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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die neue dänische Verfassung

Linke 1901 zur Regierung gelangt war, zeigte sie keine besondere Eile, die
Verfassungsfrage aufzunehmen.

Der Grund lag einmal darin, daß die Partei im Laufe der Zeit eine
wesentliche Unibildung erfahren hatte -- sie war aus einer unmittelbaren
demokratischen Partei zu einer ländlichen Mittelstandspartei mit ausgeprägtem
Oberklassengefühl geworden -- und andererseits darin, daß die Partei aus der
negativen Haltung einer Oppositionspartei zur positiven Politik einer Regierungs¬
partei übergegangen war. Sie fand sich in vielen Fragen mit den Konservativen
herzenseinig, in denen sie bisher aus parteipolitischer Gründen opponiert hatte,
namentlich zeigte sie sich mehr und mehr willig, dem konservativen Standpunkt
in der Landesverteidigungsfrage Zugeständnisse zu machen. Die Landes-
verteidigungsfrage, die in dem dreißigjährigen Verfassungskampfe der politische
Zankapfel zwischen Konservativen und Linken gewesen war, wurde zu einem
vorläufigen Abschluß gebracht durch den politischen Vergleich vom Jahre 1909,
in dem sich Rechte und Linke einigten.

Wie auf diesem Gebiete, so waren auch auf anderen Gebieten die Gegen¬
sätze zwischen der regierenden Linken und der Rechten, die ihre Stütze in der
ersten Kammer hatten, geringer geworden. Das Landsting hatte sich nämlich
auch selbst im Laufe der Zeit nicht unwesentlich gewandelt, namentlich infolge
der Einführung der Einkommensteuer im Jahre 1903. Die Gesellschaft konser¬
vativer Gutsbesitzer, Patrizier und akademischer Intelligenz, die aus traditionellen
Standesrücksichten, aber doch im wesentlichen aus idealistischen Motiven starr
am Machtprinzip des Landstings festhielten, sahen sich in steigendem Maße
untermischt mit Elementen, die auf der Stufe der Einkommensteuer sozusagen
automatisch zu den ehrwürdigen Sesseln des Tings emporstiegen und sich mit
den Symptomen der Herzverfettung lähmend in den Reihen breiteten. Aus
der Versammlung unbeugsamer konservativer Aristokraten wurde nach und nach
eine friedfertige Versammlung, die dem Ministerium keinen Anlaß gab, einen
Streit vom Zaune zu brechen, im Gegenteil war dieser Landsting sehr gut zu
gebrauchen, um demokratische Forderungen zum Scheitern zu bringen, denen
sich das Ministerium wegen seiner eigenen oppositionell-demokratischen Ver¬
gangenheit nicht gut widersetzen konnte.

Es war daher verständlich, daß die Ministerien der Linken (erst Deuntzer,
dann I. C. Christensen) keinen Eifer zeigten, die Verfassungsfrage anzuschneiden.

Wenn das Land trotzdem die neue Verfassung erhielt, so ist das zweifelos
ein Ergebnis der inneren Entwicklung, die sich in fortschreitender Demokratisierung
des Volkes bewegt. Indes spielen eine Reihe von äußeren Umständen eine
Rolle, die einen Schritt nach dem anderen auslösten.

Die Entwicklung beginnt in der Reichst agssession 1904--1905 mit einer
Forderung der Sozialdemokraten, die Reform der Wahlkreiseinteilung auf die
Tagesordnung zu setzen. I. C. Christensen, dem die Aufrollung der Sache
unbequem war, sah sich gleichwohl infolge seiner politischen Vergangenheit ge-


Die neue dänische Verfassung

Linke 1901 zur Regierung gelangt war, zeigte sie keine besondere Eile, die
Verfassungsfrage aufzunehmen.

Der Grund lag einmal darin, daß die Partei im Laufe der Zeit eine
wesentliche Unibildung erfahren hatte — sie war aus einer unmittelbaren
demokratischen Partei zu einer ländlichen Mittelstandspartei mit ausgeprägtem
Oberklassengefühl geworden — und andererseits darin, daß die Partei aus der
negativen Haltung einer Oppositionspartei zur positiven Politik einer Regierungs¬
partei übergegangen war. Sie fand sich in vielen Fragen mit den Konservativen
herzenseinig, in denen sie bisher aus parteipolitischer Gründen opponiert hatte,
namentlich zeigte sie sich mehr und mehr willig, dem konservativen Standpunkt
in der Landesverteidigungsfrage Zugeständnisse zu machen. Die Landes-
verteidigungsfrage, die in dem dreißigjährigen Verfassungskampfe der politische
Zankapfel zwischen Konservativen und Linken gewesen war, wurde zu einem
vorläufigen Abschluß gebracht durch den politischen Vergleich vom Jahre 1909,
in dem sich Rechte und Linke einigten.

Wie auf diesem Gebiete, so waren auch auf anderen Gebieten die Gegen¬
sätze zwischen der regierenden Linken und der Rechten, die ihre Stütze in der
ersten Kammer hatten, geringer geworden. Das Landsting hatte sich nämlich
auch selbst im Laufe der Zeit nicht unwesentlich gewandelt, namentlich infolge
der Einführung der Einkommensteuer im Jahre 1903. Die Gesellschaft konser¬
vativer Gutsbesitzer, Patrizier und akademischer Intelligenz, die aus traditionellen
Standesrücksichten, aber doch im wesentlichen aus idealistischen Motiven starr
am Machtprinzip des Landstings festhielten, sahen sich in steigendem Maße
untermischt mit Elementen, die auf der Stufe der Einkommensteuer sozusagen
automatisch zu den ehrwürdigen Sesseln des Tings emporstiegen und sich mit
den Symptomen der Herzverfettung lähmend in den Reihen breiteten. Aus
der Versammlung unbeugsamer konservativer Aristokraten wurde nach und nach
eine friedfertige Versammlung, die dem Ministerium keinen Anlaß gab, einen
Streit vom Zaune zu brechen, im Gegenteil war dieser Landsting sehr gut zu
gebrauchen, um demokratische Forderungen zum Scheitern zu bringen, denen
sich das Ministerium wegen seiner eigenen oppositionell-demokratischen Ver¬
gangenheit nicht gut widersetzen konnte.

Es war daher verständlich, daß die Ministerien der Linken (erst Deuntzer,
dann I. C. Christensen) keinen Eifer zeigten, die Verfassungsfrage anzuschneiden.

Wenn das Land trotzdem die neue Verfassung erhielt, so ist das zweifelos
ein Ergebnis der inneren Entwicklung, die sich in fortschreitender Demokratisierung
des Volkes bewegt. Indes spielen eine Reihe von äußeren Umständen eine
Rolle, die einen Schritt nach dem anderen auslösten.

Die Entwicklung beginnt in der Reichst agssession 1904—1905 mit einer
Forderung der Sozialdemokraten, die Reform der Wahlkreiseinteilung auf die
Tagesordnung zu setzen. I. C. Christensen, dem die Aufrollung der Sache
unbequem war, sah sich gleichwohl infolge seiner politischen Vergangenheit ge-


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[0053] Die neue dänische Verfassung Linke 1901 zur Regierung gelangt war, zeigte sie keine besondere Eile, die Verfassungsfrage aufzunehmen. Der Grund lag einmal darin, daß die Partei im Laufe der Zeit eine wesentliche Unibildung erfahren hatte — sie war aus einer unmittelbaren demokratischen Partei zu einer ländlichen Mittelstandspartei mit ausgeprägtem Oberklassengefühl geworden — und andererseits darin, daß die Partei aus der negativen Haltung einer Oppositionspartei zur positiven Politik einer Regierungs¬ partei übergegangen war. Sie fand sich in vielen Fragen mit den Konservativen herzenseinig, in denen sie bisher aus parteipolitischer Gründen opponiert hatte, namentlich zeigte sie sich mehr und mehr willig, dem konservativen Standpunkt in der Landesverteidigungsfrage Zugeständnisse zu machen. Die Landes- verteidigungsfrage, die in dem dreißigjährigen Verfassungskampfe der politische Zankapfel zwischen Konservativen und Linken gewesen war, wurde zu einem vorläufigen Abschluß gebracht durch den politischen Vergleich vom Jahre 1909, in dem sich Rechte und Linke einigten. Wie auf diesem Gebiete, so waren auch auf anderen Gebieten die Gegen¬ sätze zwischen der regierenden Linken und der Rechten, die ihre Stütze in der ersten Kammer hatten, geringer geworden. Das Landsting hatte sich nämlich auch selbst im Laufe der Zeit nicht unwesentlich gewandelt, namentlich infolge der Einführung der Einkommensteuer im Jahre 1903. Die Gesellschaft konser¬ vativer Gutsbesitzer, Patrizier und akademischer Intelligenz, die aus traditionellen Standesrücksichten, aber doch im wesentlichen aus idealistischen Motiven starr am Machtprinzip des Landstings festhielten, sahen sich in steigendem Maße untermischt mit Elementen, die auf der Stufe der Einkommensteuer sozusagen automatisch zu den ehrwürdigen Sesseln des Tings emporstiegen und sich mit den Symptomen der Herzverfettung lähmend in den Reihen breiteten. Aus der Versammlung unbeugsamer konservativer Aristokraten wurde nach und nach eine friedfertige Versammlung, die dem Ministerium keinen Anlaß gab, einen Streit vom Zaune zu brechen, im Gegenteil war dieser Landsting sehr gut zu gebrauchen, um demokratische Forderungen zum Scheitern zu bringen, denen sich das Ministerium wegen seiner eigenen oppositionell-demokratischen Ver¬ gangenheit nicht gut widersetzen konnte. Es war daher verständlich, daß die Ministerien der Linken (erst Deuntzer, dann I. C. Christensen) keinen Eifer zeigten, die Verfassungsfrage anzuschneiden. Wenn das Land trotzdem die neue Verfassung erhielt, so ist das zweifelos ein Ergebnis der inneren Entwicklung, die sich in fortschreitender Demokratisierung des Volkes bewegt. Indes spielen eine Reihe von äußeren Umständen eine Rolle, die einen Schritt nach dem anderen auslösten. Die Entwicklung beginnt in der Reichst agssession 1904—1905 mit einer Forderung der Sozialdemokraten, die Reform der Wahlkreiseinteilung auf die Tagesordnung zu setzen. I. C. Christensen, dem die Aufrollung der Sache unbequem war, sah sich gleichwohl infolge seiner politischen Vergangenheit ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/53>, abgerufen am 22.07.2024.