Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

zutauschen, was wieder für die Einzelpersönlichkeit von hohem Wert ist, das ist
der Boden, auf dem die allgemeine Wehrpflicht gedeiht. Denn sie ist hier nur
die logische Durchführung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen und dem
Staat, eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhältnisses, in dem das Recht
des Staates auf Existenz und Willensbetätigung als Grundlage der Wohlfahrt
des einzelnen anerkannt ist. England kennt eine Staatsidee in diesem Sinne
nicht. Was als Staatsform in England erscheint, ist nur das durch Herkommen
und Erfahrung ausgestattete Organ einer Gesellschaft, die nur die natürlich
gewachsene Vereinigung unzähliger Einzelinteressen ist. Jahrhundertelange Ge¬
wöhnung hat diese Einzelinteressen überall an die erste Stelle gebracht. Jeder
erhebt den Anspruch, in dem, was er für sich zu tun beliebt, so wenig wie
irgend möglich eingeschränkt zu sein. Wenn diese Einzelinteressen trotzdem nicht
auseinander laufen, sondern in ihrer Gesamterscheinung merkwürdig gleich¬
gerichtet sind, so hängt das mit der Natur des Landes und dem Charakter des
Volkes zusammen. Dadurch ist im Laufe der Geschichte Englands den zentri¬
fugalen Kräften in der englischen Gesellschaft ein Gegengewicht gegeben worden,
das sich in der Starrheit der Sitten, in dem vielberufenen "eaut" und ver¬
wandten Erscheinungen äußert. Vor allem aber ist es der nationale Dünkel
und der als Summe so vieler gleichgerichteter egoistischen Interessen unendlich
gesteigerte Machtwille der englischen Gesellschaft, der im gesamten politischen
Wirken ein Auseinanderfallen verhütet. Was für ein Unterschied gegen einen
Staatsbegriff, der auf einem sorgfältig durchdachten Zusammenwirken sich
ineinander fügender Einzelkräfte beruht!

Hiernach muß man sich fragen: was soll dieser englischen Gesellschaft eine
Einrichtung wie die allgemeine Wehrpflicht, deren geistige Grundlage die
Zurückstellung des Einzelinteresses gegenüber dem Staatsbegriff ist? Es fehlt
ja jede Voraussetzung dafür; es fehlen auch alle die Möglichkeiten, die den
gleichen Staatsbegriff auch auf anderen Gebieten zum Ausdruck bringen und
dadurch einen Ausgleich für die unvermeidliche Kräfteverschiebung in der
Volkswirtschaft schaffen.

Wenn man über die hier gegebenen Andeutungen näher nachdenkt, so wird
man verstehen, daß das englische Nationalgefühl sich keineswegs mit dem deckt,
was wir dabei als beinahe selbstverständlich vorauszusetzen geneigt sind. Es
fehlt ihm jede Beimischung dessen, was wir Staatsgefühl nennen. Der Engländer
wünscht und erwartet, daß er in seinem Lande das beste finde, was ein
vernünftiger Egoismus für sich verlangen kann. Dazu ist notwendig, daß
England blüht und gedeiht, vor allem aber die ganze übrige Welt beherrscht
und seinen Wünschen unterordnet. Dafür müssen diejenigen sorgen, die als
Vertrauensmänner des Volkes die Geschäfte führen. Was nützt ihm dazu eine
Einrichtung, die ihm Opfer zumutet an persönlicher Bequemlichkeit und Erwerbs¬
möglichkeit? Daß er in Steuern und ähnlichen Verpflichtungen an die Allgemein¬
heit zur Bestreitung gewisser gemeinsamer Bedürfnisse beitragen muß, ist ihm


Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

zutauschen, was wieder für die Einzelpersönlichkeit von hohem Wert ist, das ist
der Boden, auf dem die allgemeine Wehrpflicht gedeiht. Denn sie ist hier nur
die logische Durchführung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen und dem
Staat, eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhältnisses, in dem das Recht
des Staates auf Existenz und Willensbetätigung als Grundlage der Wohlfahrt
des einzelnen anerkannt ist. England kennt eine Staatsidee in diesem Sinne
nicht. Was als Staatsform in England erscheint, ist nur das durch Herkommen
und Erfahrung ausgestattete Organ einer Gesellschaft, die nur die natürlich
gewachsene Vereinigung unzähliger Einzelinteressen ist. Jahrhundertelange Ge¬
wöhnung hat diese Einzelinteressen überall an die erste Stelle gebracht. Jeder
erhebt den Anspruch, in dem, was er für sich zu tun beliebt, so wenig wie
irgend möglich eingeschränkt zu sein. Wenn diese Einzelinteressen trotzdem nicht
auseinander laufen, sondern in ihrer Gesamterscheinung merkwürdig gleich¬
gerichtet sind, so hängt das mit der Natur des Landes und dem Charakter des
Volkes zusammen. Dadurch ist im Laufe der Geschichte Englands den zentri¬
fugalen Kräften in der englischen Gesellschaft ein Gegengewicht gegeben worden,
das sich in der Starrheit der Sitten, in dem vielberufenen „eaut" und ver¬
wandten Erscheinungen äußert. Vor allem aber ist es der nationale Dünkel
und der als Summe so vieler gleichgerichteter egoistischen Interessen unendlich
gesteigerte Machtwille der englischen Gesellschaft, der im gesamten politischen
Wirken ein Auseinanderfallen verhütet. Was für ein Unterschied gegen einen
Staatsbegriff, der auf einem sorgfältig durchdachten Zusammenwirken sich
ineinander fügender Einzelkräfte beruht!

Hiernach muß man sich fragen: was soll dieser englischen Gesellschaft eine
Einrichtung wie die allgemeine Wehrpflicht, deren geistige Grundlage die
Zurückstellung des Einzelinteresses gegenüber dem Staatsbegriff ist? Es fehlt
ja jede Voraussetzung dafür; es fehlen auch alle die Möglichkeiten, die den
gleichen Staatsbegriff auch auf anderen Gebieten zum Ausdruck bringen und
dadurch einen Ausgleich für die unvermeidliche Kräfteverschiebung in der
Volkswirtschaft schaffen.

Wenn man über die hier gegebenen Andeutungen näher nachdenkt, so wird
man verstehen, daß das englische Nationalgefühl sich keineswegs mit dem deckt,
was wir dabei als beinahe selbstverständlich vorauszusetzen geneigt sind. Es
fehlt ihm jede Beimischung dessen, was wir Staatsgefühl nennen. Der Engländer
wünscht und erwartet, daß er in seinem Lande das beste finde, was ein
vernünftiger Egoismus für sich verlangen kann. Dazu ist notwendig, daß
England blüht und gedeiht, vor allem aber die ganze übrige Welt beherrscht
und seinen Wünschen unterordnet. Dafür müssen diejenigen sorgen, die als
Vertrauensmänner des Volkes die Geschäfte führen. Was nützt ihm dazu eine
Einrichtung, die ihm Opfer zumutet an persönlicher Bequemlichkeit und Erwerbs¬
möglichkeit? Daß er in Steuern und ähnlichen Verpflichtungen an die Allgemein¬
heit zur Bestreitung gewisser gemeinsamer Bedürfnisse beitragen muß, ist ihm


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0080" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324489"/>
          <fw type="header" place="top"> Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_249" prev="#ID_248"> zutauschen, was wieder für die Einzelpersönlichkeit von hohem Wert ist, das ist<lb/>
der Boden, auf dem die allgemeine Wehrpflicht gedeiht. Denn sie ist hier nur<lb/>
die logische Durchführung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen und dem<lb/>
Staat, eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhältnisses, in dem das Recht<lb/>
des Staates auf Existenz und Willensbetätigung als Grundlage der Wohlfahrt<lb/>
des einzelnen anerkannt ist. England kennt eine Staatsidee in diesem Sinne<lb/>
nicht. Was als Staatsform in England erscheint, ist nur das durch Herkommen<lb/>
und Erfahrung ausgestattete Organ einer Gesellschaft, die nur die natürlich<lb/>
gewachsene Vereinigung unzähliger Einzelinteressen ist. Jahrhundertelange Ge¬<lb/>
wöhnung hat diese Einzelinteressen überall an die erste Stelle gebracht. Jeder<lb/>
erhebt den Anspruch, in dem, was er für sich zu tun beliebt, so wenig wie<lb/>
irgend möglich eingeschränkt zu sein. Wenn diese Einzelinteressen trotzdem nicht<lb/>
auseinander laufen, sondern in ihrer Gesamterscheinung merkwürdig gleich¬<lb/>
gerichtet sind, so hängt das mit der Natur des Landes und dem Charakter des<lb/>
Volkes zusammen. Dadurch ist im Laufe der Geschichte Englands den zentri¬<lb/>
fugalen Kräften in der englischen Gesellschaft ein Gegengewicht gegeben worden,<lb/>
das sich in der Starrheit der Sitten, in dem vielberufenen &#x201E;eaut" und ver¬<lb/>
wandten Erscheinungen äußert. Vor allem aber ist es der nationale Dünkel<lb/>
und der als Summe so vieler gleichgerichteter egoistischen Interessen unendlich<lb/>
gesteigerte Machtwille der englischen Gesellschaft, der im gesamten politischen<lb/>
Wirken ein Auseinanderfallen verhütet. Was für ein Unterschied gegen einen<lb/>
Staatsbegriff, der auf einem sorgfältig durchdachten Zusammenwirken sich<lb/>
ineinander fügender Einzelkräfte beruht!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_250"> Hiernach muß man sich fragen: was soll dieser englischen Gesellschaft eine<lb/>
Einrichtung wie die allgemeine Wehrpflicht, deren geistige Grundlage die<lb/>
Zurückstellung des Einzelinteresses gegenüber dem Staatsbegriff ist? Es fehlt<lb/>
ja jede Voraussetzung dafür; es fehlen auch alle die Möglichkeiten, die den<lb/>
gleichen Staatsbegriff auch auf anderen Gebieten zum Ausdruck bringen und<lb/>
dadurch einen Ausgleich für die unvermeidliche Kräfteverschiebung in der<lb/>
Volkswirtschaft schaffen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_251" next="#ID_252"> Wenn man über die hier gegebenen Andeutungen näher nachdenkt, so wird<lb/>
man verstehen, daß das englische Nationalgefühl sich keineswegs mit dem deckt,<lb/>
was wir dabei als beinahe selbstverständlich vorauszusetzen geneigt sind. Es<lb/>
fehlt ihm jede Beimischung dessen, was wir Staatsgefühl nennen. Der Engländer<lb/>
wünscht und erwartet, daß er in seinem Lande das beste finde, was ein<lb/>
vernünftiger Egoismus für sich verlangen kann. Dazu ist notwendig, daß<lb/>
England blüht und gedeiht, vor allem aber die ganze übrige Welt beherrscht<lb/>
und seinen Wünschen unterordnet. Dafür müssen diejenigen sorgen, die als<lb/>
Vertrauensmänner des Volkes die Geschäfte führen. Was nützt ihm dazu eine<lb/>
Einrichtung, die ihm Opfer zumutet an persönlicher Bequemlichkeit und Erwerbs¬<lb/>
möglichkeit? Daß er in Steuern und ähnlichen Verpflichtungen an die Allgemein¬<lb/>
heit zur Bestreitung gewisser gemeinsamer Bedürfnisse beitragen muß, ist ihm</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0080] Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht zutauschen, was wieder für die Einzelpersönlichkeit von hohem Wert ist, das ist der Boden, auf dem die allgemeine Wehrpflicht gedeiht. Denn sie ist hier nur die logische Durchführung des Verhältnisses zwischen dem einzelnen und dem Staat, eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhältnisses, in dem das Recht des Staates auf Existenz und Willensbetätigung als Grundlage der Wohlfahrt des einzelnen anerkannt ist. England kennt eine Staatsidee in diesem Sinne nicht. Was als Staatsform in England erscheint, ist nur das durch Herkommen und Erfahrung ausgestattete Organ einer Gesellschaft, die nur die natürlich gewachsene Vereinigung unzähliger Einzelinteressen ist. Jahrhundertelange Ge¬ wöhnung hat diese Einzelinteressen überall an die erste Stelle gebracht. Jeder erhebt den Anspruch, in dem, was er für sich zu tun beliebt, so wenig wie irgend möglich eingeschränkt zu sein. Wenn diese Einzelinteressen trotzdem nicht auseinander laufen, sondern in ihrer Gesamterscheinung merkwürdig gleich¬ gerichtet sind, so hängt das mit der Natur des Landes und dem Charakter des Volkes zusammen. Dadurch ist im Laufe der Geschichte Englands den zentri¬ fugalen Kräften in der englischen Gesellschaft ein Gegengewicht gegeben worden, das sich in der Starrheit der Sitten, in dem vielberufenen „eaut" und ver¬ wandten Erscheinungen äußert. Vor allem aber ist es der nationale Dünkel und der als Summe so vieler gleichgerichteter egoistischen Interessen unendlich gesteigerte Machtwille der englischen Gesellschaft, der im gesamten politischen Wirken ein Auseinanderfallen verhütet. Was für ein Unterschied gegen einen Staatsbegriff, der auf einem sorgfältig durchdachten Zusammenwirken sich ineinander fügender Einzelkräfte beruht! Hiernach muß man sich fragen: was soll dieser englischen Gesellschaft eine Einrichtung wie die allgemeine Wehrpflicht, deren geistige Grundlage die Zurückstellung des Einzelinteresses gegenüber dem Staatsbegriff ist? Es fehlt ja jede Voraussetzung dafür; es fehlen auch alle die Möglichkeiten, die den gleichen Staatsbegriff auch auf anderen Gebieten zum Ausdruck bringen und dadurch einen Ausgleich für die unvermeidliche Kräfteverschiebung in der Volkswirtschaft schaffen. Wenn man über die hier gegebenen Andeutungen näher nachdenkt, so wird man verstehen, daß das englische Nationalgefühl sich keineswegs mit dem deckt, was wir dabei als beinahe selbstverständlich vorauszusetzen geneigt sind. Es fehlt ihm jede Beimischung dessen, was wir Staatsgefühl nennen. Der Engländer wünscht und erwartet, daß er in seinem Lande das beste finde, was ein vernünftiger Egoismus für sich verlangen kann. Dazu ist notwendig, daß England blüht und gedeiht, vor allem aber die ganze übrige Welt beherrscht und seinen Wünschen unterordnet. Dafür müssen diejenigen sorgen, die als Vertrauensmänner des Volkes die Geschäfte führen. Was nützt ihm dazu eine Einrichtung, die ihm Opfer zumutet an persönlicher Bequemlichkeit und Erwerbs¬ möglichkeit? Daß er in Steuern und ähnlichen Verpflichtungen an die Allgemein¬ heit zur Bestreitung gewisser gemeinsamer Bedürfnisse beitragen muß, ist ihm

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/80
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/80>, abgerufen am 22.07.2024.