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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr.

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Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

hätte am liebsten den gesamten Handel der Schweiz durch englische Beamte
kontrollieren lassen, ferner die Entfernung der vielen in schweizerischen Betrieben
angestellten deutschen und österreichischen Beamten und Arbeiter verlangt. Wer
der Schweizer Unabhängigkeitssinn hat sich erfolgreich gegen demütigende Be¬
dingungen gewehrt. Der Schweizer Einfuhrtrust, der durch Zusammenschluß
der meisten einführenden und ausführenden Firmen gebildet ist, küßt durch
Schweizer Bürger die Durchführung der Verpflichtungen kontrollieren, auf die
die einzelnen Firmen bezüglich des Exportes von Waren eingegangen sind.
Aber die Klagen der schweizerischen Industriellen über das mangelhafte
Funktionieren des Einfuhrtrustes mehren sich. Eine eidliche Versicherung, daß
die Waren nicht zur Durchfuhr nach dem Feindesland bestimmt sind, wird
verlangt. Ferner verlangen die ausländischen Firmen in Frankreich und Italien
meist Vorausbezahlung. Und wenn diese geleistet ist, kann der Besteller oft
Monate lang auf die Lieferung warten. Alle Reklamationen führen nicht zum
Ziel, sei es, daß der Lieferant inzwischen seine Ware zu teurerem Preise
anderswo verkauft hat, oder daß die Ware in irgend einem Lagerhause liegt
und wegen Mangels an Eisenbahnwagen verkommt. Ja, der Verdacht ist bereits
aufgekommen: der ganze Einfuhrtrust führe eher zu einer Schädigung der
Industrie, wenn die einzelnen Firmen nachweisen müssen, wieviel Rohstoff sie
in normalen Zeiten bezogen haben. Manche Geschäftsgeheimnisse werden so
verraten und können zur Stärkung der ausländischen Konkurrenz benutzt werden.
So äußert sich starker Unwille über die gewaltige Störung der Industrie durch
den Weltkrieg. Es ist z. B. fraglich, ob die Bandfabriken und Stickereien die
nötige Baumwolle erhalten werden. Das Ausbleiben der Zufuhr würde mit
einem Schlage viele Fabriken still legen und Zehntausende von Arbeitern
brotlos machen.

Es ist nicht zu leugnen, daß in industriellen und kaufmännischen Kreisen
der Schweiz die Meinung herrscht: für die Schweizer Industrie wäre es das
Beste, wenn durch den Krieg keine wesentliche Verschiebung des europäischen
Gleichgewichts eintritt. Von der Konkurrenz Frankreichs fürchtet man nichts,
da Frankreich mit seiner nicht mehr wachsenden Einwohnerzahl seine Industrie
nicht ausdehnen kann. Von einem siegenden Deutschland dagegen fürchten
manche Schweizer, daß seine Konkurrenz der Schweizer Industrie gefährlich sein
werde. Daher haben manche Schweizer es offen ausgesprochen, ihre Sympathieen
ständen stets auf der Seite des Unterliegenden. Besonders wirkt der Gedanke
wie ein Schreckgespenst: im Gefolge des Sieges Deutschlands würde eine mittel¬
europäische Wirtschaftsvereinigung die Zentralmächte samt den um sie herum¬
gelagerten kleinen und mittleren Staaten vereinigen. Die Schweiz würde
schwerlich geneigt sein, einer solchen wirtschaftlichen Vereinigung sich anzuschließen,
in welchen Formen sie auch immer zustande käme. Sie würde in ängstlicher
Sorge um ihre Unabhängigkeit den Verdacht hegen, die Wirtschaftsvereinigung
könnte eine politische Verbindung vorbereiten wollen. Und hiergegen sträubt


Die Stellung der neutralen Schweiz zu Deutschland

hätte am liebsten den gesamten Handel der Schweiz durch englische Beamte
kontrollieren lassen, ferner die Entfernung der vielen in schweizerischen Betrieben
angestellten deutschen und österreichischen Beamten und Arbeiter verlangt. Wer
der Schweizer Unabhängigkeitssinn hat sich erfolgreich gegen demütigende Be¬
dingungen gewehrt. Der Schweizer Einfuhrtrust, der durch Zusammenschluß
der meisten einführenden und ausführenden Firmen gebildet ist, küßt durch
Schweizer Bürger die Durchführung der Verpflichtungen kontrollieren, auf die
die einzelnen Firmen bezüglich des Exportes von Waren eingegangen sind.
Aber die Klagen der schweizerischen Industriellen über das mangelhafte
Funktionieren des Einfuhrtrustes mehren sich. Eine eidliche Versicherung, daß
die Waren nicht zur Durchfuhr nach dem Feindesland bestimmt sind, wird
verlangt. Ferner verlangen die ausländischen Firmen in Frankreich und Italien
meist Vorausbezahlung. Und wenn diese geleistet ist, kann der Besteller oft
Monate lang auf die Lieferung warten. Alle Reklamationen führen nicht zum
Ziel, sei es, daß der Lieferant inzwischen seine Ware zu teurerem Preise
anderswo verkauft hat, oder daß die Ware in irgend einem Lagerhause liegt
und wegen Mangels an Eisenbahnwagen verkommt. Ja, der Verdacht ist bereits
aufgekommen: der ganze Einfuhrtrust führe eher zu einer Schädigung der
Industrie, wenn die einzelnen Firmen nachweisen müssen, wieviel Rohstoff sie
in normalen Zeiten bezogen haben. Manche Geschäftsgeheimnisse werden so
verraten und können zur Stärkung der ausländischen Konkurrenz benutzt werden.
So äußert sich starker Unwille über die gewaltige Störung der Industrie durch
den Weltkrieg. Es ist z. B. fraglich, ob die Bandfabriken und Stickereien die
nötige Baumwolle erhalten werden. Das Ausbleiben der Zufuhr würde mit
einem Schlage viele Fabriken still legen und Zehntausende von Arbeitern
brotlos machen.

Es ist nicht zu leugnen, daß in industriellen und kaufmännischen Kreisen
der Schweiz die Meinung herrscht: für die Schweizer Industrie wäre es das
Beste, wenn durch den Krieg keine wesentliche Verschiebung des europäischen
Gleichgewichts eintritt. Von der Konkurrenz Frankreichs fürchtet man nichts,
da Frankreich mit seiner nicht mehr wachsenden Einwohnerzahl seine Industrie
nicht ausdehnen kann. Von einem siegenden Deutschland dagegen fürchten
manche Schweizer, daß seine Konkurrenz der Schweizer Industrie gefährlich sein
werde. Daher haben manche Schweizer es offen ausgesprochen, ihre Sympathieen
ständen stets auf der Seite des Unterliegenden. Besonders wirkt der Gedanke
wie ein Schreckgespenst: im Gefolge des Sieges Deutschlands würde eine mittel¬
europäische Wirtschaftsvereinigung die Zentralmächte samt den um sie herum¬
gelagerten kleinen und mittleren Staaten vereinigen. Die Schweiz würde
schwerlich geneigt sein, einer solchen wirtschaftlichen Vereinigung sich anzuschließen,
in welchen Formen sie auch immer zustande käme. Sie würde in ängstlicher
Sorge um ihre Unabhängigkeit den Verdacht hegen, die Wirtschaftsvereinigung
könnte eine politische Verbindung vorbereiten wollen. Und hiergegen sträubt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_329665/101>, abgerufen am 15.01.2025.