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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Humanitätsgedanke und volkstum

nur von seiner umfassenden Menschlichkeit, also nicht von dem der griechischen
Eigenart, aus zu verstehen. Das Hellenisch-Geistige entstand im Gegensatz zum
streng Nationalgriechischen.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Humanität besteht
damit in nicht viel mehr als einer Verschiedenheit des Gewandes: die eine
entbehrte der volklichen Bezeichnung, welche die andere, ihrem umfassenden
Inhalt widersprechend, noch besaß. Denn die hellenische Unterscheidung zwischen
Griechen und Barbaren, die allerdings noch auf dem klassischen Höhepunkt ihrer
Philosophie voll aufrecht erhalten wurde, entsprach ja nur den tatsächlichen
damaligen Verhältnissen der Völker, lag nicht in dem Wesen des so ganz duld¬
samer und rationalen hellenischen Geistes, der ja sonst niemals zu seiner inter¬
nationalen Bedeutung gekommen wäre. Wir erkennen vielmehr im Christentum
wie im Hellenentum der Hauptsache nach überindividuelle, also auch über die Völker¬
individualitäten hinausgehende, allgemeingültige Errungenschaften. Nichts
Kleinlicheres daher, als sie von einem relativen, beschränkten Rassengesichtspunkt
aus erklären zu wollen.

Ein gefährlicher Doppelsinn also verbirgt sich im Begriffe des Volkstums.
Dieser Begriff kann die Quersumme der bloßen Erfahrung darstellen und damit
nichts als eine naturwissenschaftliche Tatsache enthalten; er kann zweitens über
die Erfahrung weit hinausgehen, indem er sich lediglich an die Höhen und
Gipfelpunkte der Geisteskultur hält und aus ihnen ein Ideal konstruiert, das
zwar keine reale, aber eine ideelle Existenz, nämlich als Strebensziel der geistigen
Führer des Volkes, darstellt. Der naturwissenschaftliche Begriff des Volkstums
wird aus allen seinen Erscheinungen, den höchsten wie den niedrigsten, gewonnen,
die Idee dagegen nur durch Betrachtung der höchsten geistigen Offenbarungen
und zwar wiederum erst durch deren Idealisierung. Der ganze Unterschied wird
klar, wenn wir die beiden Begriffe "russisch" und "hellenisch" nach ihrem heute
üblichen Sinn zusammenstellen. Diese zwei Begriffe sind nicht gleichgeordnete
Artbegriffe, sondern der eine gibt ein Durchschnitts-, der andere ein Idealbild.
Es sind die gleichen zwei Bedeutungen, die sich in dem Wort "Typus" ver¬
bergen. Der Typus als das "Urbild" oder die "Idee" des Hellenischen hat
niemals in geschichtlicher Abgeschlossenheit fertig vorgelegen, sondern ist eine zu
unendlicher Vollkommenheit fortschreitende, rein ideelle Konstruktion späterer
Geschlechter, die nun das Wesen des hellenischen Geistes und den idealen Ziel¬
gedanken, dem er zustrebte, besser verstehen, als er selbst sich verstand.

Und entsprechend unterscheiden wir zwei Begriffe der "Menschheit". Als
naturwissenschaftliche Tatsache ist diese kein Gegenstand der Erbauung. Bringen
wir von ihr alle Sonderart, die volkliche, wie die individuelle, die geistigen
Höhen wie die Tiefen in Abzug, dann ergibt das zustandekommende Durch¬
schnittsbild der empirischen Menschheit den Begriff der leeren, bleichen Jnter-
Nationalität, deren Inhaltlosigkeit den Ursprung des Begriffs aus der bloßen
Verneinung nicht verleugnen kann. Die "Menschheit" als Idee dagegen besitzt


Humanitätsgedanke und volkstum

nur von seiner umfassenden Menschlichkeit, also nicht von dem der griechischen
Eigenart, aus zu verstehen. Das Hellenisch-Geistige entstand im Gegensatz zum
streng Nationalgriechischen.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Humanität besteht
damit in nicht viel mehr als einer Verschiedenheit des Gewandes: die eine
entbehrte der volklichen Bezeichnung, welche die andere, ihrem umfassenden
Inhalt widersprechend, noch besaß. Denn die hellenische Unterscheidung zwischen
Griechen und Barbaren, die allerdings noch auf dem klassischen Höhepunkt ihrer
Philosophie voll aufrecht erhalten wurde, entsprach ja nur den tatsächlichen
damaligen Verhältnissen der Völker, lag nicht in dem Wesen des so ganz duld¬
samer und rationalen hellenischen Geistes, der ja sonst niemals zu seiner inter¬
nationalen Bedeutung gekommen wäre. Wir erkennen vielmehr im Christentum
wie im Hellenentum der Hauptsache nach überindividuelle, also auch über die Völker¬
individualitäten hinausgehende, allgemeingültige Errungenschaften. Nichts
Kleinlicheres daher, als sie von einem relativen, beschränkten Rassengesichtspunkt
aus erklären zu wollen.

Ein gefährlicher Doppelsinn also verbirgt sich im Begriffe des Volkstums.
Dieser Begriff kann die Quersumme der bloßen Erfahrung darstellen und damit
nichts als eine naturwissenschaftliche Tatsache enthalten; er kann zweitens über
die Erfahrung weit hinausgehen, indem er sich lediglich an die Höhen und
Gipfelpunkte der Geisteskultur hält und aus ihnen ein Ideal konstruiert, das
zwar keine reale, aber eine ideelle Existenz, nämlich als Strebensziel der geistigen
Führer des Volkes, darstellt. Der naturwissenschaftliche Begriff des Volkstums
wird aus allen seinen Erscheinungen, den höchsten wie den niedrigsten, gewonnen,
die Idee dagegen nur durch Betrachtung der höchsten geistigen Offenbarungen
und zwar wiederum erst durch deren Idealisierung. Der ganze Unterschied wird
klar, wenn wir die beiden Begriffe „russisch" und „hellenisch" nach ihrem heute
üblichen Sinn zusammenstellen. Diese zwei Begriffe sind nicht gleichgeordnete
Artbegriffe, sondern der eine gibt ein Durchschnitts-, der andere ein Idealbild.
Es sind die gleichen zwei Bedeutungen, die sich in dem Wort „Typus" ver¬
bergen. Der Typus als das „Urbild" oder die „Idee" des Hellenischen hat
niemals in geschichtlicher Abgeschlossenheit fertig vorgelegen, sondern ist eine zu
unendlicher Vollkommenheit fortschreitende, rein ideelle Konstruktion späterer
Geschlechter, die nun das Wesen des hellenischen Geistes und den idealen Ziel¬
gedanken, dem er zustrebte, besser verstehen, als er selbst sich verstand.

Und entsprechend unterscheiden wir zwei Begriffe der „Menschheit". Als
naturwissenschaftliche Tatsache ist diese kein Gegenstand der Erbauung. Bringen
wir von ihr alle Sonderart, die volkliche, wie die individuelle, die geistigen
Höhen wie die Tiefen in Abzug, dann ergibt das zustandekommende Durch¬
schnittsbild der empirischen Menschheit den Begriff der leeren, bleichen Jnter-
Nationalität, deren Inhaltlosigkeit den Ursprung des Begriffs aus der bloßen
Verneinung nicht verleugnen kann. Die „Menschheit" als Idee dagegen besitzt


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[0048] Humanitätsgedanke und volkstum nur von seiner umfassenden Menschlichkeit, also nicht von dem der griechischen Eigenart, aus zu verstehen. Das Hellenisch-Geistige entstand im Gegensatz zum streng Nationalgriechischen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Humanität besteht damit in nicht viel mehr als einer Verschiedenheit des Gewandes: die eine entbehrte der volklichen Bezeichnung, welche die andere, ihrem umfassenden Inhalt widersprechend, noch besaß. Denn die hellenische Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren, die allerdings noch auf dem klassischen Höhepunkt ihrer Philosophie voll aufrecht erhalten wurde, entsprach ja nur den tatsächlichen damaligen Verhältnissen der Völker, lag nicht in dem Wesen des so ganz duld¬ samer und rationalen hellenischen Geistes, der ja sonst niemals zu seiner inter¬ nationalen Bedeutung gekommen wäre. Wir erkennen vielmehr im Christentum wie im Hellenentum der Hauptsache nach überindividuelle, also auch über die Völker¬ individualitäten hinausgehende, allgemeingültige Errungenschaften. Nichts Kleinlicheres daher, als sie von einem relativen, beschränkten Rassengesichtspunkt aus erklären zu wollen. Ein gefährlicher Doppelsinn also verbirgt sich im Begriffe des Volkstums. Dieser Begriff kann die Quersumme der bloßen Erfahrung darstellen und damit nichts als eine naturwissenschaftliche Tatsache enthalten; er kann zweitens über die Erfahrung weit hinausgehen, indem er sich lediglich an die Höhen und Gipfelpunkte der Geisteskultur hält und aus ihnen ein Ideal konstruiert, das zwar keine reale, aber eine ideelle Existenz, nämlich als Strebensziel der geistigen Führer des Volkes, darstellt. Der naturwissenschaftliche Begriff des Volkstums wird aus allen seinen Erscheinungen, den höchsten wie den niedrigsten, gewonnen, die Idee dagegen nur durch Betrachtung der höchsten geistigen Offenbarungen und zwar wiederum erst durch deren Idealisierung. Der ganze Unterschied wird klar, wenn wir die beiden Begriffe „russisch" und „hellenisch" nach ihrem heute üblichen Sinn zusammenstellen. Diese zwei Begriffe sind nicht gleichgeordnete Artbegriffe, sondern der eine gibt ein Durchschnitts-, der andere ein Idealbild. Es sind die gleichen zwei Bedeutungen, die sich in dem Wort „Typus" ver¬ bergen. Der Typus als das „Urbild" oder die „Idee" des Hellenischen hat niemals in geschichtlicher Abgeschlossenheit fertig vorgelegen, sondern ist eine zu unendlicher Vollkommenheit fortschreitende, rein ideelle Konstruktion späterer Geschlechter, die nun das Wesen des hellenischen Geistes und den idealen Ziel¬ gedanken, dem er zustrebte, besser verstehen, als er selbst sich verstand. Und entsprechend unterscheiden wir zwei Begriffe der „Menschheit". Als naturwissenschaftliche Tatsache ist diese kein Gegenstand der Erbauung. Bringen wir von ihr alle Sonderart, die volkliche, wie die individuelle, die geistigen Höhen wie die Tiefen in Abzug, dann ergibt das zustandekommende Durch¬ schnittsbild der empirischen Menschheit den Begriff der leeren, bleichen Jnter- Nationalität, deren Inhaltlosigkeit den Ursprung des Begriffs aus der bloßen Verneinung nicht verleugnen kann. Die „Menschheit" als Idee dagegen besitzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/48>, abgerufen am 24.08.2024.