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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Der neue Sohn des Kimmels

macht die Männer landflüchtig und verdirbt die Frauen. Die Kriege und
Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte haben dem Lande wohl an hundert
Millionen Menschenleben gekostet. Sie haben ganze Provinzen verwüstet, große
Städte in Schutt und Asche gelegt. Ich habe solche Städte in Trümmern, die
aus der furchtbaren Zeit des Aufstandes der "langhaarigen Rebellen" gegen
die herrschende Dynastie Mitte des vorigen Jahrhunderts stammten, noch zahl¬
reich vor einem Jahrzehnt im Innern des Reiches durchritten. Keine Menschen¬
seele beherbergten die zerfallenen Mauern, sogar die Ratten und Mäuse hatten
die Ruinenstätten verlassen. Dort war nichts mehr zu holen. Wo einst Zehn¬
tausende von fleißigen Menschen für ihr tägliches Brot schafften und arbeiteten,
da schleicht heute der Fuchs und balgen sich ein paar Krähen. Das ist alles,
was geblieben ist.

Schon damals sagte das Volk: "Der Himmel zürnt, der Himmel entzieht
unseren Herrschern das Mandat." Schon damals glaubte man fest und sicher,
daß die Zeit einer neuen Dynastie gekommen sei. Die Chinesen hatten wohl
recht, aber sie rechneten nicht mit den Fremden, die bereits ein großes Interesse
am chinesischen Reiche hatten, im Besonderen den Engländern, denen ein
schwaches China willkommen war. Die Fremden halfen der Dynastie den
Aufstand niederschlagen, und ein englischer General, der bekannte Taiping Gordon,
der später in Khartum von den Anhängern des Mahdi erschlagen wurde, machte
sich zu ihrem Werkzeug. Wo England damals schon hinkam, brachte es Nieder¬
gang und Elend über die Völker, und nutzte sie in seinem grenzenlosen
Egoismus zu seinem eigenen wirtschaftlichen Vorteil aus.

Der letzte große Kaiser der vergangenen Dynastie, welche die Führer der
im 17. Jahrhundert aus dem Norden gekommenen Reiterhorden der Mandschus
begründet hatten, war der Kaiser Kienlung. Dessen Hauptregierungszeit und
glanzvollste Periode war etwa identisch mit derjenigen Friedrichs des Großen.
Seit dieser wirklich große Herrscher Chinas, -- der von seiner höheren Mission
und dem ihm vom Himmel gewordenen Auftrage, über das Volk zu herrschen,
mindestens ebenso überzeugt war, wie z. B. ein Ludwig der Vierzehnte, --
Ende des 13. Jahrhunderts gestorben war, setzte der Niedergang der Dynastie ein.
Es war merkwürdig, das Herrscherhaus schien entnervt und nicht mehr fähig,
einen kraftvollen Mann hervorzubringen. Ein schwacher Herrscher folgte dem
anderen, und das Land litt darunter. Dieses einst so mächtige Reich, vielleicht
seiner Zeit das mächtigste dieser Erde, dessen Kaiser über nahezu ganz Asien
gebot, schien rettungslos dem Niedergang geweiht. Wieder wurde es, wie schon
so oft in seinem Jahrtausende währenden Dasein als Monarchie, langsam aber
sicher die Beute der von außen von allen Seiten anstürmenden Barbaren.
Denn Barbaren nach chinesischen Begriffen waren sie alle, die da zu Schiff, zu
Roß und zu Fuß kamen, um sich ein Stück aus dem Körper Chinas heraus¬
zuschreiben, oder um eine bekannte chinesische Redensart zu gebrauchen, "um
die Melone zu zerteilen".


Der neue Sohn des Kimmels

macht die Männer landflüchtig und verdirbt die Frauen. Die Kriege und
Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte haben dem Lande wohl an hundert
Millionen Menschenleben gekostet. Sie haben ganze Provinzen verwüstet, große
Städte in Schutt und Asche gelegt. Ich habe solche Städte in Trümmern, die
aus der furchtbaren Zeit des Aufstandes der „langhaarigen Rebellen" gegen
die herrschende Dynastie Mitte des vorigen Jahrhunderts stammten, noch zahl¬
reich vor einem Jahrzehnt im Innern des Reiches durchritten. Keine Menschen¬
seele beherbergten die zerfallenen Mauern, sogar die Ratten und Mäuse hatten
die Ruinenstätten verlassen. Dort war nichts mehr zu holen. Wo einst Zehn¬
tausende von fleißigen Menschen für ihr tägliches Brot schafften und arbeiteten,
da schleicht heute der Fuchs und balgen sich ein paar Krähen. Das ist alles,
was geblieben ist.

Schon damals sagte das Volk: „Der Himmel zürnt, der Himmel entzieht
unseren Herrschern das Mandat." Schon damals glaubte man fest und sicher,
daß die Zeit einer neuen Dynastie gekommen sei. Die Chinesen hatten wohl
recht, aber sie rechneten nicht mit den Fremden, die bereits ein großes Interesse
am chinesischen Reiche hatten, im Besonderen den Engländern, denen ein
schwaches China willkommen war. Die Fremden halfen der Dynastie den
Aufstand niederschlagen, und ein englischer General, der bekannte Taiping Gordon,
der später in Khartum von den Anhängern des Mahdi erschlagen wurde, machte
sich zu ihrem Werkzeug. Wo England damals schon hinkam, brachte es Nieder¬
gang und Elend über die Völker, und nutzte sie in seinem grenzenlosen
Egoismus zu seinem eigenen wirtschaftlichen Vorteil aus.

Der letzte große Kaiser der vergangenen Dynastie, welche die Führer der
im 17. Jahrhundert aus dem Norden gekommenen Reiterhorden der Mandschus
begründet hatten, war der Kaiser Kienlung. Dessen Hauptregierungszeit und
glanzvollste Periode war etwa identisch mit derjenigen Friedrichs des Großen.
Seit dieser wirklich große Herrscher Chinas, — der von seiner höheren Mission
und dem ihm vom Himmel gewordenen Auftrage, über das Volk zu herrschen,
mindestens ebenso überzeugt war, wie z. B. ein Ludwig der Vierzehnte, —
Ende des 13. Jahrhunderts gestorben war, setzte der Niedergang der Dynastie ein.
Es war merkwürdig, das Herrscherhaus schien entnervt und nicht mehr fähig,
einen kraftvollen Mann hervorzubringen. Ein schwacher Herrscher folgte dem
anderen, und das Land litt darunter. Dieses einst so mächtige Reich, vielleicht
seiner Zeit das mächtigste dieser Erde, dessen Kaiser über nahezu ganz Asien
gebot, schien rettungslos dem Niedergang geweiht. Wieder wurde es, wie schon
so oft in seinem Jahrtausende währenden Dasein als Monarchie, langsam aber
sicher die Beute der von außen von allen Seiten anstürmenden Barbaren.
Denn Barbaren nach chinesischen Begriffen waren sie alle, die da zu Schiff, zu
Roß und zu Fuß kamen, um sich ein Stück aus dem Körper Chinas heraus¬
zuschreiben, oder um eine bekannte chinesische Redensart zu gebrauchen, „um
die Melone zu zerteilen".


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/114>, abgerufen am 15.01.2025.