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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Friedrich von Gagern, ein Prophet des Weltkrieges

Neutralität, ihr pro und contr", als rein akademische Doktorfrage in aller
Seelenruhe fast ohne nationale Empfindlichkeit erörtert werden.

Als ob man politische Aufsätze aus unseren Tagen läse, unter mutati8
mutanäi8 Gagerns kurze, aber inhaltreiche Bemerkungen über die Haltung
Schwedens und Italiens an. Bei Schweden hängt alles von dem Erfolg der
verbündeten Waffen gegen Rußland ab; das unverkennbare Streben nach der
Wiedergewinnung Finnlands wird es niemals bestimmen, Partei zu ergreifen,
so lange es die russische Flotte noch zu fürchten hat. Und die Kennzeichnung
der "italienischen" Politik -- wenn man sich dieses Ausdrucks schon für die
damalige Zeit bedienen darf -- nimmt die Erlebnisse der römischen Maitage
des Jahres 1915 und der Jsonzokämpfe mit prophetischem Blick bereits vor¬
weg. "Italien ist der Österreichischen Herrschaft abgeneigt; Französischer Einfluß
wird wahrscheinlich das Übergewicht haben; die sardinische Armee wird sich,
infolge diplomatischer Unterhandlungen oder durch sogenannte Propaganda an
die Französische anschließen; die anderen italienischen Kabinette, Neapel insbe¬
sondere, werden den Erfolg abwarten. Es ist demnach zu vermuten, daß
Österreich, wenn es seine Heere auf dem entscheidenden Kriegsschauplatze gegen
Rußland nicht allzu sehr schwächen will, in Italien bald in die Defensive zu¬
rückgeworfen sein werde."

Wenn wir von den bereits erwähnten, sich widersprechenden Bemerkungen
über die Türkei und ihre Zukunft absehen, so ist der schwächste Punkt der
ganzen Denkschrift der Abschnitt über den Frieden und seine Bedingungen.
Man hat den Eindruck, als liege hier etwas Unfertiges, nicht Abgeschlossenes
vor; oder richtiger wohl, dem Verfasser wird es, wie er auch andeutet, aus
guten Gründen widerstrebt haben, für diesen Eventual-Krieg fest umrissene
Kriegsziele aufzustellen.

Wer hier bei dieser knappen Formulierung der Friedensbedingungen im Fall
eines unbestrittenen Sieges der Zentralmächte im Osten und im Westen zu Worte
kommt, ist der Liberale und -- gewissermaßen vorgreifend den Ereignissen von 1848
-- der Vertreter der großdeutschen Idee. Das Nationalitätsprinzip muß gewahrt
werden, deshalb soll Polen wieder erstehen in feinen Grenzen von 1772. "mir Aus¬
schluß des größten Teils der Provinz Posen, die schon halb deutsch geworden
ist." Da Österreich aus Rücksicht auf dieses Prinzip sich von Galizien trennen
muß, soll es durch das von Frankreich abzutretende Elsaß und durch die --
damals der Türkei noch gehörenden -- Donauprovinzen Moldau und Walachei
entschädigt werden. Das sind für den Fall des Sieges die Kriegsbedingungen:
Polen ersteht wieder; der Kaiserstaat wird vergrößert, er wird recht eigentlich
gegen Osten und Westen der Verteidiger der deutschen Nation -- auf Kosten
Preußens, das trotz seiner siegreichen Waffen, trotz seines Einsatzes an Macht
gezwungen werden soll, nicht nur leer auszugehen und zuzusehen, wie sein
Rivale in Deutschland und über dessen Grenzen hinaus an Kraft gewinnt,
fondern das sich auch dazu verstehen soll, eigene, dem Deutschtum in zäher


Friedrich von Gagern, ein Prophet des Weltkrieges

Neutralität, ihr pro und contr», als rein akademische Doktorfrage in aller
Seelenruhe fast ohne nationale Empfindlichkeit erörtert werden.

Als ob man politische Aufsätze aus unseren Tagen läse, unter mutati8
mutanäi8 Gagerns kurze, aber inhaltreiche Bemerkungen über die Haltung
Schwedens und Italiens an. Bei Schweden hängt alles von dem Erfolg der
verbündeten Waffen gegen Rußland ab; das unverkennbare Streben nach der
Wiedergewinnung Finnlands wird es niemals bestimmen, Partei zu ergreifen,
so lange es die russische Flotte noch zu fürchten hat. Und die Kennzeichnung
der „italienischen" Politik — wenn man sich dieses Ausdrucks schon für die
damalige Zeit bedienen darf — nimmt die Erlebnisse der römischen Maitage
des Jahres 1915 und der Jsonzokämpfe mit prophetischem Blick bereits vor¬
weg. „Italien ist der Österreichischen Herrschaft abgeneigt; Französischer Einfluß
wird wahrscheinlich das Übergewicht haben; die sardinische Armee wird sich,
infolge diplomatischer Unterhandlungen oder durch sogenannte Propaganda an
die Französische anschließen; die anderen italienischen Kabinette, Neapel insbe¬
sondere, werden den Erfolg abwarten. Es ist demnach zu vermuten, daß
Österreich, wenn es seine Heere auf dem entscheidenden Kriegsschauplatze gegen
Rußland nicht allzu sehr schwächen will, in Italien bald in die Defensive zu¬
rückgeworfen sein werde."

Wenn wir von den bereits erwähnten, sich widersprechenden Bemerkungen
über die Türkei und ihre Zukunft absehen, so ist der schwächste Punkt der
ganzen Denkschrift der Abschnitt über den Frieden und seine Bedingungen.
Man hat den Eindruck, als liege hier etwas Unfertiges, nicht Abgeschlossenes
vor; oder richtiger wohl, dem Verfasser wird es, wie er auch andeutet, aus
guten Gründen widerstrebt haben, für diesen Eventual-Krieg fest umrissene
Kriegsziele aufzustellen.

Wer hier bei dieser knappen Formulierung der Friedensbedingungen im Fall
eines unbestrittenen Sieges der Zentralmächte im Osten und im Westen zu Worte
kommt, ist der Liberale und — gewissermaßen vorgreifend den Ereignissen von 1848
— der Vertreter der großdeutschen Idee. Das Nationalitätsprinzip muß gewahrt
werden, deshalb soll Polen wieder erstehen in feinen Grenzen von 1772. „mir Aus¬
schluß des größten Teils der Provinz Posen, die schon halb deutsch geworden
ist." Da Österreich aus Rücksicht auf dieses Prinzip sich von Galizien trennen
muß, soll es durch das von Frankreich abzutretende Elsaß und durch die —
damals der Türkei noch gehörenden — Donauprovinzen Moldau und Walachei
entschädigt werden. Das sind für den Fall des Sieges die Kriegsbedingungen:
Polen ersteht wieder; der Kaiserstaat wird vergrößert, er wird recht eigentlich
gegen Osten und Westen der Verteidiger der deutschen Nation — auf Kosten
Preußens, das trotz seiner siegreichen Waffen, trotz seines Einsatzes an Macht
gezwungen werden soll, nicht nur leer auszugehen und zuzusehen, wie sein
Rivale in Deutschland und über dessen Grenzen hinaus an Kraft gewinnt,
fondern das sich auch dazu verstehen soll, eigene, dem Deutschtum in zäher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/404>, abgerufen am 22.07.2024.