Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

Doch zurück zum Beginn dieser Entwickelung. Die russische Bourgeoisie,
die sogenannte Gesellschaft, hatte diese neuen politischen Ideale schnell in sich
aufgesogen, dürstete sie doch danach, überhaupt ein Ideal irgend einer Art, sei
eS auch was es sei, zu haben. Das allslavische Ideal aber, das von der
Regierung geschickt zurechtgemacht dem Volke serviert wurde, kam so vielen
alten historischen und religiösen Überlieferungen des Volkes entgegen, daß es
nicht schwer war, die Ideengange populär zu machen. Ein Mann wie
Mitrofanow ist ein typisches Beispiel für die Reflexwirkung jener großen
Gesichtspunkte der Stolypinschen politischen Gedankengänge auf die Massen.

Ich zitiere Martow: "In einer Zeit als die dritte und vierte Duma von
der ununterbrochenen Gegensätzlichkeit der grundlegenden Interessen des adligen
und bürgerlichen Rußlands auf allen Gebieten der inneren Politik, von der
Unmöglichkeit ihrer Verschmelzung auf dem Boden der Konterrevolution vom
3. Juni Zeugnis ablegten, zeigten die jährlichen Debatten über die äußere
Politik und die Landesverteidigung die gegenseitige Annäherung der alten
Stände und der bürgerlichen Gesellschaft in der Verfolgung imperialistischer
Aufgaben nach außen. Auf diesem Gebiete, dem Gebiete der Landesverteidigung
und der äußeren Politik stellten die Monarchie und der Adel der Kritik und
den Wünschen der bürgerlichen Gesellschaft möglichst wenig Hindernisse entgegen,
wie auch die Bourgeoisie ihrerseits mit der größten Bereitwilligkeit das materielle
und formelle Handeln der Monarchie, der Bürokratie und des Adels hier
möglichst unangerührt ließ. Die alljährlich zutage tretende "nationale Einigkeit"
in den Fragen der Entwicklung "der äußeren Macht" erschien zu gleicher Zeit
als die Methode bewußter politischer Erziehung der breiten bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Massen zum Zwecke ihrer Unterordnung unter die Interessen
des Imperialismus. Diese Massen, die vor 1905 die Überlieferung der Gleich¬
gültigkeit und des heimlichen Mißtrauens gegen die kriegerische und auswärtige
Politik des Zarismus in sich genährt hatten, wurden jetzt systematisch darauf
vorbereitet, im kritischen Moment die "nationalen" Interessen mit dieser Politik
zu identifizieren. So wurde jene öffentliche Meinung fabriziert, die
einer kriegerischen auswärtigen Politik günstig gegenüberstand,
und auf die der russische Jmperalismus sich in dem Falle stützen
konnte, wenn jene Politik sich gezwungen sah, oder es für nützlich
hielt, das Schwert aus der Scheide zu ziehen".

Wie die kommende russische Revolution im Jahre 1904/6 zu einer Be¬
schleunigung des mandschurischen Abenteuers geführt hatte, so diente auch jetzt
die Tatsache der früheren Revolution und die Furcht vor einer neuen dazu,
wie Martow hervorhebt, "das Tempo der imperialistischen Weltpolitik nach
außen zu beschleunigen". "In der Mongolei und in der Mandschurei, in
Turkestan und im nördlichen Persien, in Armenien und Mazedonien, in Al¬
banien, Galizien und dem ugrischen Rußland konnte der Zarismus seine aktive
Politik erneuern, indem er sich nicht nur auf die Unterstützung des englischen


Lin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

Doch zurück zum Beginn dieser Entwickelung. Die russische Bourgeoisie,
die sogenannte Gesellschaft, hatte diese neuen politischen Ideale schnell in sich
aufgesogen, dürstete sie doch danach, überhaupt ein Ideal irgend einer Art, sei
eS auch was es sei, zu haben. Das allslavische Ideal aber, das von der
Regierung geschickt zurechtgemacht dem Volke serviert wurde, kam so vielen
alten historischen und religiösen Überlieferungen des Volkes entgegen, daß es
nicht schwer war, die Ideengange populär zu machen. Ein Mann wie
Mitrofanow ist ein typisches Beispiel für die Reflexwirkung jener großen
Gesichtspunkte der Stolypinschen politischen Gedankengänge auf die Massen.

Ich zitiere Martow: „In einer Zeit als die dritte und vierte Duma von
der ununterbrochenen Gegensätzlichkeit der grundlegenden Interessen des adligen
und bürgerlichen Rußlands auf allen Gebieten der inneren Politik, von der
Unmöglichkeit ihrer Verschmelzung auf dem Boden der Konterrevolution vom
3. Juni Zeugnis ablegten, zeigten die jährlichen Debatten über die äußere
Politik und die Landesverteidigung die gegenseitige Annäherung der alten
Stände und der bürgerlichen Gesellschaft in der Verfolgung imperialistischer
Aufgaben nach außen. Auf diesem Gebiete, dem Gebiete der Landesverteidigung
und der äußeren Politik stellten die Monarchie und der Adel der Kritik und
den Wünschen der bürgerlichen Gesellschaft möglichst wenig Hindernisse entgegen,
wie auch die Bourgeoisie ihrerseits mit der größten Bereitwilligkeit das materielle
und formelle Handeln der Monarchie, der Bürokratie und des Adels hier
möglichst unangerührt ließ. Die alljährlich zutage tretende „nationale Einigkeit"
in den Fragen der Entwicklung „der äußeren Macht" erschien zu gleicher Zeit
als die Methode bewußter politischer Erziehung der breiten bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Massen zum Zwecke ihrer Unterordnung unter die Interessen
des Imperialismus. Diese Massen, die vor 1905 die Überlieferung der Gleich¬
gültigkeit und des heimlichen Mißtrauens gegen die kriegerische und auswärtige
Politik des Zarismus in sich genährt hatten, wurden jetzt systematisch darauf
vorbereitet, im kritischen Moment die „nationalen" Interessen mit dieser Politik
zu identifizieren. So wurde jene öffentliche Meinung fabriziert, die
einer kriegerischen auswärtigen Politik günstig gegenüberstand,
und auf die der russische Jmperalismus sich in dem Falle stützen
konnte, wenn jene Politik sich gezwungen sah, oder es für nützlich
hielt, das Schwert aus der Scheide zu ziehen".

Wie die kommende russische Revolution im Jahre 1904/6 zu einer Be¬
schleunigung des mandschurischen Abenteuers geführt hatte, so diente auch jetzt
die Tatsache der früheren Revolution und die Furcht vor einer neuen dazu,
wie Martow hervorhebt, „das Tempo der imperialistischen Weltpolitik nach
außen zu beschleunigen". „In der Mongolei und in der Mandschurei, in
Turkestan und im nördlichen Persien, in Armenien und Mazedonien, in Al¬
banien, Galizien und dem ugrischen Rußland konnte der Zarismus seine aktive
Politik erneuern, indem er sich nicht nur auf die Unterstützung des englischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0396" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324811"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1419"> Doch zurück zum Beginn dieser Entwickelung. Die russische Bourgeoisie,<lb/>
die sogenannte Gesellschaft, hatte diese neuen politischen Ideale schnell in sich<lb/>
aufgesogen, dürstete sie doch danach, überhaupt ein Ideal irgend einer Art, sei<lb/>
eS auch was es sei, zu haben. Das allslavische Ideal aber, das von der<lb/>
Regierung geschickt zurechtgemacht dem Volke serviert wurde, kam so vielen<lb/>
alten historischen und religiösen Überlieferungen des Volkes entgegen, daß es<lb/>
nicht schwer war, die Ideengange populär zu machen. Ein Mann wie<lb/>
Mitrofanow ist ein typisches Beispiel für die Reflexwirkung jener großen<lb/>
Gesichtspunkte der Stolypinschen politischen Gedankengänge auf die Massen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1420"> Ich zitiere Martow: &#x201E;In einer Zeit als die dritte und vierte Duma von<lb/>
der ununterbrochenen Gegensätzlichkeit der grundlegenden Interessen des adligen<lb/>
und bürgerlichen Rußlands auf allen Gebieten der inneren Politik, von der<lb/>
Unmöglichkeit ihrer Verschmelzung auf dem Boden der Konterrevolution vom<lb/>
3. Juni Zeugnis ablegten, zeigten die jährlichen Debatten über die äußere<lb/>
Politik und die Landesverteidigung die gegenseitige Annäherung der alten<lb/>
Stände und der bürgerlichen Gesellschaft in der Verfolgung imperialistischer<lb/>
Aufgaben nach außen. Auf diesem Gebiete, dem Gebiete der Landesverteidigung<lb/>
und der äußeren Politik stellten die Monarchie und der Adel der Kritik und<lb/>
den Wünschen der bürgerlichen Gesellschaft möglichst wenig Hindernisse entgegen,<lb/>
wie auch die Bourgeoisie ihrerseits mit der größten Bereitwilligkeit das materielle<lb/>
und formelle Handeln der Monarchie, der Bürokratie und des Adels hier<lb/>
möglichst unangerührt ließ. Die alljährlich zutage tretende &#x201E;nationale Einigkeit"<lb/>
in den Fragen der Entwicklung &#x201E;der äußeren Macht" erschien zu gleicher Zeit<lb/>
als die Methode bewußter politischer Erziehung der breiten bürgerlichen und<lb/>
kleinbürgerlichen Massen zum Zwecke ihrer Unterordnung unter die Interessen<lb/>
des Imperialismus. Diese Massen, die vor 1905 die Überlieferung der Gleich¬<lb/>
gültigkeit und des heimlichen Mißtrauens gegen die kriegerische und auswärtige<lb/>
Politik des Zarismus in sich genährt hatten, wurden jetzt systematisch darauf<lb/>
vorbereitet, im kritischen Moment die &#x201E;nationalen" Interessen mit dieser Politik<lb/>
zu identifizieren. So wurde jene öffentliche Meinung fabriziert, die<lb/>
einer kriegerischen auswärtigen Politik günstig gegenüberstand,<lb/>
und auf die der russische Jmperalismus sich in dem Falle stützen<lb/>
konnte, wenn jene Politik sich gezwungen sah, oder es für nützlich<lb/>
hielt, das Schwert aus der Scheide zu ziehen".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1421" next="#ID_1422"> Wie die kommende russische Revolution im Jahre 1904/6 zu einer Be¬<lb/>
schleunigung des mandschurischen Abenteuers geführt hatte, so diente auch jetzt<lb/>
die Tatsache der früheren Revolution und die Furcht vor einer neuen dazu,<lb/>
wie Martow hervorhebt, &#x201E;das Tempo der imperialistischen Weltpolitik nach<lb/>
außen zu beschleunigen". &#x201E;In der Mongolei und in der Mandschurei, in<lb/>
Turkestan und im nördlichen Persien, in Armenien und Mazedonien, in Al¬<lb/>
banien, Galizien und dem ugrischen Rußland konnte der Zarismus seine aktive<lb/>
Politik erneuern, indem er sich nicht nur auf die Unterstützung des englischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0396] Lin Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges Doch zurück zum Beginn dieser Entwickelung. Die russische Bourgeoisie, die sogenannte Gesellschaft, hatte diese neuen politischen Ideale schnell in sich aufgesogen, dürstete sie doch danach, überhaupt ein Ideal irgend einer Art, sei eS auch was es sei, zu haben. Das allslavische Ideal aber, das von der Regierung geschickt zurechtgemacht dem Volke serviert wurde, kam so vielen alten historischen und religiösen Überlieferungen des Volkes entgegen, daß es nicht schwer war, die Ideengange populär zu machen. Ein Mann wie Mitrofanow ist ein typisches Beispiel für die Reflexwirkung jener großen Gesichtspunkte der Stolypinschen politischen Gedankengänge auf die Massen. Ich zitiere Martow: „In einer Zeit als die dritte und vierte Duma von der ununterbrochenen Gegensätzlichkeit der grundlegenden Interessen des adligen und bürgerlichen Rußlands auf allen Gebieten der inneren Politik, von der Unmöglichkeit ihrer Verschmelzung auf dem Boden der Konterrevolution vom 3. Juni Zeugnis ablegten, zeigten die jährlichen Debatten über die äußere Politik und die Landesverteidigung die gegenseitige Annäherung der alten Stände und der bürgerlichen Gesellschaft in der Verfolgung imperialistischer Aufgaben nach außen. Auf diesem Gebiete, dem Gebiete der Landesverteidigung und der äußeren Politik stellten die Monarchie und der Adel der Kritik und den Wünschen der bürgerlichen Gesellschaft möglichst wenig Hindernisse entgegen, wie auch die Bourgeoisie ihrerseits mit der größten Bereitwilligkeit das materielle und formelle Handeln der Monarchie, der Bürokratie und des Adels hier möglichst unangerührt ließ. Die alljährlich zutage tretende „nationale Einigkeit" in den Fragen der Entwicklung „der äußeren Macht" erschien zu gleicher Zeit als die Methode bewußter politischer Erziehung der breiten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Massen zum Zwecke ihrer Unterordnung unter die Interessen des Imperialismus. Diese Massen, die vor 1905 die Überlieferung der Gleich¬ gültigkeit und des heimlichen Mißtrauens gegen die kriegerische und auswärtige Politik des Zarismus in sich genährt hatten, wurden jetzt systematisch darauf vorbereitet, im kritischen Moment die „nationalen" Interessen mit dieser Politik zu identifizieren. So wurde jene öffentliche Meinung fabriziert, die einer kriegerischen auswärtigen Politik günstig gegenüberstand, und auf die der russische Jmperalismus sich in dem Falle stützen konnte, wenn jene Politik sich gezwungen sah, oder es für nützlich hielt, das Schwert aus der Scheide zu ziehen". Wie die kommende russische Revolution im Jahre 1904/6 zu einer Be¬ schleunigung des mandschurischen Abenteuers geführt hatte, so diente auch jetzt die Tatsache der früheren Revolution und die Furcht vor einer neuen dazu, wie Martow hervorhebt, „das Tempo der imperialistischen Weltpolitik nach außen zu beschleunigen". „In der Mongolei und in der Mandschurei, in Turkestan und im nördlichen Persien, in Armenien und Mazedonien, in Al¬ banien, Galizien und dem ugrischen Rußland konnte der Zarismus seine aktive Politik erneuern, indem er sich nicht nur auf die Unterstützung des englischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/396
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/396>, abgerufen am 29.12.2024.