Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die neue dänische Verfassung

nötigt, etwas zu tun. Er legte eine sogenannte "kleine Verfassungsänderung"
vor, die aber an der Frage der Auflösbarkeit der vom König berufenen Lands-
tingsmitglieder scheiterte.

Das Ministerium Neergaard, das nach der Alberti-Katastrophe eintrat,
legte aufs neue diesen "kleinen Verfassungsänderungsvorschlag" vor, der abermals
aus demselben Grunde strandete.

Das erste radikale Ministerium fand trotz seiner kurzen Lebensdauer (vom
Herbst 1909 bis Frühjahr 1910) Zeit, einen umfassenden Verfassungsänderungs¬
vorschlag auszuarbeiten im Anschluß an sozialistische Auffassungen.

Aber jetzt trat I. C. Christensen im Namen seiner Partei mit seiner Theorie
der zwei Tempi auf den Plan, das heißt, die Verfassungsreform müsse in zwei
Tempi durchgeführt werden. Zuerst müsse man die Machtstellung des Folketings
durch eine bedeutende Erweiterung des Wahlrechts stärken und darauf erst zur
Reform des Landstings schreiten. Dieser Vorschlag war nichts anderes, als
ein kluger politischer Schachzug I. C. Christensens, der sich den Anschein gab,
die Sache zu fördem, in Wirklichkeit aber durch die Art dieses politisch un¬
durchführbaren Vorschlags eine ziemlich zuverlässige Garantie gegen die Durch¬
dringung einer neuen Verfassung schuf.

Diese Garantie sicherte ihm denn auch das Wahlbündnis mit der Rechten,
infolgedessen das radikale Ministerium nach den Wahlen von 1910 weichen mußte.

Darauf folgte die Regierung der "Moderaten Linken" unter dem Ministerium
Claus Berntsen. Dieser gemäßigte grundtvigianische Flügel der Linken, der 1894
den großpolitischen Vergleich mit der Rechten eingegangen war, hinterher aber
um die Früchte des Vergleichs betrogen ward, repräsentiert die idealistisch-
nationalistischen Kreise der ländlichen Volkshochschulen, die breiteste Fühlung
mit den ländlichen Mittelstandsschichten haben, sich aber an politischer Gewandt¬
heit bei weitem nicht mit der "Linken Reformpartei" unter der Führung von
I. C. Christensen messen können. Sie repräsentieren die Gemütsmenschen der
Linken, sind rationalistisch aus Überzeugung und demokratisch aus Idealismus,
während I. C. Christensen beides aus politischer Berechnung ist.

Das Ministerium Claus Berntsen saß mit dem Mandat, die Durchführung
der Landesverteidigung gemäß dem Vergleich von 1909 zu wahren. In diesem
Punkte genoß es das Vertrauen aller landesverteidigungsfreundlichen, natio¬
nalistischen Kreise und wurde deshalb namentlich von der Rechten gestützt.
Nachdem aber dieses Programm durchgeführt war, trat das Ministerium Berntsen
in der Session 1912--1913 ganz unerwartet und zum großen Entsetzen der
Rechten mit einer neuen Verfafsungsreform hervor, die ebensoweit ging, wie
der radikale Vorschlag von 1909 und auf die Demokratisierung des Folketings
sowohl wie des Landstings hinauslief.

Der Vorschlag war eine Überraschung sür die Rechte, die das Ministerium
wahrlich nicht zu diesem Zwecke unterstützt hatte: er ist auch bis heute in seinen
Motiven nicht völlig aufgeklärt. Vielleicht war es politische Taktik nach Gladstones


Die neue dänische Verfassung

nötigt, etwas zu tun. Er legte eine sogenannte „kleine Verfassungsänderung"
vor, die aber an der Frage der Auflösbarkeit der vom König berufenen Lands-
tingsmitglieder scheiterte.

Das Ministerium Neergaard, das nach der Alberti-Katastrophe eintrat,
legte aufs neue diesen „kleinen Verfassungsänderungsvorschlag" vor, der abermals
aus demselben Grunde strandete.

Das erste radikale Ministerium fand trotz seiner kurzen Lebensdauer (vom
Herbst 1909 bis Frühjahr 1910) Zeit, einen umfassenden Verfassungsänderungs¬
vorschlag auszuarbeiten im Anschluß an sozialistische Auffassungen.

Aber jetzt trat I. C. Christensen im Namen seiner Partei mit seiner Theorie
der zwei Tempi auf den Plan, das heißt, die Verfassungsreform müsse in zwei
Tempi durchgeführt werden. Zuerst müsse man die Machtstellung des Folketings
durch eine bedeutende Erweiterung des Wahlrechts stärken und darauf erst zur
Reform des Landstings schreiten. Dieser Vorschlag war nichts anderes, als
ein kluger politischer Schachzug I. C. Christensens, der sich den Anschein gab,
die Sache zu fördem, in Wirklichkeit aber durch die Art dieses politisch un¬
durchführbaren Vorschlags eine ziemlich zuverlässige Garantie gegen die Durch¬
dringung einer neuen Verfassung schuf.

Diese Garantie sicherte ihm denn auch das Wahlbündnis mit der Rechten,
infolgedessen das radikale Ministerium nach den Wahlen von 1910 weichen mußte.

Darauf folgte die Regierung der „Moderaten Linken" unter dem Ministerium
Claus Berntsen. Dieser gemäßigte grundtvigianische Flügel der Linken, der 1894
den großpolitischen Vergleich mit der Rechten eingegangen war, hinterher aber
um die Früchte des Vergleichs betrogen ward, repräsentiert die idealistisch-
nationalistischen Kreise der ländlichen Volkshochschulen, die breiteste Fühlung
mit den ländlichen Mittelstandsschichten haben, sich aber an politischer Gewandt¬
heit bei weitem nicht mit der „Linken Reformpartei" unter der Führung von
I. C. Christensen messen können. Sie repräsentieren die Gemütsmenschen der
Linken, sind rationalistisch aus Überzeugung und demokratisch aus Idealismus,
während I. C. Christensen beides aus politischer Berechnung ist.

Das Ministerium Claus Berntsen saß mit dem Mandat, die Durchführung
der Landesverteidigung gemäß dem Vergleich von 1909 zu wahren. In diesem
Punkte genoß es das Vertrauen aller landesverteidigungsfreundlichen, natio¬
nalistischen Kreise und wurde deshalb namentlich von der Rechten gestützt.
Nachdem aber dieses Programm durchgeführt war, trat das Ministerium Berntsen
in der Session 1912—1913 ganz unerwartet und zum großen Entsetzen der
Rechten mit einer neuen Verfafsungsreform hervor, die ebensoweit ging, wie
der radikale Vorschlag von 1909 und auf die Demokratisierung des Folketings
sowohl wie des Landstings hinauslief.

Der Vorschlag war eine Überraschung sür die Rechte, die das Ministerium
wahrlich nicht zu diesem Zwecke unterstützt hatte: er ist auch bis heute in seinen
Motiven nicht völlig aufgeklärt. Vielleicht war es politische Taktik nach Gladstones


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324463"/>
          <fw type="header" place="top"> Die neue dänische Verfassung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_144" prev="#ID_143"> nötigt, etwas zu tun. Er legte eine sogenannte &#x201E;kleine Verfassungsänderung"<lb/>
vor, die aber an der Frage der Auflösbarkeit der vom König berufenen Lands-<lb/>
tingsmitglieder scheiterte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_145"> Das Ministerium Neergaard, das nach der Alberti-Katastrophe eintrat,<lb/>
legte aufs neue diesen &#x201E;kleinen Verfassungsänderungsvorschlag" vor, der abermals<lb/>
aus demselben Grunde strandete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_146"> Das erste radikale Ministerium fand trotz seiner kurzen Lebensdauer (vom<lb/>
Herbst 1909 bis Frühjahr 1910) Zeit, einen umfassenden Verfassungsänderungs¬<lb/>
vorschlag auszuarbeiten im Anschluß an sozialistische Auffassungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_147"> Aber jetzt trat I. C. Christensen im Namen seiner Partei mit seiner Theorie<lb/>
der zwei Tempi auf den Plan, das heißt, die Verfassungsreform müsse in zwei<lb/>
Tempi durchgeführt werden. Zuerst müsse man die Machtstellung des Folketings<lb/>
durch eine bedeutende Erweiterung des Wahlrechts stärken und darauf erst zur<lb/>
Reform des Landstings schreiten. Dieser Vorschlag war nichts anderes, als<lb/>
ein kluger politischer Schachzug I. C. Christensens, der sich den Anschein gab,<lb/>
die Sache zu fördem, in Wirklichkeit aber durch die Art dieses politisch un¬<lb/>
durchführbaren Vorschlags eine ziemlich zuverlässige Garantie gegen die Durch¬<lb/>
dringung einer neuen Verfassung schuf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_148"> Diese Garantie sicherte ihm denn auch das Wahlbündnis mit der Rechten,<lb/>
infolgedessen das radikale Ministerium nach den Wahlen von 1910 weichen mußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_149"> Darauf folgte die Regierung der &#x201E;Moderaten Linken" unter dem Ministerium<lb/>
Claus Berntsen. Dieser gemäßigte grundtvigianische Flügel der Linken, der 1894<lb/>
den großpolitischen Vergleich mit der Rechten eingegangen war, hinterher aber<lb/>
um die Früchte des Vergleichs betrogen ward, repräsentiert die idealistisch-<lb/>
nationalistischen Kreise der ländlichen Volkshochschulen, die breiteste Fühlung<lb/>
mit den ländlichen Mittelstandsschichten haben, sich aber an politischer Gewandt¬<lb/>
heit bei weitem nicht mit der &#x201E;Linken Reformpartei" unter der Führung von<lb/>
I. C. Christensen messen können. Sie repräsentieren die Gemütsmenschen der<lb/>
Linken, sind rationalistisch aus Überzeugung und demokratisch aus Idealismus,<lb/>
während I. C. Christensen beides aus politischer Berechnung ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_150"> Das Ministerium Claus Berntsen saß mit dem Mandat, die Durchführung<lb/>
der Landesverteidigung gemäß dem Vergleich von 1909 zu wahren. In diesem<lb/>
Punkte genoß es das Vertrauen aller landesverteidigungsfreundlichen, natio¬<lb/>
nalistischen Kreise und wurde deshalb namentlich von der Rechten gestützt.<lb/>
Nachdem aber dieses Programm durchgeführt war, trat das Ministerium Berntsen<lb/>
in der Session 1912&#x2014;1913 ganz unerwartet und zum großen Entsetzen der<lb/>
Rechten mit einer neuen Verfafsungsreform hervor, die ebensoweit ging, wie<lb/>
der radikale Vorschlag von 1909 und auf die Demokratisierung des Folketings<lb/>
sowohl wie des Landstings hinauslief.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_151" next="#ID_152"> Der Vorschlag war eine Überraschung sür die Rechte, die das Ministerium<lb/>
wahrlich nicht zu diesem Zwecke unterstützt hatte: er ist auch bis heute in seinen<lb/>
Motiven nicht völlig aufgeklärt. Vielleicht war es politische Taktik nach Gladstones</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] Die neue dänische Verfassung nötigt, etwas zu tun. Er legte eine sogenannte „kleine Verfassungsänderung" vor, die aber an der Frage der Auflösbarkeit der vom König berufenen Lands- tingsmitglieder scheiterte. Das Ministerium Neergaard, das nach der Alberti-Katastrophe eintrat, legte aufs neue diesen „kleinen Verfassungsänderungsvorschlag" vor, der abermals aus demselben Grunde strandete. Das erste radikale Ministerium fand trotz seiner kurzen Lebensdauer (vom Herbst 1909 bis Frühjahr 1910) Zeit, einen umfassenden Verfassungsänderungs¬ vorschlag auszuarbeiten im Anschluß an sozialistische Auffassungen. Aber jetzt trat I. C. Christensen im Namen seiner Partei mit seiner Theorie der zwei Tempi auf den Plan, das heißt, die Verfassungsreform müsse in zwei Tempi durchgeführt werden. Zuerst müsse man die Machtstellung des Folketings durch eine bedeutende Erweiterung des Wahlrechts stärken und darauf erst zur Reform des Landstings schreiten. Dieser Vorschlag war nichts anderes, als ein kluger politischer Schachzug I. C. Christensens, der sich den Anschein gab, die Sache zu fördem, in Wirklichkeit aber durch die Art dieses politisch un¬ durchführbaren Vorschlags eine ziemlich zuverlässige Garantie gegen die Durch¬ dringung einer neuen Verfassung schuf. Diese Garantie sicherte ihm denn auch das Wahlbündnis mit der Rechten, infolgedessen das radikale Ministerium nach den Wahlen von 1910 weichen mußte. Darauf folgte die Regierung der „Moderaten Linken" unter dem Ministerium Claus Berntsen. Dieser gemäßigte grundtvigianische Flügel der Linken, der 1894 den großpolitischen Vergleich mit der Rechten eingegangen war, hinterher aber um die Früchte des Vergleichs betrogen ward, repräsentiert die idealistisch- nationalistischen Kreise der ländlichen Volkshochschulen, die breiteste Fühlung mit den ländlichen Mittelstandsschichten haben, sich aber an politischer Gewandt¬ heit bei weitem nicht mit der „Linken Reformpartei" unter der Führung von I. C. Christensen messen können. Sie repräsentieren die Gemütsmenschen der Linken, sind rationalistisch aus Überzeugung und demokratisch aus Idealismus, während I. C. Christensen beides aus politischer Berechnung ist. Das Ministerium Claus Berntsen saß mit dem Mandat, die Durchführung der Landesverteidigung gemäß dem Vergleich von 1909 zu wahren. In diesem Punkte genoß es das Vertrauen aller landesverteidigungsfreundlichen, natio¬ nalistischen Kreise und wurde deshalb namentlich von der Rechten gestützt. Nachdem aber dieses Programm durchgeführt war, trat das Ministerium Berntsen in der Session 1912—1913 ganz unerwartet und zum großen Entsetzen der Rechten mit einer neuen Verfafsungsreform hervor, die ebensoweit ging, wie der radikale Vorschlag von 1909 und auf die Demokratisierung des Folketings sowohl wie des Landstings hinauslief. Der Vorschlag war eine Überraschung sür die Rechte, die das Ministerium wahrlich nicht zu diesem Zwecke unterstützt hatte: er ist auch bis heute in seinen Motiven nicht völlig aufgeklärt. Vielleicht war es politische Taktik nach Gladstones

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/54
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/54>, abgerufen am 29.12.2024.