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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Auf dem toten Punkt

-- Die Arbeiter sind jetzt klüger als damals. Sie sind schließlich
in die Kriegswirtschaftskomitees gegangen, aber es sind doch eigenartige Töne,
die man von dorther hört. Sie benutzen alle diese staatlichen Einrichtungen,
an denen sie mitarbeiten sollen, für ihre eigene Organisation, und
bringen damit auch andererseits in die Kriegswirtschafts-Organisationen, die
gerade zur Ablenkung des Volkes von der Politik und zum positiven Arbeiten
erfunden worden sind, einen rein politischen Zug.

Die Moskaner und Petersburger Arbeiterdelegierten haben sich versammelt.
Die Petersburger haben glatt erklärt, sie wären für die Losung der Ver¬
teidigung des Landes, für jenen süßen Plechanowschen Lockruf, nicht zu
haben -- Sie wissen, die Petersburger Arbeiter waren immer revolutionär --,
beide Delegationen aber waren darin einig, daß man mit aller Macht auf
Einberufung eines allgemeinen Arbeiterkongresses und auf Ver¬
sammlungsfreiheit, Möglichkeit einer Aussprache zwischen Arbeitern und ihren
Delegierten dringen müsse. Diese Forderungen werden jetzt in jeder Sitzung
des Kriegskomitees vorgebracht werden. Gutschkow hat neulich im Zentral¬
komitee schon einen schweren Stand gehabt, vorläufig gibt es noch den Aus¬
weg, daß man sich "im Prinzip sympathisch" den Forderungen der Arbeiter
gegenüberstellt und sie im übrigen an dieselbe Negierung verweist, gegen die
sie vorgehen wollen. Aber mit der Zeit werden diese Forderungen größeres
Gewicht erhalten, -- wenn erst die ganze geschlossene Organisation hinter den
Fordernden steht. Und auch die bürgerlichen Mitglieder der Komitees werden
angesteckt werden. Schon jetzt hat sich das Gutschkowsche Zentralkomitee unter
dem Eindruck dieser Verhandlungen auf das rein politische Gebiet begeben und
sich mit einer Resolution, die von der Zensur unterdrückt wurde, über die
Notwendigkeit der baldigen Einberufung der Duma ausgesprochen.

Inzwischen hat Herr Chwostow eine Enquete über Lage und Stimmung
der Provinz veranstalten lassen. Die Ergebnisse liegen dem Ministerrat vor. Die
nächsten Wochen werden uns zeigen, welche Folgerungen die Regierung aus
diesen Feststellungen der Gouverneure zieht.

Denn das Dorf ist auch für den Russen in der Hauptstadt ein Rätsel, --
ein Rätsel, von dem die Regierung garnicht wünscht, daß es geraten wird.
Bark hat versucht in seiner großen Denkschrift über die russische Wirtschaft, in
der alles rosa in rosenrot gemalt ist, die Lage des Dorfes als glänzend hin¬
zustellen. Die Ernte 1914 sei gut realisiert worden. -- Aber über die Ernte
von 1915 schweigt er sich aus. Eingeweihte Leute finden das bezeichnend
und "Rußkoje Slowo" hat noch neulich folgendes gesagt:


"Wir alle wissen, welche Periode unsinnigster Lebensmittelteuerung
die Bevölkerung fast aller großen Städte Rußlands zurzeit durchlebt.
Zugegeben, daß diese Teuerung in beträchtlichem Maße von der Des¬
organisation unseres Verkehrswesens abhängt, wir müssen aber immer¬
hin mit der Tatsache rechnen, daß letzten Endes die Haupt-

Auf dem toten Punkt

— Die Arbeiter sind jetzt klüger als damals. Sie sind schließlich
in die Kriegswirtschaftskomitees gegangen, aber es sind doch eigenartige Töne,
die man von dorther hört. Sie benutzen alle diese staatlichen Einrichtungen,
an denen sie mitarbeiten sollen, für ihre eigene Organisation, und
bringen damit auch andererseits in die Kriegswirtschafts-Organisationen, die
gerade zur Ablenkung des Volkes von der Politik und zum positiven Arbeiten
erfunden worden sind, einen rein politischen Zug.

Die Moskaner und Petersburger Arbeiterdelegierten haben sich versammelt.
Die Petersburger haben glatt erklärt, sie wären für die Losung der Ver¬
teidigung des Landes, für jenen süßen Plechanowschen Lockruf, nicht zu
haben — Sie wissen, die Petersburger Arbeiter waren immer revolutionär —,
beide Delegationen aber waren darin einig, daß man mit aller Macht auf
Einberufung eines allgemeinen Arbeiterkongresses und auf Ver¬
sammlungsfreiheit, Möglichkeit einer Aussprache zwischen Arbeitern und ihren
Delegierten dringen müsse. Diese Forderungen werden jetzt in jeder Sitzung
des Kriegskomitees vorgebracht werden. Gutschkow hat neulich im Zentral¬
komitee schon einen schweren Stand gehabt, vorläufig gibt es noch den Aus¬
weg, daß man sich „im Prinzip sympathisch" den Forderungen der Arbeiter
gegenüberstellt und sie im übrigen an dieselbe Negierung verweist, gegen die
sie vorgehen wollen. Aber mit der Zeit werden diese Forderungen größeres
Gewicht erhalten, — wenn erst die ganze geschlossene Organisation hinter den
Fordernden steht. Und auch die bürgerlichen Mitglieder der Komitees werden
angesteckt werden. Schon jetzt hat sich das Gutschkowsche Zentralkomitee unter
dem Eindruck dieser Verhandlungen auf das rein politische Gebiet begeben und
sich mit einer Resolution, die von der Zensur unterdrückt wurde, über die
Notwendigkeit der baldigen Einberufung der Duma ausgesprochen.

Inzwischen hat Herr Chwostow eine Enquete über Lage und Stimmung
der Provinz veranstalten lassen. Die Ergebnisse liegen dem Ministerrat vor. Die
nächsten Wochen werden uns zeigen, welche Folgerungen die Regierung aus
diesen Feststellungen der Gouverneure zieht.

Denn das Dorf ist auch für den Russen in der Hauptstadt ein Rätsel, —
ein Rätsel, von dem die Regierung garnicht wünscht, daß es geraten wird.
Bark hat versucht in seiner großen Denkschrift über die russische Wirtschaft, in
der alles rosa in rosenrot gemalt ist, die Lage des Dorfes als glänzend hin¬
zustellen. Die Ernte 1914 sei gut realisiert worden. — Aber über die Ernte
von 1915 schweigt er sich aus. Eingeweihte Leute finden das bezeichnend
und „Rußkoje Slowo" hat noch neulich folgendes gesagt:


„Wir alle wissen, welche Periode unsinnigster Lebensmittelteuerung
die Bevölkerung fast aller großen Städte Rußlands zurzeit durchlebt.
Zugegeben, daß diese Teuerung in beträchtlichem Maße von der Des¬
organisation unseres Verkehrswesens abhängt, wir müssen aber immer¬
hin mit der Tatsache rechnen, daß letzten Endes die Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/148>, abgerufen am 15.01.2025.