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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Revolutionäre Strömungen in Rußland

Nach dem "Sozialdemokrat" streikten in Petersburg 150 000 Arbeiter, in
Nishny 25 000, "große Streiks fanden ferner statt in Charkow, Moskau und
Jekaterinoslaw."

Zur Zeit hören wir nichts von Streiks oder von offener Auflehnung
der Arbeitermassen gegen die Regierung. Der Kampf ist jetzt auf ein anderes
Gebiet übertragen: auf das Gebiet der Organisation.

Ich muß hier etwas weiter ausholen, um diese Phase verständlich zu
machen. Die russische Sozialdemokratie, die im Vergleich zur westeuropäischen
verhältnismäßig jungen Datums ist, ist nicht festgefügt. Sie besitzt zunächst
keine Gesamtorganisation, die sich über das ganze Reich erstreckt, sondern in
der Art der Organisation, die gewissermaßen einer möglichen historischen Ent¬
wicklung vorauseilt, spiegelt sie den Nationalitätencharakter des russichen Reiches
wieder. Da gibt es, ganz abgesehen von der vollkommen beiseite stehenden
finnischen Sozialdemokratie und den Sozialrevolutionären, -- eine polnische,
eine ukrainische, eine kaukasische, eine lettische, eine jüdische sozialistische Or¬
ganisation, die alle vollkommen selbständig sind und selbständig handeln. Die
polnische und jüdische Organisation spielt in diesem Kriege keine besondere Rolle
mehr, da ihr Wirkungskreis hauptsächlich die vom deutschen Heere besetzten
Gebiete waren. Die Fraktion der Trudowiki mit Kerensky an der Spitze, die
auch in gewisser Weise Arbeiterinteressen vertritt, ist organisatorisch von der
Fraktion der Tscheidze und Tschenkeli in der Duma geschieden. In der Fraktion
selbst ist keine Einheit vorhanden, es haben sich dort schon vor Beginn des
Krieges ähnlich wie früher in unserer Sozialdemokratie zwei Tendenzen heraus¬
gebildet, die sogenannten Maximalisten (Bolschewik!) und die Minimalisten
(Menschewiki, Liquidatoren), die letzteren unsern Revisionisten vergleichbar.
Außerdem spielen in der russichen Sozialdemokratie auch die Emigranten, die
in Paris, New Uork, Genf sitzen, und in denen zum Teil gerade die Intelligenz
des russichen Sozialismus verkörpert ist, eine Rolle.

Es ist außerordentlich schwer, aus diesen verschiedenen Gruppen und
Einflüssen sich ein klares Bild über die Tendenzen zu machen, die im gegen¬
wärtigen Augenblick die russische Arbeiterschaft erfüllen, noch dazu, im Zeitalter
der strengen russischen Zensur, besonders da diese Tendenzen keineswegs sich
über das ganze Reich erstrecken,, sondern in jedem Industriezentrum ganz ver¬
schieden sind.

Wir wissen selbst nicht genau, wie sich die Dumafraktion zum Kriege
stellt. Es ist jedem, der sich mit den Verhältnissen des russischen Sozialismus
noch dem Kriege beschäftigt hat, bekannt, daß sich unter der Einwirkung der
Kriegsereignisse zwei extreme Richtungen im russischen Sozialismus bildeten,
die aber nicht so ernst genommen werden sollten, wie man es bei uns ge¬
wöhnlich tut. Es sind das die PorashSnzy, eine Gruppe um Lenin herum,
die in der Niederlage (pora8lnwie) des Vaterlandes das Heil des russischen
Sozialismus sieht, also Falles zu fördern sucht, was diese Niederlage herbei-


Revolutionäre Strömungen in Rußland

Nach dem „Sozialdemokrat" streikten in Petersburg 150 000 Arbeiter, in
Nishny 25 000, „große Streiks fanden ferner statt in Charkow, Moskau und
Jekaterinoslaw."

Zur Zeit hören wir nichts von Streiks oder von offener Auflehnung
der Arbeitermassen gegen die Regierung. Der Kampf ist jetzt auf ein anderes
Gebiet übertragen: auf das Gebiet der Organisation.

Ich muß hier etwas weiter ausholen, um diese Phase verständlich zu
machen. Die russische Sozialdemokratie, die im Vergleich zur westeuropäischen
verhältnismäßig jungen Datums ist, ist nicht festgefügt. Sie besitzt zunächst
keine Gesamtorganisation, die sich über das ganze Reich erstreckt, sondern in
der Art der Organisation, die gewissermaßen einer möglichen historischen Ent¬
wicklung vorauseilt, spiegelt sie den Nationalitätencharakter des russichen Reiches
wieder. Da gibt es, ganz abgesehen von der vollkommen beiseite stehenden
finnischen Sozialdemokratie und den Sozialrevolutionären, — eine polnische,
eine ukrainische, eine kaukasische, eine lettische, eine jüdische sozialistische Or¬
ganisation, die alle vollkommen selbständig sind und selbständig handeln. Die
polnische und jüdische Organisation spielt in diesem Kriege keine besondere Rolle
mehr, da ihr Wirkungskreis hauptsächlich die vom deutschen Heere besetzten
Gebiete waren. Die Fraktion der Trudowiki mit Kerensky an der Spitze, die
auch in gewisser Weise Arbeiterinteressen vertritt, ist organisatorisch von der
Fraktion der Tscheidze und Tschenkeli in der Duma geschieden. In der Fraktion
selbst ist keine Einheit vorhanden, es haben sich dort schon vor Beginn des
Krieges ähnlich wie früher in unserer Sozialdemokratie zwei Tendenzen heraus¬
gebildet, die sogenannten Maximalisten (Bolschewik!) und die Minimalisten
(Menschewiki, Liquidatoren), die letzteren unsern Revisionisten vergleichbar.
Außerdem spielen in der russichen Sozialdemokratie auch die Emigranten, die
in Paris, New Uork, Genf sitzen, und in denen zum Teil gerade die Intelligenz
des russichen Sozialismus verkörpert ist, eine Rolle.

Es ist außerordentlich schwer, aus diesen verschiedenen Gruppen und
Einflüssen sich ein klares Bild über die Tendenzen zu machen, die im gegen¬
wärtigen Augenblick die russische Arbeiterschaft erfüllen, noch dazu, im Zeitalter
der strengen russischen Zensur, besonders da diese Tendenzen keineswegs sich
über das ganze Reich erstrecken,, sondern in jedem Industriezentrum ganz ver¬
schieden sind.

Wir wissen selbst nicht genau, wie sich die Dumafraktion zum Kriege
stellt. Es ist jedem, der sich mit den Verhältnissen des russischen Sozialismus
noch dem Kriege beschäftigt hat, bekannt, daß sich unter der Einwirkung der
Kriegsereignisse zwei extreme Richtungen im russischen Sozialismus bildeten,
die aber nicht so ernst genommen werden sollten, wie man es bei uns ge¬
wöhnlich tut. Es sind das die PorashSnzy, eine Gruppe um Lenin herum,
die in der Niederlage (pora8lnwie) des Vaterlandes das Heil des russischen
Sozialismus sieht, also Falles zu fördern sucht, was diese Niederlage herbei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/18>, abgerufen am 15.01.2025.