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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Gewerbliche Rinderarbeit

ihr subjektives Leben einschneiden und ihr in offener und versteckter Art Vor¬
würfe über wenig entwickeltes Muttergefühl zu machen, mag hier dahingestellt
bleiben, offensichtlich erwächst uns aber ein Mangel aus dem Streben, in erster
Linie nur dahin wirken zu wollen, die Geburten ziffernmäßig zu heben.
Das erhaltende Moment innerhalb der Bevölkerungspolitik ist für unseren
Staatskörper von der gleichen weittragenden Bedeutung. Allein mit der ver¬
mehrten Geburtenzahl und dem Schutze des Neugeborenen ist das weite Ziel
einer gesunden Auffüllung unseres wirtschaftlich und militärisch notwendigen
Volksbcstandes nicht zu erreichen. Es ist zudem eine Sache der Realpolitik,
sich das vorhandene Gut zu Nutzen zu machen, statt seine Hauptkraft auf die
Erhebung von Wünschen zu legen. Wenn zweifellos 5le bequeme- Sattheit
unserer Kulturperiode den Willen zur Geburtenhäufigkeit erstickt, oder sagen wir,
wenigstens vermindert hat, so trägt doch die wirtschaftliche Basis der einzelnen
Ehegemeinschaft nicht am wenigsten zu der vielfach beobachteten Kinder¬
beschränkung bei. Man wünscht in den Familien sowohl sich als auch dem
Kinde die wirtschaftliche Existenz nicht herabzudrücken: da nun der Kriegszustand
nur wenige Familien begüterter macht, die Regel in einer Verminderung, ja Ver¬
heerung der wirtschaftlichen selbständigen Existenzen besteht, wird der Wille zu
einer Volksvermehrung nur zu einem geringen Teile von dem Geburtenwillen der
Frauenwelt abhängen, sondern sich letzten Endes von der finanziellen Leistungs¬
kraft der Emzelfamilie abhängig erweisen, da erfahrungsmäßig das wirtschaft¬
liche Niveau einer Familienhaltung nie freiwillig heruntergedrückt wird, fondern
lediglich zwangsweise zu einer Einschränkung gelangt. Statt also den Frauen
ins Gewissen zu reden und eine Umformung der Familienhaltung zugunsten der
Bevölkerungsfrage zu propagieren, wende man sich zunächst einmal dem Schutze
des Vorhandenen zu und stelle das, was heute an der Spitze steht, in die
zweite Reihe.

Zweifellos treiben wir noch immer Raubbau auf Kosten der Bevöl¬
kerung; tausende von wirtschaftlichen Kräften gehen Jahr um Jahr verloren
oder entwickeln sich nicht zu ihrer vollen wirtschaftlichen Kraft, geben dem
nationalen Leben gleich dem verkümmerten Baume weder Blüte noch Frucht,
saugen aber dennoch bedeutende Kräfte des Bodens an sich. Mit dem Schutze
der Arbeitshand ist ja denn auch bekanntlich unsere moderne Sozialpolitik in
das Leben getreten. Die Wirtschaftsgestaltung der Staatsgemeinschaft gründet
sich auf den Schutz, den man dem gefährdeten Individuum angedeihen läßt.
Je weitschauender die Wirtschaftsgestaltung der Gesellschaft und ihre Bedingungen
in der Zukunft vor die Augen der Gegenwart gerückt werden, um so nachdrück¬
licher wird eine wirtschaftliche Mehrwertvergrößerung angebahnt.

Gegenüber dem Schutze des Säuglings läßt sich die Allgemeinheit heut¬
zutage so ziemlich jeden Eingriff moderner Sozialpolitik gefallen und das ziel¬
bewußte Eingreifen in das freie Spiel der Kräfte, um die zahlenmäßigen Daseins¬
bedingungen eines Volkes zu heben, erscheint hier als selbstverständlich. Der


Gewerbliche Rinderarbeit

ihr subjektives Leben einschneiden und ihr in offener und versteckter Art Vor¬
würfe über wenig entwickeltes Muttergefühl zu machen, mag hier dahingestellt
bleiben, offensichtlich erwächst uns aber ein Mangel aus dem Streben, in erster
Linie nur dahin wirken zu wollen, die Geburten ziffernmäßig zu heben.
Das erhaltende Moment innerhalb der Bevölkerungspolitik ist für unseren
Staatskörper von der gleichen weittragenden Bedeutung. Allein mit der ver¬
mehrten Geburtenzahl und dem Schutze des Neugeborenen ist das weite Ziel
einer gesunden Auffüllung unseres wirtschaftlich und militärisch notwendigen
Volksbcstandes nicht zu erreichen. Es ist zudem eine Sache der Realpolitik,
sich das vorhandene Gut zu Nutzen zu machen, statt seine Hauptkraft auf die
Erhebung von Wünschen zu legen. Wenn zweifellos 5le bequeme- Sattheit
unserer Kulturperiode den Willen zur Geburtenhäufigkeit erstickt, oder sagen wir,
wenigstens vermindert hat, so trägt doch die wirtschaftliche Basis der einzelnen
Ehegemeinschaft nicht am wenigsten zu der vielfach beobachteten Kinder¬
beschränkung bei. Man wünscht in den Familien sowohl sich als auch dem
Kinde die wirtschaftliche Existenz nicht herabzudrücken: da nun der Kriegszustand
nur wenige Familien begüterter macht, die Regel in einer Verminderung, ja Ver¬
heerung der wirtschaftlichen selbständigen Existenzen besteht, wird der Wille zu
einer Volksvermehrung nur zu einem geringen Teile von dem Geburtenwillen der
Frauenwelt abhängen, sondern sich letzten Endes von der finanziellen Leistungs¬
kraft der Emzelfamilie abhängig erweisen, da erfahrungsmäßig das wirtschaft¬
liche Niveau einer Familienhaltung nie freiwillig heruntergedrückt wird, fondern
lediglich zwangsweise zu einer Einschränkung gelangt. Statt also den Frauen
ins Gewissen zu reden und eine Umformung der Familienhaltung zugunsten der
Bevölkerungsfrage zu propagieren, wende man sich zunächst einmal dem Schutze
des Vorhandenen zu und stelle das, was heute an der Spitze steht, in die
zweite Reihe.

Zweifellos treiben wir noch immer Raubbau auf Kosten der Bevöl¬
kerung; tausende von wirtschaftlichen Kräften gehen Jahr um Jahr verloren
oder entwickeln sich nicht zu ihrer vollen wirtschaftlichen Kraft, geben dem
nationalen Leben gleich dem verkümmerten Baume weder Blüte noch Frucht,
saugen aber dennoch bedeutende Kräfte des Bodens an sich. Mit dem Schutze
der Arbeitshand ist ja denn auch bekanntlich unsere moderne Sozialpolitik in
das Leben getreten. Die Wirtschaftsgestaltung der Staatsgemeinschaft gründet
sich auf den Schutz, den man dem gefährdeten Individuum angedeihen läßt.
Je weitschauender die Wirtschaftsgestaltung der Gesellschaft und ihre Bedingungen
in der Zukunft vor die Augen der Gegenwart gerückt werden, um so nachdrück¬
licher wird eine wirtschaftliche Mehrwertvergrößerung angebahnt.

Gegenüber dem Schutze des Säuglings läßt sich die Allgemeinheit heut¬
zutage so ziemlich jeden Eingriff moderner Sozialpolitik gefallen und das ziel¬
bewußte Eingreifen in das freie Spiel der Kräfte, um die zahlenmäßigen Daseins¬
bedingungen eines Volkes zu heben, erscheint hier als selbstverständlich. Der


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[0222] Gewerbliche Rinderarbeit ihr subjektives Leben einschneiden und ihr in offener und versteckter Art Vor¬ würfe über wenig entwickeltes Muttergefühl zu machen, mag hier dahingestellt bleiben, offensichtlich erwächst uns aber ein Mangel aus dem Streben, in erster Linie nur dahin wirken zu wollen, die Geburten ziffernmäßig zu heben. Das erhaltende Moment innerhalb der Bevölkerungspolitik ist für unseren Staatskörper von der gleichen weittragenden Bedeutung. Allein mit der ver¬ mehrten Geburtenzahl und dem Schutze des Neugeborenen ist das weite Ziel einer gesunden Auffüllung unseres wirtschaftlich und militärisch notwendigen Volksbcstandes nicht zu erreichen. Es ist zudem eine Sache der Realpolitik, sich das vorhandene Gut zu Nutzen zu machen, statt seine Hauptkraft auf die Erhebung von Wünschen zu legen. Wenn zweifellos 5le bequeme- Sattheit unserer Kulturperiode den Willen zur Geburtenhäufigkeit erstickt, oder sagen wir, wenigstens vermindert hat, so trägt doch die wirtschaftliche Basis der einzelnen Ehegemeinschaft nicht am wenigsten zu der vielfach beobachteten Kinder¬ beschränkung bei. Man wünscht in den Familien sowohl sich als auch dem Kinde die wirtschaftliche Existenz nicht herabzudrücken: da nun der Kriegszustand nur wenige Familien begüterter macht, die Regel in einer Verminderung, ja Ver¬ heerung der wirtschaftlichen selbständigen Existenzen besteht, wird der Wille zu einer Volksvermehrung nur zu einem geringen Teile von dem Geburtenwillen der Frauenwelt abhängen, sondern sich letzten Endes von der finanziellen Leistungs¬ kraft der Emzelfamilie abhängig erweisen, da erfahrungsmäßig das wirtschaft¬ liche Niveau einer Familienhaltung nie freiwillig heruntergedrückt wird, fondern lediglich zwangsweise zu einer Einschränkung gelangt. Statt also den Frauen ins Gewissen zu reden und eine Umformung der Familienhaltung zugunsten der Bevölkerungsfrage zu propagieren, wende man sich zunächst einmal dem Schutze des Vorhandenen zu und stelle das, was heute an der Spitze steht, in die zweite Reihe. Zweifellos treiben wir noch immer Raubbau auf Kosten der Bevöl¬ kerung; tausende von wirtschaftlichen Kräften gehen Jahr um Jahr verloren oder entwickeln sich nicht zu ihrer vollen wirtschaftlichen Kraft, geben dem nationalen Leben gleich dem verkümmerten Baume weder Blüte noch Frucht, saugen aber dennoch bedeutende Kräfte des Bodens an sich. Mit dem Schutze der Arbeitshand ist ja denn auch bekanntlich unsere moderne Sozialpolitik in das Leben getreten. Die Wirtschaftsgestaltung der Staatsgemeinschaft gründet sich auf den Schutz, den man dem gefährdeten Individuum angedeihen läßt. Je weitschauender die Wirtschaftsgestaltung der Gesellschaft und ihre Bedingungen in der Zukunft vor die Augen der Gegenwart gerückt werden, um so nachdrück¬ licher wird eine wirtschaftliche Mehrwertvergrößerung angebahnt. Gegenüber dem Schutze des Säuglings läßt sich die Allgemeinheit heut¬ zutage so ziemlich jeden Eingriff moderner Sozialpolitik gefallen und das ziel¬ bewußte Eingreifen in das freie Spiel der Kräfte, um die zahlenmäßigen Daseins¬ bedingungen eines Volkes zu heben, erscheint hier als selbstverständlich. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/222>, abgerufen am 15.01.2025.