Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland sich der schweizerische Unabhängigkeitssinn aufs Äußerste. Es wäre der erste Es ist verständlich, daß die internationale Friedensbewegung in der Schweiz Ein gewisser Stimmungsgegensatz gegen Deutschland pflegt in den demo¬ Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland sich der schweizerische Unabhängigkeitssinn aufs Äußerste. Es wäre der erste Es ist verständlich, daß die internationale Friedensbewegung in der Schweiz Ein gewisser Stimmungsgegensatz gegen Deutschland pflegt in den demo¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0102" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329768"/> <fw type="header" place="top"> Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland</fw><lb/> <p xml:id="ID_261" prev="#ID_260"> sich der schweizerische Unabhängigkeitssinn aufs Äußerste. Es wäre der erste<lb/> Schritt zur Aufgabe der Neutralität, wenn die Schweiz mit einem auch noch so be¬<lb/> freundeten und stammverwandten Volk in eine engere Gemeinschaft treten wollte.<lb/> Die allgemeine Volksabstimmung, die den letzten Entscheid über jedes Gesetz zu<lb/> treffen hat, würde wahrscheinlich ein derartiges Gesetz verwerfen. Wenn da¬<lb/> gegen ein solcher Wirtschaftsbund mindestens Frankreich oder auch Frankreich<lb/> und Italien umfassen könnte, läge die Sache ganz anders. Dann würde die<lb/> Schweiz einem solchen Bunde beizutreten gewillt sein. Gaudenz von Planta<lb/> vertritt in seiner kleinen Schrift „Die Schweiz im Staatenbunde", Chur 1915,<lb/> sogar den Gedanken eines europäischen Staatenbundes, eines Zusammenschlusses<lb/> Europas mit Ausschluß des wesentlich asiatischen Rußlands, um die europäische<lb/> Kultur gegen die allmählich herannahende gelbe Gefahr zu schützen.</p><lb/> <p xml:id="ID_262"> Es ist verständlich, daß die internationale Friedensbewegung in der Schweiz<lb/> besonders viele Anhänger hat. Ihre Neutralität würde am besten dadurch<lb/> geschützt werden, wenn sämtliche anderen Staaten um die Schweiz herum sich<lb/> verpflichteten, ihre Streitigkeiten durch friedliche Abmachungen beizulegen. Die<lb/> Schwierigkeiten, die dem entgegenstehen, werden meist unterschätzt. Die kindliche<lb/> Meinung ist weit verbreitet, mit ein wenig gutem Willen und Gerechtigkeits¬<lb/> gefühl ließen sich die nationalen Konflikte lösen. Einen solchen naiven Stand¬<lb/> punkt vertreten z. B. die Broschüren von Dr. Johannes Erni, „Die europäische<lb/> Union als Bedingung und Grundlage des dauernden Friedens", Zürich 1915<lb/> und „Vorschläge zu einem baldigen und dauernden Frieden", Basel 1915.<lb/> Der Verfasser teilt von seiner Studierstube aus die Welt unter die streitenden<lb/> Parteien, überweist Konstantinopel an Bulgarien usw. und glaubt wahrscheinlich,<lb/> daß sein Gerechtigkeitsgefühl von allen Vernünftigen geteilt werden müsse.<lb/> Ebenso hat er bereits 35 Paragraphen für eine Verfassung der europäischen<lb/> Union bereit, die ihren Sitz in Bern haben müsse, da dies das Zentrum<lb/> Europas sei. Ich würde solche Phantasten nicht anführen, wenn sie nicht die<lb/> Stimmung weiter Kreise wiedergäben. Ernsthafter ist die vom „Schweizerischen<lb/> Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauerhaften Friedensvertrages"<lb/> herausgegebene Denkschrift über „Die Grundlagen eines dauerhaften Friedens¬<lb/> vertrages", Otter 1915. Sie erwägt gleichfalls die Möglichkeit eines europäischen<lb/> Staatenbundes und macht im übrigen allerlei Vorschläge zur Herstellung inter¬<lb/> nationaler Rechtsordnungen und eines Schiedsgerichts. Das treibende Interesse<lb/> ist dabei immer, die Integrität der Schweiz, die bereits bisher auf dem guten<lb/> Willen der benachbarten Großmächte ruht, durch eine internationale Rechts¬<lb/> ordnung endgültig sicher zu stellen.</p><lb/> <p xml:id="ID_263" next="#ID_264"> Ein gewisser Stimmungsgegensatz gegen Deutschland pflegt in den demo¬<lb/> kratischen Einrichtungen der Schweiz zu' liegen. Diese sind gegenüber den<lb/> früheren aristokratischen Kantonsverfassungen 1848 nach dem die Schweiz zer-<lb/> klüftenden Sonderbundkrieg durchgeführt, 1874 revidiert und haben sich im Ganzen<lb/> so bewährt, daß der Schweizer seine Verfassung für die beste auf der Erde</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0102]
Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland
sich der schweizerische Unabhängigkeitssinn aufs Äußerste. Es wäre der erste
Schritt zur Aufgabe der Neutralität, wenn die Schweiz mit einem auch noch so be¬
freundeten und stammverwandten Volk in eine engere Gemeinschaft treten wollte.
Die allgemeine Volksabstimmung, die den letzten Entscheid über jedes Gesetz zu
treffen hat, würde wahrscheinlich ein derartiges Gesetz verwerfen. Wenn da¬
gegen ein solcher Wirtschaftsbund mindestens Frankreich oder auch Frankreich
und Italien umfassen könnte, läge die Sache ganz anders. Dann würde die
Schweiz einem solchen Bunde beizutreten gewillt sein. Gaudenz von Planta
vertritt in seiner kleinen Schrift „Die Schweiz im Staatenbunde", Chur 1915,
sogar den Gedanken eines europäischen Staatenbundes, eines Zusammenschlusses
Europas mit Ausschluß des wesentlich asiatischen Rußlands, um die europäische
Kultur gegen die allmählich herannahende gelbe Gefahr zu schützen.
Es ist verständlich, daß die internationale Friedensbewegung in der Schweiz
besonders viele Anhänger hat. Ihre Neutralität würde am besten dadurch
geschützt werden, wenn sämtliche anderen Staaten um die Schweiz herum sich
verpflichteten, ihre Streitigkeiten durch friedliche Abmachungen beizulegen. Die
Schwierigkeiten, die dem entgegenstehen, werden meist unterschätzt. Die kindliche
Meinung ist weit verbreitet, mit ein wenig gutem Willen und Gerechtigkeits¬
gefühl ließen sich die nationalen Konflikte lösen. Einen solchen naiven Stand¬
punkt vertreten z. B. die Broschüren von Dr. Johannes Erni, „Die europäische
Union als Bedingung und Grundlage des dauernden Friedens", Zürich 1915
und „Vorschläge zu einem baldigen und dauernden Frieden", Basel 1915.
Der Verfasser teilt von seiner Studierstube aus die Welt unter die streitenden
Parteien, überweist Konstantinopel an Bulgarien usw. und glaubt wahrscheinlich,
daß sein Gerechtigkeitsgefühl von allen Vernünftigen geteilt werden müsse.
Ebenso hat er bereits 35 Paragraphen für eine Verfassung der europäischen
Union bereit, die ihren Sitz in Bern haben müsse, da dies das Zentrum
Europas sei. Ich würde solche Phantasten nicht anführen, wenn sie nicht die
Stimmung weiter Kreise wiedergäben. Ernsthafter ist die vom „Schweizerischen
Komitee zum Studium der Grundlagen eines dauerhaften Friedensvertrages"
herausgegebene Denkschrift über „Die Grundlagen eines dauerhaften Friedens¬
vertrages", Otter 1915. Sie erwägt gleichfalls die Möglichkeit eines europäischen
Staatenbundes und macht im übrigen allerlei Vorschläge zur Herstellung inter¬
nationaler Rechtsordnungen und eines Schiedsgerichts. Das treibende Interesse
ist dabei immer, die Integrität der Schweiz, die bereits bisher auf dem guten
Willen der benachbarten Großmächte ruht, durch eine internationale Rechts¬
ordnung endgültig sicher zu stellen.
Ein gewisser Stimmungsgegensatz gegen Deutschland pflegt in den demo¬
kratischen Einrichtungen der Schweiz zu' liegen. Diese sind gegenüber den
früheren aristokratischen Kantonsverfassungen 1848 nach dem die Schweiz zer-
klüftenden Sonderbundkrieg durchgeführt, 1874 revidiert und haben sich im Ganzen
so bewährt, daß der Schweizer seine Verfassung für die beste auf der Erde
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