte einfach sagen: hebt die Elternlöhne, dann wird
auch die Kinderarbeit fortfallen. Abgesehen davon, daß von der erhöhten Lohn¬
quote vieles den steigenden Ansprüchen anheimfallen würde und die Kinder,
insbesondere die fremden, doch weiter beschäftigt würden, ist es zwecklos,
mit Forderungen operieren zu wollen, die sich nicht verwirklichen lassen.
Auf den Boden der Wirklichkeit muß man sich stellen. Soziale Zweckmäßigkeit
und Mitleid sind selten so widerspruchslos harmonische Träger der sozial¬
politischen Maßnahmen wie auf diesem Gebiete. Soweit ist die soziale Wirt¬
schaftlichkeit heute ja doch schon gefördert, daß angesichts gewisser Tatsachen der
Kinderausnutzung zu gewerblichen Zwecken der Gedanke an die kommenden
Generationen rege wird. Es ist sehr zu hoffen, daß man sich angesichts der
neuen Propaganda für das Kind auch mit neuem, nachhaltigen Eifer dem
Wohl und Wehe des gewerblich arbeitenden Kindes, dem Kinde von 6—14
Jahren zuwenden wird. Es ist nötig, daß nicht nur das Fachinteresse, sondern
das breite Allgemeininteresse sich hilfreich diesem Gebiete erschließt! — Der
Wandel, der sich in der Beurteilung der gewerblichen Arbeit des Kindes seit
einem Jahrhundert vollzogen hat, ist bezeichnend für das Wachstum der Kraft
des sozialen Gesichtspunktes in der Betrachtungsweise des Phänomens des
Arbeitsverhältnisses. Aber diese Umwandlung ist eben leider zumeist nur
theoretisch, nur gedanklich erfolgt; darum das Schweigen der interessierten Kreise
und die vielfach zweckwidrige Handlung.

Die Theoretiker „aus Prinzip" aber mögen sich doch erinnern, das allein
1913 in Deutschland 10 546 Fälle der brutalsten Kindermißhandlung an die
Öffentlichkeit kamen. An die Öffentlichkeit! Wie viele aber blieben noch ver¬
borgen. Bedenken möge man doch auch, daß bei der Kinderarbeit nicht nur
die gesundheitlichen, sondern gleichermaßen auch die „moralischen" Werte auf
das Spiel gesetzt werden. Es kommt bei der gewerblichen Arbeit der Kleinen


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[0228] Gewerbliche Rinderarbeit richte der Schulärzte fast monatlich. Im Landespolizeibezirk Berlin schätzte anfangs 1914 ein Berliner Schularzt, daß 15 v. H. aller Volksschüler — also jener Kinder, welche in der Hauptsache gewerblich beschäftigt werden! — krank oder leidend sind. Für unsere Volksgesundheit bedeuten derartige Zahlen doch recht bedenkliche Tatsachen. Gerade heute, da man sich mit den Problemen des Kindes so nachhaltig beschäftigt, sollte man dazu helfen, daß unsere Kinder des Volkes körperlich und sittlich gesund aufwachsen können, daß sie sich nicht mehr, wie es heute in der Heimindustrie noch der Fall ist, in einer zehnstündiger Arbeitszeit einen Lohn von 30—40 Pfennigen erarbeiten müssen. Das Publikum kann in dieser Frage manches tun. Wenn man die Ramsch- und Schleudsrtage für den Handel weniger rentabel machte, wenn man wieder anfinge, mehr nach guter als nach gutscheinender billiger Arbeit zu verlangen, wenn man die Ausnahmetage weniger besuchen würde, wäre schon manches getan. Günstige Erfolge hob auf diesem Gebiete nur zu erreichen, wenn ein Zusammen¬ arbeiten von Gesetzesnorm, gutem Willen und einsichtigen Pflichtgefühl ermög¬ licht wird. Gewiß, man könnte einfach sagen: hebt die Elternlöhne, dann wird auch die Kinderarbeit fortfallen. Abgesehen davon, daß von der erhöhten Lohn¬ quote vieles den steigenden Ansprüchen anheimfallen würde und die Kinder, insbesondere die fremden, doch weiter beschäftigt würden, ist es zwecklos, mit Forderungen operieren zu wollen, die sich nicht verwirklichen lassen. Auf den Boden der Wirklichkeit muß man sich stellen. Soziale Zweckmäßigkeit und Mitleid sind selten so widerspruchslos harmonische Träger der sozial¬ politischen Maßnahmen wie auf diesem Gebiete. Soweit ist die soziale Wirt¬ schaftlichkeit heute ja doch schon gefördert, daß angesichts gewisser Tatsachen der Kinderausnutzung zu gewerblichen Zwecken der Gedanke an die kommenden Generationen rege wird. Es ist sehr zu hoffen, daß man sich angesichts der neuen Propaganda für das Kind auch mit neuem, nachhaltigen Eifer dem Wohl und Wehe des gewerblich arbeitenden Kindes, dem Kinde von 6—14 Jahren zuwenden wird. Es ist nötig, daß nicht nur das Fachinteresse, sondern das breite Allgemeininteresse sich hilfreich diesem Gebiete erschließt! — Der Wandel, der sich in der Beurteilung der gewerblichen Arbeit des Kindes seit einem Jahrhundert vollzogen hat, ist bezeichnend für das Wachstum der Kraft des sozialen Gesichtspunktes in der Betrachtungsweise des Phänomens des Arbeitsverhältnisses. Aber diese Umwandlung ist eben leider zumeist nur theoretisch, nur gedanklich erfolgt; darum das Schweigen der interessierten Kreise und die vielfach zweckwidrige Handlung. Die Theoretiker „aus Prinzip" aber mögen sich doch erinnern, das allein 1913 in Deutschland 10 546 Fälle der brutalsten Kindermißhandlung an die Öffentlichkeit kamen. An die Öffentlichkeit! Wie viele aber blieben noch ver¬ borgen. Bedenken möge man doch auch, daß bei der Kinderarbeit nicht nur die gesundheitlichen, sondern gleichermaßen auch die „moralischen" Werte auf das Spiel gesetzt werden. Es kommt bei der gewerblichen Arbeit der Kleinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/228>, abgerufen am 15.01.2025.