Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

beruflicher Grundlage erfolgt: es sind hier die Kaufleute einerseits, die Hand¬
werker andrerseits, die sich zu "Gilden", die bei den Handwerkern wieder in
berufliche "Ämter" zerfallen, zusammengeschlossen haben. Organisation und
Bezeichnungen, die übrigens in den verschiedenen Städten verschieden sind, sind
noch die im Mtttelalter üblichen. Die alten "schrägen" (Statuten) und Bräuche
sind noch in Kraft. Die beiden Gilden zusammen bilden die "Bürgerschaft".
Auf sie war wie überall auch in Deutschland die Stadtverfassung aufgebaut.
Bei der Einführung der Gewerbefreiheit und der russischen Stadtordnung ver¬
lor die Bürgerschaft natürlich ihre Bedeutung. Man wird aber gut tun, ihren
Einfluß auch heute nicht zu unterschätzen. Ein wichtiges Recht hat sie sich be¬
wahrt: sie wählt in den Städten noch heute den Pastor der deutschen Ge¬
meinde. Die Gilden sind zum Teil mächtige Institutionen mit großen Mitteln,
Sparkassen*), Unterstützungsfonds, Stiften, Stipendien. Die "große" (Kauf¬
manns-) Gilde in Riga gibt z. B. jährlich 60000 Rubel zur Unterstützung
des deutschen Theaters in Riga aus. (Winter 1913--14 waren es 63091
Rubel).

Daß diese drei Stände sich nicht abgeschlossen gegenüberstehen, ist schon
bemerkt worden. Eine Reihe von Interessen, vor allem die nationalen, ver¬
einigt sie in gemeinsamer Arbeit in Wohlfahrts-, Kunst- und Sportvereine",
vor allem im Deutschen Verein. Auch in geselligen Vereinen trifft man zu¬
sammen: fast jede kurische Stadt hat einen solchen "Handwerker"- oder "Ge¬
werbeverein" (in Livland meist "Muße" genannt). Der Name ist für die
Entstehung bezeichnend. Diese Vereine unterhalten Klubräume, eine Bibliothek,
ein Billard, ein Zeitschriftenzimmer, und gewöhnlich einen Saal mit Bühne,
wo alle geselligen Feste und Theatervorstellungen des Ortes stattzufinden pflegen.
Diese Vereinslokale ersetzen dem Ballen die Restauration oder das Cas6, die
in den meisten Städten überhaupt fehlen. Mitglieder dieser Vereine sind Per¬
sonen aller drei Stände, während Edelleute und Literaten die sogenannten
"Klubs" für sich unterhalten.

Wir geben nun im Folgenden einige Daten darüber, wie die verschiedenen
Nationalitäten in den drei wichtigsten Berufen vertreten sind: es ist selbstver¬
ständlich, daß diese Zahlen, wenn sie auch nach Möglichkeit gewissenhaft aufge¬
stellt sind, nicht absolut zuverlässig sind.

Pastore:
In Kurland 1910 74 Deutsch- ---- 82,23 Prozent
16 Letten 17,77 Prozent

Der geringe Prozentsatz der Letten ist um so bemerkenswerter, als das
Gros der Protestanten in Kurland Letten sind, nämlich etwa 500000 gegen¬
über etwa 50000 deutschen Protestanten.



*) Der Umsatz der Sparkasse der "kleinen" Gilde, d. h, der Handwerkergilde ("Se.
KohanniSgilde") in Riga betrug 1913 7780962 Rubel.

beruflicher Grundlage erfolgt: es sind hier die Kaufleute einerseits, die Hand¬
werker andrerseits, die sich zu „Gilden", die bei den Handwerkern wieder in
berufliche „Ämter" zerfallen, zusammengeschlossen haben. Organisation und
Bezeichnungen, die übrigens in den verschiedenen Städten verschieden sind, sind
noch die im Mtttelalter üblichen. Die alten „schrägen" (Statuten) und Bräuche
sind noch in Kraft. Die beiden Gilden zusammen bilden die „Bürgerschaft".
Auf sie war wie überall auch in Deutschland die Stadtverfassung aufgebaut.
Bei der Einführung der Gewerbefreiheit und der russischen Stadtordnung ver¬
lor die Bürgerschaft natürlich ihre Bedeutung. Man wird aber gut tun, ihren
Einfluß auch heute nicht zu unterschätzen. Ein wichtiges Recht hat sie sich be¬
wahrt: sie wählt in den Städten noch heute den Pastor der deutschen Ge¬
meinde. Die Gilden sind zum Teil mächtige Institutionen mit großen Mitteln,
Sparkassen*), Unterstützungsfonds, Stiften, Stipendien. Die „große" (Kauf¬
manns-) Gilde in Riga gibt z. B. jährlich 60000 Rubel zur Unterstützung
des deutschen Theaters in Riga aus. (Winter 1913—14 waren es 63091
Rubel).

Daß diese drei Stände sich nicht abgeschlossen gegenüberstehen, ist schon
bemerkt worden. Eine Reihe von Interessen, vor allem die nationalen, ver¬
einigt sie in gemeinsamer Arbeit in Wohlfahrts-, Kunst- und Sportvereine»,
vor allem im Deutschen Verein. Auch in geselligen Vereinen trifft man zu¬
sammen: fast jede kurische Stadt hat einen solchen „Handwerker"- oder „Ge¬
werbeverein" (in Livland meist „Muße" genannt). Der Name ist für die
Entstehung bezeichnend. Diese Vereine unterhalten Klubräume, eine Bibliothek,
ein Billard, ein Zeitschriftenzimmer, und gewöhnlich einen Saal mit Bühne,
wo alle geselligen Feste und Theatervorstellungen des Ortes stattzufinden pflegen.
Diese Vereinslokale ersetzen dem Ballen die Restauration oder das Cas6, die
in den meisten Städten überhaupt fehlen. Mitglieder dieser Vereine sind Per¬
sonen aller drei Stände, während Edelleute und Literaten die sogenannten
„Klubs" für sich unterhalten.

Wir geben nun im Folgenden einige Daten darüber, wie die verschiedenen
Nationalitäten in den drei wichtigsten Berufen vertreten sind: es ist selbstver¬
ständlich, daß diese Zahlen, wenn sie auch nach Möglichkeit gewissenhaft aufge¬
stellt sind, nicht absolut zuverlässig sind.

Pastore:
In Kurland 1910 74 Deutsch- ---- 82,23 Prozent
16 Letten 17,77 Prozent

Der geringe Prozentsatz der Letten ist um so bemerkenswerter, als das
Gros der Protestanten in Kurland Letten sind, nämlich etwa 500000 gegen¬
über etwa 50000 deutschen Protestanten.



*) Der Umsatz der Sparkasse der „kleinen" Gilde, d. h, der Handwerkergilde („Se.
KohanniSgilde") in Riga betrug 1913 7780962 Rubel.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/324765"/>
            <fw type="header" place="top"/><lb/>
            <p xml:id="ID_1263" prev="#ID_1262"> beruflicher Grundlage erfolgt: es sind hier die Kaufleute einerseits, die Hand¬<lb/>
werker andrerseits, die sich zu &#x201E;Gilden", die bei den Handwerkern wieder in<lb/>
berufliche &#x201E;Ämter" zerfallen, zusammengeschlossen haben. Organisation und<lb/>
Bezeichnungen, die übrigens in den verschiedenen Städten verschieden sind, sind<lb/>
noch die im Mtttelalter üblichen. Die alten &#x201E;schrägen" (Statuten) und Bräuche<lb/>
sind noch in Kraft. Die beiden Gilden zusammen bilden die &#x201E;Bürgerschaft".<lb/>
Auf sie war wie überall auch in Deutschland die Stadtverfassung aufgebaut.<lb/>
Bei der Einführung der Gewerbefreiheit und der russischen Stadtordnung ver¬<lb/>
lor die Bürgerschaft natürlich ihre Bedeutung. Man wird aber gut tun, ihren<lb/>
Einfluß auch heute nicht zu unterschätzen. Ein wichtiges Recht hat sie sich be¬<lb/>
wahrt: sie wählt in den Städten noch heute den Pastor der deutschen Ge¬<lb/>
meinde. Die Gilden sind zum Teil mächtige Institutionen mit großen Mitteln,<lb/>
Sparkassen*), Unterstützungsfonds, Stiften, Stipendien. Die &#x201E;große" (Kauf¬<lb/>
manns-) Gilde in Riga gibt z. B. jährlich 60000 Rubel zur Unterstützung<lb/>
des deutschen Theaters in Riga aus. (Winter 1913&#x2014;14 waren es 63091<lb/>
Rubel).</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1264"> Daß diese drei Stände sich nicht abgeschlossen gegenüberstehen, ist schon<lb/>
bemerkt worden. Eine Reihe von Interessen, vor allem die nationalen, ver¬<lb/>
einigt sie in gemeinsamer Arbeit in Wohlfahrts-, Kunst- und Sportvereine»,<lb/>
vor allem im Deutschen Verein. Auch in geselligen Vereinen trifft man zu¬<lb/>
sammen: fast jede kurische Stadt hat einen solchen &#x201E;Handwerker"- oder &#x201E;Ge¬<lb/>
werbeverein" (in Livland meist &#x201E;Muße" genannt). Der Name ist für die<lb/>
Entstehung bezeichnend. Diese Vereine unterhalten Klubräume, eine Bibliothek,<lb/>
ein Billard, ein Zeitschriftenzimmer, und gewöhnlich einen Saal mit Bühne,<lb/>
wo alle geselligen Feste und Theatervorstellungen des Ortes stattzufinden pflegen.<lb/>
Diese Vereinslokale ersetzen dem Ballen die Restauration oder das Cas6, die<lb/>
in den meisten Städten überhaupt fehlen. Mitglieder dieser Vereine sind Per¬<lb/>
sonen aller drei Stände, während Edelleute und Literaten die sogenannten<lb/>
&#x201E;Klubs" für sich unterhalten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1265"> Wir geben nun im Folgenden einige Daten darüber, wie die verschiedenen<lb/>
Nationalitäten in den drei wichtigsten Berufen vertreten sind: es ist selbstver¬<lb/>
ständlich, daß diese Zahlen, wenn sie auch nach Möglichkeit gewissenhaft aufge¬<lb/>
stellt sind, nicht absolut zuverlässig sind.</p><lb/>
            <div n="3">
              <head> Pastore:</head><lb/>
              <list>
                <item> In Kurland 1910 74 Deutsch- ---- 82,23 Prozent</item>
                <item> 16 Letten    17,77 Prozent</item>
              </list><lb/>
              <p xml:id="ID_1266"> Der geringe Prozentsatz der Letten ist um so bemerkenswerter, als das<lb/>
Gros der Protestanten in Kurland Letten sind, nämlich etwa 500000 gegen¬<lb/>
über etwa 50000 deutschen Protestanten.</p><lb/>
              <note xml:id="FID_85" place="foot"> *) Der Umsatz der Sparkasse der &#x201E;kleinen" Gilde, d. h, der Handwerkergilde (&#x201E;Se.<lb/>
KohanniSgilde") in Riga betrug 1913 7780962 Rubel.</note><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0352] beruflicher Grundlage erfolgt: es sind hier die Kaufleute einerseits, die Hand¬ werker andrerseits, die sich zu „Gilden", die bei den Handwerkern wieder in berufliche „Ämter" zerfallen, zusammengeschlossen haben. Organisation und Bezeichnungen, die übrigens in den verschiedenen Städten verschieden sind, sind noch die im Mtttelalter üblichen. Die alten „schrägen" (Statuten) und Bräuche sind noch in Kraft. Die beiden Gilden zusammen bilden die „Bürgerschaft". Auf sie war wie überall auch in Deutschland die Stadtverfassung aufgebaut. Bei der Einführung der Gewerbefreiheit und der russischen Stadtordnung ver¬ lor die Bürgerschaft natürlich ihre Bedeutung. Man wird aber gut tun, ihren Einfluß auch heute nicht zu unterschätzen. Ein wichtiges Recht hat sie sich be¬ wahrt: sie wählt in den Städten noch heute den Pastor der deutschen Ge¬ meinde. Die Gilden sind zum Teil mächtige Institutionen mit großen Mitteln, Sparkassen*), Unterstützungsfonds, Stiften, Stipendien. Die „große" (Kauf¬ manns-) Gilde in Riga gibt z. B. jährlich 60000 Rubel zur Unterstützung des deutschen Theaters in Riga aus. (Winter 1913—14 waren es 63091 Rubel). Daß diese drei Stände sich nicht abgeschlossen gegenüberstehen, ist schon bemerkt worden. Eine Reihe von Interessen, vor allem die nationalen, ver¬ einigt sie in gemeinsamer Arbeit in Wohlfahrts-, Kunst- und Sportvereine», vor allem im Deutschen Verein. Auch in geselligen Vereinen trifft man zu¬ sammen: fast jede kurische Stadt hat einen solchen „Handwerker"- oder „Ge¬ werbeverein" (in Livland meist „Muße" genannt). Der Name ist für die Entstehung bezeichnend. Diese Vereine unterhalten Klubräume, eine Bibliothek, ein Billard, ein Zeitschriftenzimmer, und gewöhnlich einen Saal mit Bühne, wo alle geselligen Feste und Theatervorstellungen des Ortes stattzufinden pflegen. Diese Vereinslokale ersetzen dem Ballen die Restauration oder das Cas6, die in den meisten Städten überhaupt fehlen. Mitglieder dieser Vereine sind Per¬ sonen aller drei Stände, während Edelleute und Literaten die sogenannten „Klubs" für sich unterhalten. Wir geben nun im Folgenden einige Daten darüber, wie die verschiedenen Nationalitäten in den drei wichtigsten Berufen vertreten sind: es ist selbstver¬ ständlich, daß diese Zahlen, wenn sie auch nach Möglichkeit gewissenhaft aufge¬ stellt sind, nicht absolut zuverlässig sind. Pastore: In Kurland 1910 74 Deutsch- ---- 82,23 Prozent 16 Letten 17,77 Prozent Der geringe Prozentsatz der Letten ist um so bemerkenswerter, als das Gros der Protestanten in Kurland Letten sind, nämlich etwa 500000 gegen¬ über etwa 50000 deutschen Protestanten. *) Der Umsatz der Sparkasse der „kleinen" Gilde, d. h, der Handwerkergilde („Se. KohanniSgilde") in Riga betrug 1913 7780962 Rubel.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/352
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/352>, abgerufen am 27.12.2024.