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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

gesunden Knochen werde nicht nur alle Sorgen des Rekrutierungsgeschäftes
verscheuchen, sondern auch das Heer innerlich dem deutschen und österreichisch-
ungarischen Gegner gleichwertig machen. Mit anderen Worten, man betrachtet
in England die allgemeine Wehrpflicht als das große Pflaster, das man gern
über die dem britischen Selbstgefühl geschlagenen Wunden kleben möchte, um
unbehindert weiter schlagen zu können, -- alles mit dem Vorbehalt, nach über-
standenem Kampf sich dieser und anderer Unbequemlichkeiten fröhlich wieder
zu entledigen. Es gibt natürlich viele, die bei dem gegenwärtigen Werbungs¬
geschäft allerlei peinliche Empfindungen haben, nicht etwa moralische, sondern
rein praktische Bedenken. Die Möglichkeit, den ungeheueren, neuen An¬
forderungen an, die Wehrkraft der Nation einigermaßen gerecht zu werden,
beruht doch nun einmal darauf, daß man die vorhandenen Lücken in der
Truppenzahl eingesteht und den jungen Leuten recht laut und vernehmlich ins
Ohr schreit: "Das Vaterland braucht euch!" Es ist nur das unangenehme
dabei, daß die anderen, die es nicht hören sollen, diesen Ruf auch ver¬
nehmen und sich fragen müssen: wie stimmt das eigentlich zu den prahlerischer
amtlichen Versicherungen, wonach es keine Lücken in der Truppenstärke gibt
und England noch viel mehr Mannschaften aufgebracht hat, als ursprünglich
berechnet waren? Wo stecken eigentlich die berühmten drei Millionen des Lord
Kitchener? Sind sie wirklich vorhanden? Und wenn sie vorhanden sind, wes¬
halb beständig diese besorgten und kleinlauten Meldungen über den unbe¬
friedigender Fortgang des Nekrutierungsgeschäfts? Alle diese unbequemen, vor¬
lauten Fragen, dle der patriotische Engländer in sich verschluckt, die aber den
Feind wie den Bundesgenossen in sehr unerwünschter Weise beschäftigen, fallen
natürlich weg, wenn die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wird. Wenn die
junge Mannschaft, die nicht etwa schon freiwillig dient, auf Grund gesetzlicher
Verpflichtung vor den Ersatzbehörden zu erscheinen hat, so kann natürlich
niemand fragen, ob das Geschäft gut oder schlecht geht, und wer dennoch
fragt, braucht keine Antwort zu erhalten.

Damit ist aber auch der augenblickliche Nutzen der allgemeinen Wehr¬
pflicht erschöpft. Die größere Zahl von Rekruten, die sie wohl schaffen könnte,
ist bei einer solchen plötzlichen Einführung in kritischer Zeit mit so außer¬
ordentlichen volkswirtschaftlichen Nachteilen erkauft, daß das heutige England
wohl sehr erstaunte Augen machen würde, wenn es nach geschehener Be¬
glückung mit der neuen Einrichtung zur Selbstbesinnung käme.

Die allgemeine Wehrpflicht kann nicht, wie von Unkundigen fälschlich an¬
genommen wird, von heute zu morgen ein "Volk in Waffen" herstellen. Es
ist ein System, das zur vollen Geltung erst in mindestens zwei Menschenaltern
kommt, nämlich wenn nicht nur der Bedarf des Heeres an Menschen voll¬
ständig sichergestellt ist, sondern auch die erzieherischen und wirtschaftlichen
Wirkungen, die davon ausgehen, von dem ganzen Volksorganismus genügend
verarbeitet sind. Das an der Hand geschichtlicher Tatsachen näher nach-


Die englische Arbeiterschaft und die Wehrpflicht

gesunden Knochen werde nicht nur alle Sorgen des Rekrutierungsgeschäftes
verscheuchen, sondern auch das Heer innerlich dem deutschen und österreichisch-
ungarischen Gegner gleichwertig machen. Mit anderen Worten, man betrachtet
in England die allgemeine Wehrpflicht als das große Pflaster, das man gern
über die dem britischen Selbstgefühl geschlagenen Wunden kleben möchte, um
unbehindert weiter schlagen zu können, — alles mit dem Vorbehalt, nach über-
standenem Kampf sich dieser und anderer Unbequemlichkeiten fröhlich wieder
zu entledigen. Es gibt natürlich viele, die bei dem gegenwärtigen Werbungs¬
geschäft allerlei peinliche Empfindungen haben, nicht etwa moralische, sondern
rein praktische Bedenken. Die Möglichkeit, den ungeheueren, neuen An¬
forderungen an, die Wehrkraft der Nation einigermaßen gerecht zu werden,
beruht doch nun einmal darauf, daß man die vorhandenen Lücken in der
Truppenzahl eingesteht und den jungen Leuten recht laut und vernehmlich ins
Ohr schreit: „Das Vaterland braucht euch!" Es ist nur das unangenehme
dabei, daß die anderen, die es nicht hören sollen, diesen Ruf auch ver¬
nehmen und sich fragen müssen: wie stimmt das eigentlich zu den prahlerischer
amtlichen Versicherungen, wonach es keine Lücken in der Truppenstärke gibt
und England noch viel mehr Mannschaften aufgebracht hat, als ursprünglich
berechnet waren? Wo stecken eigentlich die berühmten drei Millionen des Lord
Kitchener? Sind sie wirklich vorhanden? Und wenn sie vorhanden sind, wes¬
halb beständig diese besorgten und kleinlauten Meldungen über den unbe¬
friedigender Fortgang des Nekrutierungsgeschäfts? Alle diese unbequemen, vor¬
lauten Fragen, dle der patriotische Engländer in sich verschluckt, die aber den
Feind wie den Bundesgenossen in sehr unerwünschter Weise beschäftigen, fallen
natürlich weg, wenn die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wird. Wenn die
junge Mannschaft, die nicht etwa schon freiwillig dient, auf Grund gesetzlicher
Verpflichtung vor den Ersatzbehörden zu erscheinen hat, so kann natürlich
niemand fragen, ob das Geschäft gut oder schlecht geht, und wer dennoch
fragt, braucht keine Antwort zu erhalten.

Damit ist aber auch der augenblickliche Nutzen der allgemeinen Wehr¬
pflicht erschöpft. Die größere Zahl von Rekruten, die sie wohl schaffen könnte,
ist bei einer solchen plötzlichen Einführung in kritischer Zeit mit so außer¬
ordentlichen volkswirtschaftlichen Nachteilen erkauft, daß das heutige England
wohl sehr erstaunte Augen machen würde, wenn es nach geschehener Be¬
glückung mit der neuen Einrichtung zur Selbstbesinnung käme.

Die allgemeine Wehrpflicht kann nicht, wie von Unkundigen fälschlich an¬
genommen wird, von heute zu morgen ein „Volk in Waffen" herstellen. Es
ist ein System, das zur vollen Geltung erst in mindestens zwei Menschenaltern
kommt, nämlich wenn nicht nur der Bedarf des Heeres an Menschen voll¬
ständig sichergestellt ist, sondern auch die erzieherischen und wirtschaftlichen
Wirkungen, die davon ausgehen, von dem ganzen Volksorganismus genügend
verarbeitet sind. Das an der Hand geschichtlicher Tatsachen näher nach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/78>, abgerufen am 22.07.2024.