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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

Brite nicht verkürzen läßt. Es fällt ihm aber gar nicht ein, fich weiter in den
Zusammenhang der Dinge hineinzudenken und fich direkt für den Staat zu
interessieren. Darum Streikt er ruhig, wenn er es den Arbeitgebern gegenüber
für richtig hält, unbekümmert darum, ob er dem Staat zur Kriegszeit Ver¬
legenheiten bereitet. Von einer solchen Arbeiterschaft, die nationales Selbst¬
gefühl, aber keinen Patriotismus in unserem Sinne hat, kann man nicht er¬
warten, daß sie geneigt ist, eine Verpflichtung gegen den Staat zu übernehmen,
die zunächst eine Schädigung des ganzen Wirtschaftslebens zur Folge haben
würde. Was in dieser Richtung geschehen konnte, das haben weitere Kreise
der englischen Arbeitgeber getan, indem sie auf Grund ihrer weiterreichenden
politischen Einsicht der Allgemeinheit ein Opfer brachten und freiwillig die
wirtschaftlichen Schädigungen übernahmen, die sie ertragen konnten. Sie ent¬
ließen eine möglichst große Zahl von Arbeitern, um dadurch eine größere Zahl
von Arbeitslosen künstlich zu schaffen, die dann keinen anderen Ausweg wußten
als das Werbebureau. Überschätzen darf man freilich dieses Opfer der Arbeit¬
geber nicht, denn es handelte sich wohl meist um Geschäfte, die ohnehin durch
den Krieg zu Einschränkungen gezwungen waren. Es ist jedoch nicht zu
bezweifeln, daß die Arbeiter gerade durch diese Erfahrungen abgeschreckt und
noch mehr gegen die allgemeine Wehrpflicht eingenommen worden sind.

Sehr bezeichnend ist, daß Lloyd George, der vorher in beredten, leiden¬
schaftlichen Worten die gebildeten Kreise Englands für den Gedanken der all¬
gemeinen Wehrpflicht zu begeistern versucht hatte, auf dem großen Gewerk¬
schaftskongreß in Bristol, den er besuchte, nicht wagte, in der gleichen
Weise zu den Arbeitern zu sprechen. Er machte es wie ein kluger Bereiter,
der das Pferd, das nicht springen will, vorsichtig an das Hindernis heranführt.
Deshalb wurde von der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt nicht gesprochen,
sondern nur von der Verpflichtung, den Staat in der durch den Krieg ge¬
schaffenen Notlage durch Arbeit für die Allgemeinheit zu unterstützen, sowie
von der Notwendigkeit, diese Verpflichtung gesetzlich festzulegen. Einen vollen
Erfolg auch in dieser Beziehung brachte der Gewerkschaftskongreß nicht, aber
die Gewandtheit von Mr. Lloyd George wußte doch den Eindruck zu erzielen,
daß er für dieses Vorstudium der allgemeinen Wehrpflicht die Arbeiterschaft
hinter sich habe. Denn es war am Tage vorher eine Entschließung an¬
genommen worden, die sich fast einstimmig -- es waren in der großen Ver¬
sammlung nur sieben Stimmen dagegen -- für die Fortführung des Krieges
aussprach. In den Köpfen der englischen Arbeiter treibt die Furcht ihr Wesen,
daß gerade die Niederlage ihnen die allgemeine Wehrpflicht bringen werde.
Sie stehen durchaus nicht auf dem Standpunkt, daß die Not ihres Vaterlandes
vielleicht eines Tages eine Gestalt gewinnen könne, die auch dieses Opfer
selbstverständlich erscheinen lassen würde, sondern sie wollen den Sieg Englands,
weil sie darin die Sicherheit für das Fortbestehen der ihnen bequemen Frei¬
heiten sehen.


Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

Brite nicht verkürzen läßt. Es fällt ihm aber gar nicht ein, fich weiter in den
Zusammenhang der Dinge hineinzudenken und fich direkt für den Staat zu
interessieren. Darum Streikt er ruhig, wenn er es den Arbeitgebern gegenüber
für richtig hält, unbekümmert darum, ob er dem Staat zur Kriegszeit Ver¬
legenheiten bereitet. Von einer solchen Arbeiterschaft, die nationales Selbst¬
gefühl, aber keinen Patriotismus in unserem Sinne hat, kann man nicht er¬
warten, daß sie geneigt ist, eine Verpflichtung gegen den Staat zu übernehmen,
die zunächst eine Schädigung des ganzen Wirtschaftslebens zur Folge haben
würde. Was in dieser Richtung geschehen konnte, das haben weitere Kreise
der englischen Arbeitgeber getan, indem sie auf Grund ihrer weiterreichenden
politischen Einsicht der Allgemeinheit ein Opfer brachten und freiwillig die
wirtschaftlichen Schädigungen übernahmen, die sie ertragen konnten. Sie ent¬
ließen eine möglichst große Zahl von Arbeitern, um dadurch eine größere Zahl
von Arbeitslosen künstlich zu schaffen, die dann keinen anderen Ausweg wußten
als das Werbebureau. Überschätzen darf man freilich dieses Opfer der Arbeit¬
geber nicht, denn es handelte sich wohl meist um Geschäfte, die ohnehin durch
den Krieg zu Einschränkungen gezwungen waren. Es ist jedoch nicht zu
bezweifeln, daß die Arbeiter gerade durch diese Erfahrungen abgeschreckt und
noch mehr gegen die allgemeine Wehrpflicht eingenommen worden sind.

Sehr bezeichnend ist, daß Lloyd George, der vorher in beredten, leiden¬
schaftlichen Worten die gebildeten Kreise Englands für den Gedanken der all¬
gemeinen Wehrpflicht zu begeistern versucht hatte, auf dem großen Gewerk¬
schaftskongreß in Bristol, den er besuchte, nicht wagte, in der gleichen
Weise zu den Arbeitern zu sprechen. Er machte es wie ein kluger Bereiter,
der das Pferd, das nicht springen will, vorsichtig an das Hindernis heranführt.
Deshalb wurde von der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt nicht gesprochen,
sondern nur von der Verpflichtung, den Staat in der durch den Krieg ge¬
schaffenen Notlage durch Arbeit für die Allgemeinheit zu unterstützen, sowie
von der Notwendigkeit, diese Verpflichtung gesetzlich festzulegen. Einen vollen
Erfolg auch in dieser Beziehung brachte der Gewerkschaftskongreß nicht, aber
die Gewandtheit von Mr. Lloyd George wußte doch den Eindruck zu erzielen,
daß er für dieses Vorstudium der allgemeinen Wehrpflicht die Arbeiterschaft
hinter sich habe. Denn es war am Tage vorher eine Entschließung an¬
genommen worden, die sich fast einstimmig — es waren in der großen Ver¬
sammlung nur sieben Stimmen dagegen — für die Fortführung des Krieges
aussprach. In den Köpfen der englischen Arbeiter treibt die Furcht ihr Wesen,
daß gerade die Niederlage ihnen die allgemeine Wehrpflicht bringen werde.
Sie stehen durchaus nicht auf dem Standpunkt, daß die Not ihres Vaterlandes
vielleicht eines Tages eine Gestalt gewinnen könne, die auch dieses Opfer
selbstverständlich erscheinen lassen würde, sondern sie wollen den Sieg Englands,
weil sie darin die Sicherheit für das Fortbestehen der ihnen bequemen Frei¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/82>, abgerufen am 22.07.2024.