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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Revolutionäre Strömungen in Rußland

Mit einem ironischen Hochrufe auf die französische Freiheit -- auf das Idol,
für das sie als Idealisten in den Kampf gegangen waren, -- starben die
beherztesten dieser Enttäuschten unter den französischen Kugeln. Der Appell an
das französische Parlament, den ihre Brüder in Paris verfaßten, verhallte ohne
Echo, weil es die Zensur des freiheitlichen Frankreich so für gut hielt. Wie
hätte auch das Bekanntwerden dieses Protestes zu dem Phrasenschwall von
dem edlen Kriege des freiheitlichen und demokratischen Frankreichs und Englands
gepaßt! Begreifen aber kann man den Schrecken und den Abscheu, der die
letzten noch in Paris zurückgebliebenen russischen revolutionären Emigranten
erfaßte, als der Abgeordnete Galli in der Pariser Munizipalität den Antrag
einreichte, daß alle in Frankreich lebenden Untertanen der Allierten Frankreichs
entweder nach ihrem Heimatlande abgeschoben oder zum Dienste in der
französischen Fremdenlegion gezwungen werden sollten. Das Beispiel von
Burzew, von W. S. Ochotski, der nach Rußland zurückgekehrt wegen eines
neun Jahre zurückliegenden politischen Vergehens in das Jsnmilowsche Ge¬
fängnis geworfen wurde, das von Germanow-Morosow, der trotz seiner
Propagandatätigkeit für die Regierung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt
ward, und das Los ihrer Genossen in der französischen Fremdenlegion schwebte
vor aller Augen. -- Unter dem Drucke der russtchen Botschaft in Paris hatte
man in Frankreich die Scham verloren, das Bündnis bis zur Nachahmung
der russischen Regierungsmethoden zu treiben. Nur wenige einsichtige Franzosen,
z. B. der Philologe Meillet hatten es offen auszusprechen gewagt, daß die
innere russische Politik "eine Quelle für die moralische und materielle Schwäche
der Allierten Rußlands bedeute."

Das dritte Stadium des Krieges brachte die ungeheuere Umwälzung nicht
nur der äußeren Kriegslage, sondern des inneren russischen Lebens. Es fällt
Lemberg und Przemysl. es fallen die russischen Festungen. Die Völkerwanderung
der Flüchtlinge beginnt. Ich zitiere wieder den "Sozialdemokrat":


"Die Reaktion verliert den Kopf. Es beginnen Intrigen zwischen
einzelnen einflußreichen Kliquen der Kriegspartei. "Das Vaterland ist in
Gefahr". Es erfolgt "die Mobilisation der Industrie" und die Mobili-
sation der Kräfte der Gesellschaft . . . Kongresse, Reden, Resolutionen,
Telegramme, Komitees, Deputationen. ^.Gutschkoff ist fast Diktator,
Miljukoff und Schingarioff fast Minister."

Die Regierung, die zuerst die Zügel der Regierung am Boden schleifen
läßt, macht eine zeitlang Miene, dem empörten Volkswillen nachzugeben. Einige
Minister werden entlassen, Kommissionen "zur Verteidigung des Landes" und
zur Organisierung desselben eingesetzt, in denen Leute der Gesellschaft mit
Bürokraten zusammen tätig sind. Diese Herrlichkeit dauert aber nicht lange.
Es beginnt der Kampf der Regierung mit den Gntschkoff und Lwoff. Die
Duma wird aufgelöst. Dem Block der Linken, der sich gebildet hatte, sind in
Goremykin und Chwostow zielbewußte Gegner entstanden. In diesem dritten


Revolutionäre Strömungen in Rußland

Mit einem ironischen Hochrufe auf die französische Freiheit — auf das Idol,
für das sie als Idealisten in den Kampf gegangen waren, — starben die
beherztesten dieser Enttäuschten unter den französischen Kugeln. Der Appell an
das französische Parlament, den ihre Brüder in Paris verfaßten, verhallte ohne
Echo, weil es die Zensur des freiheitlichen Frankreich so für gut hielt. Wie
hätte auch das Bekanntwerden dieses Protestes zu dem Phrasenschwall von
dem edlen Kriege des freiheitlichen und demokratischen Frankreichs und Englands
gepaßt! Begreifen aber kann man den Schrecken und den Abscheu, der die
letzten noch in Paris zurückgebliebenen russischen revolutionären Emigranten
erfaßte, als der Abgeordnete Galli in der Pariser Munizipalität den Antrag
einreichte, daß alle in Frankreich lebenden Untertanen der Allierten Frankreichs
entweder nach ihrem Heimatlande abgeschoben oder zum Dienste in der
französischen Fremdenlegion gezwungen werden sollten. Das Beispiel von
Burzew, von W. S. Ochotski, der nach Rußland zurückgekehrt wegen eines
neun Jahre zurückliegenden politischen Vergehens in das Jsnmilowsche Ge¬
fängnis geworfen wurde, das von Germanow-Morosow, der trotz seiner
Propagandatätigkeit für die Regierung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt
ward, und das Los ihrer Genossen in der französischen Fremdenlegion schwebte
vor aller Augen. — Unter dem Drucke der russtchen Botschaft in Paris hatte
man in Frankreich die Scham verloren, das Bündnis bis zur Nachahmung
der russischen Regierungsmethoden zu treiben. Nur wenige einsichtige Franzosen,
z. B. der Philologe Meillet hatten es offen auszusprechen gewagt, daß die
innere russische Politik „eine Quelle für die moralische und materielle Schwäche
der Allierten Rußlands bedeute."

Das dritte Stadium des Krieges brachte die ungeheuere Umwälzung nicht
nur der äußeren Kriegslage, sondern des inneren russischen Lebens. Es fällt
Lemberg und Przemysl. es fallen die russischen Festungen. Die Völkerwanderung
der Flüchtlinge beginnt. Ich zitiere wieder den „Sozialdemokrat":


„Die Reaktion verliert den Kopf. Es beginnen Intrigen zwischen
einzelnen einflußreichen Kliquen der Kriegspartei. „Das Vaterland ist in
Gefahr". Es erfolgt „die Mobilisation der Industrie" und die Mobili-
sation der Kräfte der Gesellschaft . . . Kongresse, Reden, Resolutionen,
Telegramme, Komitees, Deputationen. ^.Gutschkoff ist fast Diktator,
Miljukoff und Schingarioff fast Minister."

Die Regierung, die zuerst die Zügel der Regierung am Boden schleifen
läßt, macht eine zeitlang Miene, dem empörten Volkswillen nachzugeben. Einige
Minister werden entlassen, Kommissionen „zur Verteidigung des Landes" und
zur Organisierung desselben eingesetzt, in denen Leute der Gesellschaft mit
Bürokraten zusammen tätig sind. Diese Herrlichkeit dauert aber nicht lange.
Es beginnt der Kampf der Regierung mit den Gntschkoff und Lwoff. Die
Duma wird aufgelöst. Dem Block der Linken, der sich gebildet hatte, sind in
Goremykin und Chwostow zielbewußte Gegner entstanden. In diesem dritten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/16>, abgerufen am 15.01.2025.