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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Lin Aapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

Das geschah durch "Ausgabe der neuen Losung eines größeren Rußland",
durch Jnaugurierung der nationalistischen Politik im Innern (der Verfolgung
der sogenannten Fremdvölker wie Finnen, Deutsche usw.) und der imperalistischen
Politik nach außen. Man hat es in Rußland stets beobachten können, daß in
einer Beziehung dem Volke größere Rede" und Debattierfreiheit zugestanden
wurde, als dies sogar in den westlichen Ländern der Fall zu sein pflegt --
nämlich auf dem Gebiete der äußeren Politik, mit deren Problemen die russische
Publizistik sich von jeher immer eifrig beschäftigt hat. Das Motiv dafür war
der alte Wunsch der russischen Regierung, eine Ablenkung der russischen Gesell¬
schaft von den innerpolitischen Tagesfragen herbeizuführen. Ganz in derselben
Richtung ging Stolypin. Er hat auch hier in großem Stile gearbeitet. Eine
große Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Regierung sollte geschaffen
werden. Die nationalistische Politik, die imperalistische nach außen sollte das
Banner sein, um das sich Intelligenz und Regierung gemeinsam scharen konnten.
Die Partei der Nationalisten in der Duma wurde die eigentliche Stütze der
Regierung, ein Mann wie Graf Bobrinsky, der Befreier Galiziens und spätere
Statthalter der Russen in Lemberg, wurde einer der populärsten Männer in
Nußland. Eine rührige auswärtige Politik, die ganz von allslawischen Ideen
beseelt war, setzte ein. Der russische Rubel arbeitete in den österreichischen
Landen, in Böhmen, in Galizien, in Kroatien. Serbien sollte der Hebel
werden, von wo aus Österreich zertrümmert und die allslavische Politik Ru߬
lands ihren Zielen nähergebracht werden sollte. Es folgte eine ganz bewußte
Abkehr von Problemen des fernen Ostens: Zargrad, die Meerengen als das
Ausfallstor für Rußland, als der Schlüssel zur Beherrschung der slavischen
Länder am Balkan, wurden das Stichwort, auf das die russische Gesellschaft
abgerichtet wurde, die russische äußere Politik eingestellt war.

Diese zu Gunsten einer populären nationalistischen Politik verfolgte bewußte
Abkehr von: Osten und Zuwendung gegen den Westen, die bis zum Extrem
durchgeführt früher oder später einmal zu einem Zusammenstoß mit den west¬
lichen Mittelmächten führen mußte, wurde von England gewünscht und be¬
günstigt, das zur nötigen Zeit, wie Fürst G. Trubetzkoi in seinem bekannten
Buche "Rußland als Großmacht" feststellt, "den dazu notwendigen Druck auf
Japan während der Frtedensverhandlungen ausübte". Von diesem Moment
an wurde die nationalistische Politik Rußlands auch für uns direkt gefährlich.
Die Annäherung Rußland-England war die zweite große Etappe auf dem
Wege der Verwirklichung der Stolypinschen weitausschauenden Gedanken, sie
war aber auch zugleich der verhängnisvolle Wendepunkt, denn von dem Moment
ab hatte Rußland nicht mehr die Frage über Krieg oder Frieden ganz allein
fest in der Hand.

Die dritte Etappe, die Stolvpins Nachfolger als sein wohl ungewolltes
Vermächtnis übernahm, war der Krieg mit Deutschland und Österreich-
Ungarn.


Lin Aapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

Das geschah durch „Ausgabe der neuen Losung eines größeren Rußland",
durch Jnaugurierung der nationalistischen Politik im Innern (der Verfolgung
der sogenannten Fremdvölker wie Finnen, Deutsche usw.) und der imperalistischen
Politik nach außen. Man hat es in Rußland stets beobachten können, daß in
einer Beziehung dem Volke größere Rede« und Debattierfreiheit zugestanden
wurde, als dies sogar in den westlichen Ländern der Fall zu sein pflegt —
nämlich auf dem Gebiete der äußeren Politik, mit deren Problemen die russische
Publizistik sich von jeher immer eifrig beschäftigt hat. Das Motiv dafür war
der alte Wunsch der russischen Regierung, eine Ablenkung der russischen Gesell¬
schaft von den innerpolitischen Tagesfragen herbeizuführen. Ganz in derselben
Richtung ging Stolypin. Er hat auch hier in großem Stile gearbeitet. Eine
große Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Regierung sollte geschaffen
werden. Die nationalistische Politik, die imperalistische nach außen sollte das
Banner sein, um das sich Intelligenz und Regierung gemeinsam scharen konnten.
Die Partei der Nationalisten in der Duma wurde die eigentliche Stütze der
Regierung, ein Mann wie Graf Bobrinsky, der Befreier Galiziens und spätere
Statthalter der Russen in Lemberg, wurde einer der populärsten Männer in
Nußland. Eine rührige auswärtige Politik, die ganz von allslawischen Ideen
beseelt war, setzte ein. Der russische Rubel arbeitete in den österreichischen
Landen, in Böhmen, in Galizien, in Kroatien. Serbien sollte der Hebel
werden, von wo aus Österreich zertrümmert und die allslavische Politik Ru߬
lands ihren Zielen nähergebracht werden sollte. Es folgte eine ganz bewußte
Abkehr von Problemen des fernen Ostens: Zargrad, die Meerengen als das
Ausfallstor für Rußland, als der Schlüssel zur Beherrschung der slavischen
Länder am Balkan, wurden das Stichwort, auf das die russische Gesellschaft
abgerichtet wurde, die russische äußere Politik eingestellt war.

Diese zu Gunsten einer populären nationalistischen Politik verfolgte bewußte
Abkehr von: Osten und Zuwendung gegen den Westen, die bis zum Extrem
durchgeführt früher oder später einmal zu einem Zusammenstoß mit den west¬
lichen Mittelmächten führen mußte, wurde von England gewünscht und be¬
günstigt, das zur nötigen Zeit, wie Fürst G. Trubetzkoi in seinem bekannten
Buche „Rußland als Großmacht" feststellt, „den dazu notwendigen Druck auf
Japan während der Frtedensverhandlungen ausübte". Von diesem Moment
an wurde die nationalistische Politik Rußlands auch für uns direkt gefährlich.
Die Annäherung Rußland-England war die zweite große Etappe auf dem
Wege der Verwirklichung der Stolypinschen weitausschauenden Gedanken, sie
war aber auch zugleich der verhängnisvolle Wendepunkt, denn von dem Moment
ab hatte Rußland nicht mehr die Frage über Krieg oder Frieden ganz allein
fest in der Hand.

Die dritte Etappe, die Stolvpins Nachfolger als sein wohl ungewolltes
Vermächtnis übernahm, war der Krieg mit Deutschland und Österreich-
Ungarn.


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[0395] Lin Aapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges Das geschah durch „Ausgabe der neuen Losung eines größeren Rußland", durch Jnaugurierung der nationalistischen Politik im Innern (der Verfolgung der sogenannten Fremdvölker wie Finnen, Deutsche usw.) und der imperalistischen Politik nach außen. Man hat es in Rußland stets beobachten können, daß in einer Beziehung dem Volke größere Rede« und Debattierfreiheit zugestanden wurde, als dies sogar in den westlichen Ländern der Fall zu sein pflegt — nämlich auf dem Gebiete der äußeren Politik, mit deren Problemen die russische Publizistik sich von jeher immer eifrig beschäftigt hat. Das Motiv dafür war der alte Wunsch der russischen Regierung, eine Ablenkung der russischen Gesell¬ schaft von den innerpolitischen Tagesfragen herbeizuführen. Ganz in derselben Richtung ging Stolypin. Er hat auch hier in großem Stile gearbeitet. Eine große Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Regierung sollte geschaffen werden. Die nationalistische Politik, die imperalistische nach außen sollte das Banner sein, um das sich Intelligenz und Regierung gemeinsam scharen konnten. Die Partei der Nationalisten in der Duma wurde die eigentliche Stütze der Regierung, ein Mann wie Graf Bobrinsky, der Befreier Galiziens und spätere Statthalter der Russen in Lemberg, wurde einer der populärsten Männer in Nußland. Eine rührige auswärtige Politik, die ganz von allslawischen Ideen beseelt war, setzte ein. Der russische Rubel arbeitete in den österreichischen Landen, in Böhmen, in Galizien, in Kroatien. Serbien sollte der Hebel werden, von wo aus Österreich zertrümmert und die allslavische Politik Ru߬ lands ihren Zielen nähergebracht werden sollte. Es folgte eine ganz bewußte Abkehr von Problemen des fernen Ostens: Zargrad, die Meerengen als das Ausfallstor für Rußland, als der Schlüssel zur Beherrschung der slavischen Länder am Balkan, wurden das Stichwort, auf das die russische Gesellschaft abgerichtet wurde, die russische äußere Politik eingestellt war. Diese zu Gunsten einer populären nationalistischen Politik verfolgte bewußte Abkehr von: Osten und Zuwendung gegen den Westen, die bis zum Extrem durchgeführt früher oder später einmal zu einem Zusammenstoß mit den west¬ lichen Mittelmächten führen mußte, wurde von England gewünscht und be¬ günstigt, das zur nötigen Zeit, wie Fürst G. Trubetzkoi in seinem bekannten Buche „Rußland als Großmacht" feststellt, „den dazu notwendigen Druck auf Japan während der Frtedensverhandlungen ausübte". Von diesem Moment an wurde die nationalistische Politik Rußlands auch für uns direkt gefährlich. Die Annäherung Rußland-England war die zweite große Etappe auf dem Wege der Verwirklichung der Stolypinschen weitausschauenden Gedanken, sie war aber auch zugleich der verhängnisvolle Wendepunkt, denn von dem Moment ab hatte Rußland nicht mehr die Frage über Krieg oder Frieden ganz allein fest in der Hand. Die dritte Etappe, die Stolvpins Nachfolger als sein wohl ungewolltes Vermächtnis übernahm, war der Krieg mit Deutschland und Österreich- Ungarn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/395>, abgerufen am 22.07.2024.