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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Friedrich von Gagern, ein Prophet des Weltkrieges

Wertvolle dieser bedeutenden Denkschrift Gagerns doch in den rein politischen
Bemerkungen sowie in den Schlußfolgerungen, allerdings oft nur recht bedingter
Natur, welche man aus ihnen auf unsere Zeit ziehen kann.

Das entscheidende Ereignis, an welchem sich nach des Verfassers Meinung
voraussichtlich der Weltkrieg entzünden wird, ist das durch die Schwäche der
Türkei bedingte Ringen Österreichs und Rußlands um den vorwiegenden Einfluß
auf der Balkanhalbinsel; das am letzten Ende ausschlaggebende Moment wird
die Kriegslust der russischen Offiziere, die Unzufriedenheit des russischen Volkes
mit seinen heimischen bäuerlichen Verhältnissen bilden: "eine Menge junger ehr¬
geiziger Generale sehnt sich nach dem Kriege; der russische Soldat selbst hat es
besser im Krieg als in seiner armseligen Heimat". Das Ziel des Kampfes für
das Moskowitertum ist Konstantinopel: "Rußland, gewöhnt, Konstantinopel als
den Schlüssel seines Reiches anzusehen und dort durch seine Heere und Flotte
einen überwiegenden Einfluß geltend zu machen, wird in kein Teilungsprojekt
willigen, wobei ihm nicht Konstantinopel -- der Anteil des Löwen -- zugesichert
wird". Auch eine friedliche Lösung der orientalischen Frage, natürlich auf
Kosten des osmanischen Reiches, wird gestreift, und dabei erlebt der alte Plan
der Kaiserin Katharina II., die Gründung eines neu-griechischen Reiches unter
russischer Sekundogenitur, wieder eine kurze Auferstehung; doch da Osterreich
in die Verwirklichung solcher Pläne nur einwilligen kann, wenn ihm der Besitz
von Moldau, Walachei, Bosnien und Serbien, mithin die Beherrschung des
ganzen Donaugebietes, zugestanden wird, so wird der Gedanke, kaum daß er
ausgesprochen ist, wieder fallen gelassen. "Wahrscheinlicher ist es, daß die
Waffen entscheiden".

Interessant und zu mancherlei Vergleichen mit den heutigen Verhältnissen
anregend ist die Rolle, welche den übrigen europäischen Mächten in dem großen
Weltkriege zugewiesen wird.

England gilt, trotzdem diese wichtige Tatsache in dem Titel der Denkschrift
nicht vermerkt ist, als Bundesgenosse der Zentralmächte, freilich als ein Bundes¬
genosse von recht zweifelhaftem Wert.

Mit Frankreich lag es in Fehde wegen des Streites um den überwiegenden
Einfluß in Spanien, wie überhaupt im ganzen Mittelmeergebiet; mit Rußland
bestand der Gegensatz im nahen Orient wie in Zentralasien, die, wie wir heute
wissen, übertriebene Sorge eines Vormarsches gegen Indien, während das Insel-
reich mit Osterreich durch alte politische Überlieferungen, mit Preußen durch
kriegerische Erinnerungen sich verbunden fühlen durfte, ihre gegenseitigen guten
Beziehungen noch nicht durch Handelsneid gestört waren.

Allerdings die England von Gagern zugedachte Rolle in dem großen
Weltkampf war recht bescheidener Natur: schon bei der "Schätzung der Kräfte
nach Population" wird statt der tatsächlich vorhandenen 26 Millionen Ein¬
wohner Englands "wegen seiner insularen Lage" nur die Hälfte, 13 Millionen,
in Anschlag gebracht; und während Preußen mit seinen damals 15 Millionen


Friedrich von Gagern, ein Prophet des Weltkrieges

Wertvolle dieser bedeutenden Denkschrift Gagerns doch in den rein politischen
Bemerkungen sowie in den Schlußfolgerungen, allerdings oft nur recht bedingter
Natur, welche man aus ihnen auf unsere Zeit ziehen kann.

Das entscheidende Ereignis, an welchem sich nach des Verfassers Meinung
voraussichtlich der Weltkrieg entzünden wird, ist das durch die Schwäche der
Türkei bedingte Ringen Österreichs und Rußlands um den vorwiegenden Einfluß
auf der Balkanhalbinsel; das am letzten Ende ausschlaggebende Moment wird
die Kriegslust der russischen Offiziere, die Unzufriedenheit des russischen Volkes
mit seinen heimischen bäuerlichen Verhältnissen bilden: „eine Menge junger ehr¬
geiziger Generale sehnt sich nach dem Kriege; der russische Soldat selbst hat es
besser im Krieg als in seiner armseligen Heimat". Das Ziel des Kampfes für
das Moskowitertum ist Konstantinopel: „Rußland, gewöhnt, Konstantinopel als
den Schlüssel seines Reiches anzusehen und dort durch seine Heere und Flotte
einen überwiegenden Einfluß geltend zu machen, wird in kein Teilungsprojekt
willigen, wobei ihm nicht Konstantinopel — der Anteil des Löwen — zugesichert
wird". Auch eine friedliche Lösung der orientalischen Frage, natürlich auf
Kosten des osmanischen Reiches, wird gestreift, und dabei erlebt der alte Plan
der Kaiserin Katharina II., die Gründung eines neu-griechischen Reiches unter
russischer Sekundogenitur, wieder eine kurze Auferstehung; doch da Osterreich
in die Verwirklichung solcher Pläne nur einwilligen kann, wenn ihm der Besitz
von Moldau, Walachei, Bosnien und Serbien, mithin die Beherrschung des
ganzen Donaugebietes, zugestanden wird, so wird der Gedanke, kaum daß er
ausgesprochen ist, wieder fallen gelassen. „Wahrscheinlicher ist es, daß die
Waffen entscheiden".

Interessant und zu mancherlei Vergleichen mit den heutigen Verhältnissen
anregend ist die Rolle, welche den übrigen europäischen Mächten in dem großen
Weltkriege zugewiesen wird.

England gilt, trotzdem diese wichtige Tatsache in dem Titel der Denkschrift
nicht vermerkt ist, als Bundesgenosse der Zentralmächte, freilich als ein Bundes¬
genosse von recht zweifelhaftem Wert.

Mit Frankreich lag es in Fehde wegen des Streites um den überwiegenden
Einfluß in Spanien, wie überhaupt im ganzen Mittelmeergebiet; mit Rußland
bestand der Gegensatz im nahen Orient wie in Zentralasien, die, wie wir heute
wissen, übertriebene Sorge eines Vormarsches gegen Indien, während das Insel-
reich mit Osterreich durch alte politische Überlieferungen, mit Preußen durch
kriegerische Erinnerungen sich verbunden fühlen durfte, ihre gegenseitigen guten
Beziehungen noch nicht durch Handelsneid gestört waren.

Allerdings die England von Gagern zugedachte Rolle in dem großen
Weltkampf war recht bescheidener Natur: schon bei der „Schätzung der Kräfte
nach Population" wird statt der tatsächlich vorhandenen 26 Millionen Ein¬
wohner Englands „wegen seiner insularen Lage" nur die Hälfte, 13 Millionen,
in Anschlag gebracht; und während Preußen mit seinen damals 15 Millionen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/402>, abgerufen am 24.08.2024.