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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Ein Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

gekettet wird als durch einen Sturm von außen, und sollte das nicht der jüngste
Attache in unserem diplomatischen Dienste gewußt haben? Hat nicht unsere
eigene Geschichte uns gezeigt, daß der den Deutschen angeborene Stammeshader
in den großen Kämpfen verschwunden ist, die wir zur Befreiung unseres Landes
von äußerem Drucke führen mußten? Nur ein Engländer, der die Geschichte
des Kontinents von dem Gesichtspunkte des Zerfleischens der Festlandsmächte
zum Vorteil Großbritanniens betrachtet und dem das äiviäe et impsra die
Maxime aller Politik ist, konnte auf den absurden Gedanken kommen, daß wir
dnrch einen Krieg die momentane innere Zwietracht Englands oder Rußlands
hätten ausnutzen wollen. Umgekehrt aber ist das Rezept schon öfter in der
Geschichte ausprobiert worden, nämlich Kriegführung nach außen, um innere
Gegensätze, die man auf andere Weise nicht mehr verhindern kann, auszugleichen.
Wenn man eine nach außen wirksame nationale Parole hervorsuchen kann, so
besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß auch der größte innere natio¬
nale Gegensatz zurücktritt oder verschwindet. So find die Kriege, die Napo¬
leon III. geführt hat, zum großen Teile mit zu erklären aus den innerpoliti¬
schen Situationen in Frankreich, die den Kaiser nötigten, wenn nicht die Dy¬
nastie bedroht werden sollte, einen Ausweg nach außen zu suchen*).

England hätte die Fabel von der Absicht Deutschlands, die Ulsterbewegung
auszunutzen, niemals erfunden, wenn es nicht die Aufmerksamkeit der Welt
ablenken wollte von einem der Nebenmotive, die das englische Kabinett mit
Zum Kriege veranlaßten. Denn -- wir dürfen es annehmen -- die Unmög¬
lichkeit, diese Krise anders als durch einen Bürgerkrieg zu enden, war ein wich¬
tiger Grund, der sowohl das am Ruder befindliche englische Kabinett als die
Führer der Opposition die Möglichkeit, ja die Erwünschtheit des Krieges leichter
ins Auge fassen ließ, als sie das getan hätten, wenn in England alles in Ord¬
nung gewesen wäre. Mehr will ich bezüglich Englands nicht behaupten.

Ich wollte aber von Rußland sprechen. Hier lag die Situation erheblich
anders. Das Jahr 1905 hatte die russische Revolution gebracht. Das Oktober-
Manifest war dem Zaren vom Volke abgetrotzt worden. Die Verfassung folgte.
Nur schwer hatten sich der Zar und die ihn umgebende Clique dazu entschlossen,
dem Volke entgegenzukommen. Das Oktobermanifest blieb jedoch ein "Fetzen
Papier" und Rußland eine Schein Monarchie, in der nach wie vor der absolute
Zar sich nicht einmal dem Namen nach von dem ererbten Selbstherrschertum
trennen wollte, in dem die herrschende und immer gewinnsüchtige Bürokratie
und Adelsclique nur ein Bestreben kannten, ihre eigene Macht möglichst wieder
zu^ befestigen und auszubauen. Die Kontrerevolution, das Stolypinsche Wahl¬
gesetz und die Stolypinsche Ära folgten auf die Revolution. Schrittweise



*) Vergl. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. 1, S. 63, "es ist ja ein nament¬
lich in der französischen Politik gebräuchliches Mittel, innere Schwierigkeiten durch Kriege zu
überwinden".
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Ein Kapitel zur Entstehungsgeschichte des Krieges

gekettet wird als durch einen Sturm von außen, und sollte das nicht der jüngste
Attache in unserem diplomatischen Dienste gewußt haben? Hat nicht unsere
eigene Geschichte uns gezeigt, daß der den Deutschen angeborene Stammeshader
in den großen Kämpfen verschwunden ist, die wir zur Befreiung unseres Landes
von äußerem Drucke führen mußten? Nur ein Engländer, der die Geschichte
des Kontinents von dem Gesichtspunkte des Zerfleischens der Festlandsmächte
zum Vorteil Großbritanniens betrachtet und dem das äiviäe et impsra die
Maxime aller Politik ist, konnte auf den absurden Gedanken kommen, daß wir
dnrch einen Krieg die momentane innere Zwietracht Englands oder Rußlands
hätten ausnutzen wollen. Umgekehrt aber ist das Rezept schon öfter in der
Geschichte ausprobiert worden, nämlich Kriegführung nach außen, um innere
Gegensätze, die man auf andere Weise nicht mehr verhindern kann, auszugleichen.
Wenn man eine nach außen wirksame nationale Parole hervorsuchen kann, so
besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß auch der größte innere natio¬
nale Gegensatz zurücktritt oder verschwindet. So find die Kriege, die Napo¬
leon III. geführt hat, zum großen Teile mit zu erklären aus den innerpoliti¬
schen Situationen in Frankreich, die den Kaiser nötigten, wenn nicht die Dy¬
nastie bedroht werden sollte, einen Ausweg nach außen zu suchen*).

England hätte die Fabel von der Absicht Deutschlands, die Ulsterbewegung
auszunutzen, niemals erfunden, wenn es nicht die Aufmerksamkeit der Welt
ablenken wollte von einem der Nebenmotive, die das englische Kabinett mit
Zum Kriege veranlaßten. Denn — wir dürfen es annehmen — die Unmög¬
lichkeit, diese Krise anders als durch einen Bürgerkrieg zu enden, war ein wich¬
tiger Grund, der sowohl das am Ruder befindliche englische Kabinett als die
Führer der Opposition die Möglichkeit, ja die Erwünschtheit des Krieges leichter
ins Auge fassen ließ, als sie das getan hätten, wenn in England alles in Ord¬
nung gewesen wäre. Mehr will ich bezüglich Englands nicht behaupten.

Ich wollte aber von Rußland sprechen. Hier lag die Situation erheblich
anders. Das Jahr 1905 hatte die russische Revolution gebracht. Das Oktober-
Manifest war dem Zaren vom Volke abgetrotzt worden. Die Verfassung folgte.
Nur schwer hatten sich der Zar und die ihn umgebende Clique dazu entschlossen,
dem Volke entgegenzukommen. Das Oktobermanifest blieb jedoch ein „Fetzen
Papier" und Rußland eine Schein Monarchie, in der nach wie vor der absolute
Zar sich nicht einmal dem Namen nach von dem ererbten Selbstherrschertum
trennen wollte, in dem die herrschende und immer gewinnsüchtige Bürokratie
und Adelsclique nur ein Bestreben kannten, ihre eigene Macht möglichst wieder
zu^ befestigen und auszubauen. Die Kontrerevolution, das Stolypinsche Wahl¬
gesetz und die Stolypinsche Ära folgten auf die Revolution. Schrittweise



*) Vergl. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. 1, S. 63, „es ist ja ein nament¬
lich in der französischen Politik gebräuchliches Mittel, innere Schwierigkeiten durch Kriege zu
überwinden".
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/393>, abgerufen am 22.07.2024.