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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Line Märtyrerin auf dem Kaiserthrone

ihrer ihr feindlich gesinnten Schwägerinnen. Der Kaiser zeigte sich wortkarg
und zurückhaltend und vermied das Alleinsein mit ihr; die Kammerherren, mit
jenem Instinkte molluskenhafter Hofschranzen begabt, der um so feiner ent¬
wickelt zu sein pflegt, je rettungsloser alles, was Charakter heißt, im Stadium
primitivsten Embryonentums stecken geblieben ist, taten kaum noch ihren Dienst
und ließen es, auch nachdem man Mitte November nach Paris übergesiedelt
war, in der Meinung, dadurch des Kaisers besondere Gunst zu gewinnen,
völlig an dem nötigen Respekte gegen die Proskribierte fehlen; ja in ihrer
Herrin Gegenwart plauderten und lachten die Palastdamen laut und ungeniert
mit den Offizieren vom Dienst. Josephine durchlebte traurige Tage; wenn sie
allein war, flössen ihre Tränen in Strömen, und selbst während der Mittags¬
tafel, an der tiefes Schweigen herrschte, unterdrückte sie mit Mühe das Schluchzen.
Ihr ganzes Inneres sträubte sich gegen die Forderungen der Politik; die
Kaiserin schauderte so gut zurück vor dem Dunkel einer bedeutungslosen Zukunft
wie die Frau vor einem liebelosen Leben. Aber ihr hartes Schicksal mit Würde
zu tragen, verstand sie nicht; jedem, der es hören wollte, sprach sie von ihrem
Seelenschmerz, und wo sie einem hohen Offizier oder Staatsbeamten begegnete,
von dem sie glauben konnte, er kenne die Pläne ihres Gatten, nahm sie ihn
beiseite, um ihn auszuforschen, und bekam als Antwort doch nichts zu hören
und zu sehen, als leere Redensarten und verlegene Gesichter. Und ab und an
tauchte aus dem Meere tiefsten Kummers in chamäleontischer Wandlung plötz¬
lich mal wieder die Josephine früherer Tage auf, oberflächlich und leichtlebig,
die Seele nicht drapiert mit der Gewandung, die ernste Zeiten ihr gewoben,
und brachte es fertig, ihrer Vertrauten, Frau v. Remusat, gegenüber zu
äußern: "Trauerkleider stehen mir gut; ich werde sie nach der Scheidung wäh¬
rend eines vollen Jahres tragen."

Napoleon beschloß nun, zu Ende zu kommen, wie unerträglich es ihm
auch schien, die Verzweiflung der Frau zu sehen, die er einst so heiß geliebt
hatte. Am 30. November fiel der Schlag. Nach dem Diner ging er wie ge¬
wöhnlich, gefolgt von Josephine, in den an das Eßzimmer stoßenden Salon,
wo der Kaffee gereicht zu werden pflegte. Als der Page sich mit Brett und
Tassen wieder entfernt hatte, hörte man plötzlich verzweifeltes Schreien, da"
durch Türen und Wände drang: das entscheidende Wort war gesprochen;
Napoleon hatte seinen unwiderruflichen Entschluß der Trennung unter erneutem
Hinweise aus die gebieterische Pflicht gegen das Staatswohl kund getan. Jo¬
sephine war völlig niedergeschmettert; dem förmlichen Befehle des Kaisers, dem
sanften Zureden des Gatten begegnete sie mit Klagen und Vorwürfen und
warf sich ihm schließlich unter herzzerreißendem Weinen zu Füßen, laut kündend,
daß sie die Schmach nicht überleben werde. Napoleon bedürfte seiner ganze"
Kraft, um fest zu bleiben; Josephinens Schmerz war heiß genug, auch
seinen eigenen Gefühlen wieder einen höheren Wärmegrad zu verleihen. Schlie߬
lich riß er, der peinlichen Szene ein Ende zu machen, die Tür auf und rief


Line Märtyrerin auf dem Kaiserthrone

ihrer ihr feindlich gesinnten Schwägerinnen. Der Kaiser zeigte sich wortkarg
und zurückhaltend und vermied das Alleinsein mit ihr; die Kammerherren, mit
jenem Instinkte molluskenhafter Hofschranzen begabt, der um so feiner ent¬
wickelt zu sein pflegt, je rettungsloser alles, was Charakter heißt, im Stadium
primitivsten Embryonentums stecken geblieben ist, taten kaum noch ihren Dienst
und ließen es, auch nachdem man Mitte November nach Paris übergesiedelt
war, in der Meinung, dadurch des Kaisers besondere Gunst zu gewinnen,
völlig an dem nötigen Respekte gegen die Proskribierte fehlen; ja in ihrer
Herrin Gegenwart plauderten und lachten die Palastdamen laut und ungeniert
mit den Offizieren vom Dienst. Josephine durchlebte traurige Tage; wenn sie
allein war, flössen ihre Tränen in Strömen, und selbst während der Mittags¬
tafel, an der tiefes Schweigen herrschte, unterdrückte sie mit Mühe das Schluchzen.
Ihr ganzes Inneres sträubte sich gegen die Forderungen der Politik; die
Kaiserin schauderte so gut zurück vor dem Dunkel einer bedeutungslosen Zukunft
wie die Frau vor einem liebelosen Leben. Aber ihr hartes Schicksal mit Würde
zu tragen, verstand sie nicht; jedem, der es hören wollte, sprach sie von ihrem
Seelenschmerz, und wo sie einem hohen Offizier oder Staatsbeamten begegnete,
von dem sie glauben konnte, er kenne die Pläne ihres Gatten, nahm sie ihn
beiseite, um ihn auszuforschen, und bekam als Antwort doch nichts zu hören
und zu sehen, als leere Redensarten und verlegene Gesichter. Und ab und an
tauchte aus dem Meere tiefsten Kummers in chamäleontischer Wandlung plötz¬
lich mal wieder die Josephine früherer Tage auf, oberflächlich und leichtlebig,
die Seele nicht drapiert mit der Gewandung, die ernste Zeiten ihr gewoben,
und brachte es fertig, ihrer Vertrauten, Frau v. Remusat, gegenüber zu
äußern: „Trauerkleider stehen mir gut; ich werde sie nach der Scheidung wäh¬
rend eines vollen Jahres tragen."

Napoleon beschloß nun, zu Ende zu kommen, wie unerträglich es ihm
auch schien, die Verzweiflung der Frau zu sehen, die er einst so heiß geliebt
hatte. Am 30. November fiel der Schlag. Nach dem Diner ging er wie ge¬
wöhnlich, gefolgt von Josephine, in den an das Eßzimmer stoßenden Salon,
wo der Kaffee gereicht zu werden pflegte. Als der Page sich mit Brett und
Tassen wieder entfernt hatte, hörte man plötzlich verzweifeltes Schreien, da»
durch Türen und Wände drang: das entscheidende Wort war gesprochen;
Napoleon hatte seinen unwiderruflichen Entschluß der Trennung unter erneutem
Hinweise aus die gebieterische Pflicht gegen das Staatswohl kund getan. Jo¬
sephine war völlig niedergeschmettert; dem förmlichen Befehle des Kaisers, dem
sanften Zureden des Gatten begegnete sie mit Klagen und Vorwürfen und
warf sich ihm schließlich unter herzzerreißendem Weinen zu Füßen, laut kündend,
daß sie die Schmach nicht überleben werde. Napoleon bedürfte seiner ganze»
Kraft, um fest zu bleiben; Josephinens Schmerz war heiß genug, auch
seinen eigenen Gefühlen wieder einen höheren Wärmegrad zu verleihen. Schlie߬
lich riß er, der peinlichen Szene ein Ende zu machen, die Tür auf und rief


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[0415] Line Märtyrerin auf dem Kaiserthrone ihrer ihr feindlich gesinnten Schwägerinnen. Der Kaiser zeigte sich wortkarg und zurückhaltend und vermied das Alleinsein mit ihr; die Kammerherren, mit jenem Instinkte molluskenhafter Hofschranzen begabt, der um so feiner ent¬ wickelt zu sein pflegt, je rettungsloser alles, was Charakter heißt, im Stadium primitivsten Embryonentums stecken geblieben ist, taten kaum noch ihren Dienst und ließen es, auch nachdem man Mitte November nach Paris übergesiedelt war, in der Meinung, dadurch des Kaisers besondere Gunst zu gewinnen, völlig an dem nötigen Respekte gegen die Proskribierte fehlen; ja in ihrer Herrin Gegenwart plauderten und lachten die Palastdamen laut und ungeniert mit den Offizieren vom Dienst. Josephine durchlebte traurige Tage; wenn sie allein war, flössen ihre Tränen in Strömen, und selbst während der Mittags¬ tafel, an der tiefes Schweigen herrschte, unterdrückte sie mit Mühe das Schluchzen. Ihr ganzes Inneres sträubte sich gegen die Forderungen der Politik; die Kaiserin schauderte so gut zurück vor dem Dunkel einer bedeutungslosen Zukunft wie die Frau vor einem liebelosen Leben. Aber ihr hartes Schicksal mit Würde zu tragen, verstand sie nicht; jedem, der es hören wollte, sprach sie von ihrem Seelenschmerz, und wo sie einem hohen Offizier oder Staatsbeamten begegnete, von dem sie glauben konnte, er kenne die Pläne ihres Gatten, nahm sie ihn beiseite, um ihn auszuforschen, und bekam als Antwort doch nichts zu hören und zu sehen, als leere Redensarten und verlegene Gesichter. Und ab und an tauchte aus dem Meere tiefsten Kummers in chamäleontischer Wandlung plötz¬ lich mal wieder die Josephine früherer Tage auf, oberflächlich und leichtlebig, die Seele nicht drapiert mit der Gewandung, die ernste Zeiten ihr gewoben, und brachte es fertig, ihrer Vertrauten, Frau v. Remusat, gegenüber zu äußern: „Trauerkleider stehen mir gut; ich werde sie nach der Scheidung wäh¬ rend eines vollen Jahres tragen." Napoleon beschloß nun, zu Ende zu kommen, wie unerträglich es ihm auch schien, die Verzweiflung der Frau zu sehen, die er einst so heiß geliebt hatte. Am 30. November fiel der Schlag. Nach dem Diner ging er wie ge¬ wöhnlich, gefolgt von Josephine, in den an das Eßzimmer stoßenden Salon, wo der Kaffee gereicht zu werden pflegte. Als der Page sich mit Brett und Tassen wieder entfernt hatte, hörte man plötzlich verzweifeltes Schreien, da» durch Türen und Wände drang: das entscheidende Wort war gesprochen; Napoleon hatte seinen unwiderruflichen Entschluß der Trennung unter erneutem Hinweise aus die gebieterische Pflicht gegen das Staatswohl kund getan. Jo¬ sephine war völlig niedergeschmettert; dem förmlichen Befehle des Kaisers, dem sanften Zureden des Gatten begegnete sie mit Klagen und Vorwürfen und warf sich ihm schließlich unter herzzerreißendem Weinen zu Füßen, laut kündend, daß sie die Schmach nicht überleben werde. Napoleon bedürfte seiner ganze» Kraft, um fest zu bleiben; Josephinens Schmerz war heiß genug, auch seinen eigenen Gefühlen wieder einen höheren Wärmegrad zu verleihen. Schlie߬ lich riß er, der peinlichen Szene ein Ende zu machen, die Tür auf und rief

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/415>, abgerufen am 29.12.2024.