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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Humanitätsgedanke und volkstum

die größte Jnhaltsfülle, die sich denken läßt, weil hier die Menschheit in ihren
Gipfelpunkten aufgesucht und diese wiederum nur als die Keime einer noch
höheren und höchsten Vollkommenheit und Geistigkeit aufgefaßt sind. Sie ist
der positive Inhalt des Kantischen Sittengesetzes: die "Menschheit" gleichsam
als die Vergegenständlichung des Gewissens, als der oberste sittliche Zweck aller
Handlungen. Sie wird in verschiedener Fassung als "Humanität" zum Bildungs¬
ideal unserer klassischen Zeit von Winckelmann und Lessing bis zu Goethe und
W. von Humboldt.

Dem Universalismus gerade dieser Zeit verdanken wir es, wenn heute der
Begriff des Deutschtums eine mehr als bloß anthropologische Bedeutung besitzt,
wenn wir es heute wagen können, ihn ideal-geistig zu fassen, wie wir es mit
dem Begriff "hellenisch" tun. Wie ungesund die Selbstbespiegelung der bloßen
volklichen Eigenart und deren Erhebung zur Norm ist, ersehen wir aus der
Hemmung, die sie dem Weiterschreiten des Volkes bereitet. Hätte ein solcher
Nationalismus bereits vor Goethe bestanden, so würde er die Vertiefung und
Bereicherung des Nationalcharakters und damit sein Fortschreiten auf dem Wege
zum Humanitätsideal unmöglich gemacht haben. Der deutsche Gedanke, nicht
als historischer oder politischer Begriff, sondern als Imperativ, als normgebender
Faktor regte sich zu jener Zeit noch wenig. Was die Nation mit Bewußtheit
an Ewigkeitswerten besaß, war nicht viel mehr als das, was sich an die Namen
Luthers und Dürers knüpfte. Da konnte man, umherirrt durch möglicherweise
übertriebene Ansprüche des Nationalgefühls, welche den ferneren Entwicklungs¬
weg durch Hinweis auf Muster der vaterländischen Vergangenheit vorzeichnen
könnten, das Land der Griechen mit der Seele suchen und den Menschen, nicht
bloß den deutschen oder preußischen, darstellen. Wir sind heute in diesem einen
Punkte schlechter daran, insofern der in den dazwischen liegenden hundert Jahren
klarer und bestimmter, aber damit auch enger gewordene Begriff von deutschem
Wesen uns zu Epigonen zu stempeln und Ansprüche an uns und unsere weitere
Entwicklung zu stellen scheint, die unsere klassische Zeit noch nicht kannte. Fichtes
Feuerseele konnte noch den Begriff deutscher Art rein philosophisch von großen,
ewigen Gesichtspunkten her ableiten, die Heutigen (mit wenigen Ausnahmen)
können es nicht mehr oder glauben es nicht zu können. Wir sehen in solchem
Nationalismus, der sich ausschließlich an die natürlich gewordene Eigenart des
durchschnittlichen Volkscharakters hält, eine schwere Gefahr für die fernere Ent¬
wicklung des deutschen Geistes. Lasse" wir darum diesen ein Ideal sein, das
nicht gegeben, nicht ohne weiteres in den künstlerischen, rechtlichen oder wirt¬
schaftlichen Gewohnheiten unseres Volkes zu erkennen ist, sondern das, nur aus
den Höhen unseres Geisteslebens keimhaft angelegt, das Ziel ist, dem wir zu¬
zustreben haben I Noch konnte ein Philosoph unserer Tage, Hermann Cohen,
das Eigentümliche des deutschen Geistes kennzeichnen, indem er den Geist schlecht¬
weg darstellte. Es fragt sich, ob dies auch in Zukunft möglich sein wird, wenn
man ständig das Zufällig-einseitige, Irrationale, subjektiv Bedingte der deutschen


Humanitätsgedanke und volkstum

die größte Jnhaltsfülle, die sich denken läßt, weil hier die Menschheit in ihren
Gipfelpunkten aufgesucht und diese wiederum nur als die Keime einer noch
höheren und höchsten Vollkommenheit und Geistigkeit aufgefaßt sind. Sie ist
der positive Inhalt des Kantischen Sittengesetzes: die „Menschheit" gleichsam
als die Vergegenständlichung des Gewissens, als der oberste sittliche Zweck aller
Handlungen. Sie wird in verschiedener Fassung als „Humanität" zum Bildungs¬
ideal unserer klassischen Zeit von Winckelmann und Lessing bis zu Goethe und
W. von Humboldt.

Dem Universalismus gerade dieser Zeit verdanken wir es, wenn heute der
Begriff des Deutschtums eine mehr als bloß anthropologische Bedeutung besitzt,
wenn wir es heute wagen können, ihn ideal-geistig zu fassen, wie wir es mit
dem Begriff „hellenisch" tun. Wie ungesund die Selbstbespiegelung der bloßen
volklichen Eigenart und deren Erhebung zur Norm ist, ersehen wir aus der
Hemmung, die sie dem Weiterschreiten des Volkes bereitet. Hätte ein solcher
Nationalismus bereits vor Goethe bestanden, so würde er die Vertiefung und
Bereicherung des Nationalcharakters und damit sein Fortschreiten auf dem Wege
zum Humanitätsideal unmöglich gemacht haben. Der deutsche Gedanke, nicht
als historischer oder politischer Begriff, sondern als Imperativ, als normgebender
Faktor regte sich zu jener Zeit noch wenig. Was die Nation mit Bewußtheit
an Ewigkeitswerten besaß, war nicht viel mehr als das, was sich an die Namen
Luthers und Dürers knüpfte. Da konnte man, umherirrt durch möglicherweise
übertriebene Ansprüche des Nationalgefühls, welche den ferneren Entwicklungs¬
weg durch Hinweis auf Muster der vaterländischen Vergangenheit vorzeichnen
könnten, das Land der Griechen mit der Seele suchen und den Menschen, nicht
bloß den deutschen oder preußischen, darstellen. Wir sind heute in diesem einen
Punkte schlechter daran, insofern der in den dazwischen liegenden hundert Jahren
klarer und bestimmter, aber damit auch enger gewordene Begriff von deutschem
Wesen uns zu Epigonen zu stempeln und Ansprüche an uns und unsere weitere
Entwicklung zu stellen scheint, die unsere klassische Zeit noch nicht kannte. Fichtes
Feuerseele konnte noch den Begriff deutscher Art rein philosophisch von großen,
ewigen Gesichtspunkten her ableiten, die Heutigen (mit wenigen Ausnahmen)
können es nicht mehr oder glauben es nicht zu können. Wir sehen in solchem
Nationalismus, der sich ausschließlich an die natürlich gewordene Eigenart des
durchschnittlichen Volkscharakters hält, eine schwere Gefahr für die fernere Ent¬
wicklung des deutschen Geistes. Lasse« wir darum diesen ein Ideal sein, das
nicht gegeben, nicht ohne weiteres in den künstlerischen, rechtlichen oder wirt¬
schaftlichen Gewohnheiten unseres Volkes zu erkennen ist, sondern das, nur aus
den Höhen unseres Geisteslebens keimhaft angelegt, das Ziel ist, dem wir zu¬
zustreben haben I Noch konnte ein Philosoph unserer Tage, Hermann Cohen,
das Eigentümliche des deutschen Geistes kennzeichnen, indem er den Geist schlecht¬
weg darstellte. Es fragt sich, ob dies auch in Zukunft möglich sein wird, wenn
man ständig das Zufällig-einseitige, Irrationale, subjektiv Bedingte der deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/49>, abgerufen am 22.07.2024.