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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Aus der "ob>,'mi.'!i Ästhetik

künstlerische Schaffen. Es ist dargestellt, wie dasselbe in viel geringerem Maße
als das reine Genießen ein rein ästhetischer Vorgang ist. Nur eine Seite
daran ist ästhetisch, die andere ist praktischer Art, sie will Wirkung erzielen und
ist Arbeit. Ein Übermaß von theoretischen! Geist hat das Geheimnis des
Schaffens fortzubringen versucht, zumeist durch Rückgang auf das Unterbewußtsein,
neuerdings in der Regel von Freud dabei ausgehend. Auch Müller-Freienfels
betont die Rolle des Unterbewußtseins, aber er läßt das Geheimnis der "Gunst
der Stunde" unzerstört bestehen. Ein noch stärkeres Zeugnis für seine Vertrautheit
mit dem Schaffensprozeß ist seine Betonung der Arbeit. Das Bild des Künstlers,
der in Begeisterung ans dem Nichts heraus schafft, ist von der Kritik zerstört,
so sehr es auch noch in den Herzen der Leser leben mag. Damit die "Gunst
derStunde" zu etwas führt, bedarf es laugerVorbereitung mrdMaterialsammlung.
Und selbst die Einfälle, die Erzeugnisse der Phantasie müssen erst dein kritischen
Urteil unterworfen werden, ehe aus ihnen ein Kunstwerk zustande kommt.

Die Kenntnis auch des Technischen offenbart der Verfasser, wo er uns ein
System der Formen der Künste entwickelt, sie der Reihe nach durchschreitend
von der Musik an durch die Dichtkunst hindurch bis zu den Augenkünsten, wie
er die Kunstgebiete, die dem Gesichtssinn zugehören, nennt, -- auch hier den
individuellen Momenten gern nachgehend. Im Gegensatz zu manchem andern
Ästhetiker, wie Friedrich Theodor Bischer, reicht die eigene Erlebensfühigkeit des
Autors über das Gesamtbcreich der Kunst. Man hat nirgends den Eindruck
des um der Vollständigkeit willen cmgequälten Verständnisses.

Eben das ist es auch, was den Leser an dem Buch gefangen nimmt und
festhält auch da, wo er mit dem Autor nicht einverstanden sein kann. Das
Buch lebt. Ich bin am meisten an William James erinnert worden. Dieser
schrieb in ähnlicher Art -- man hört ihn sprechen -- und darum recht ein¬
drucksvoll. In den Büchern von James erscheint mir freilich dieser Stil nicht
immer angebracht. Über rein abstrakte, erkenntnistheoretische Fragen in dieser
Weise zu schreiben, empfinde ich als stilwidrig. Wo es sich um ein so mit
dem Leben als Ganzem zusammenhängendes Gebiet wie die Kunst handelt, ist
es anders, zumal das Buch Müller-Freienfels' sich an einen weiteren Kreis
wendet und der weitere Kreis oft erst mitgerissen werden muß. Aber noch
etwas anderes kommt hinzu und rechtfertigt die Lebendigkeit: daß der Autor
den Standpunkt des I'art pour I'art. der Loslösung der Kunst vom Leben
bekämpft. Er sieht die Wirkung und die Eristenzrechtfertigung der Kunst in
der Steigerung der Intensität des Lebens überhaupt. Weniger glücklich
scheint es mir freilich, wenn er diese Steigerung biologisch deutet. Meines
Erachtens handelt es sich doch weit mehr um eine Steigerung, eine Erhöhung
des Wertgehaltes des Lebens, was nicht gleichbedeutend mit biologischer, d. h.
Selbsterhaltungssteigerung ist. Ich berühre hier eine Seite des Buches,
der ich von meinem Standpunkt aus nicht zustimmen kann: die Hinneigung
des Verfassers zu gewissen psychologisch-philosophischen, theoretischen Grund-


Aus der »ob>,'mi.'!i Ästhetik

künstlerische Schaffen. Es ist dargestellt, wie dasselbe in viel geringerem Maße
als das reine Genießen ein rein ästhetischer Vorgang ist. Nur eine Seite
daran ist ästhetisch, die andere ist praktischer Art, sie will Wirkung erzielen und
ist Arbeit. Ein Übermaß von theoretischen! Geist hat das Geheimnis des
Schaffens fortzubringen versucht, zumeist durch Rückgang auf das Unterbewußtsein,
neuerdings in der Regel von Freud dabei ausgehend. Auch Müller-Freienfels
betont die Rolle des Unterbewußtseins, aber er läßt das Geheimnis der „Gunst
der Stunde" unzerstört bestehen. Ein noch stärkeres Zeugnis für seine Vertrautheit
mit dem Schaffensprozeß ist seine Betonung der Arbeit. Das Bild des Künstlers,
der in Begeisterung ans dem Nichts heraus schafft, ist von der Kritik zerstört,
so sehr es auch noch in den Herzen der Leser leben mag. Damit die „Gunst
derStunde" zu etwas führt, bedarf es laugerVorbereitung mrdMaterialsammlung.
Und selbst die Einfälle, die Erzeugnisse der Phantasie müssen erst dein kritischen
Urteil unterworfen werden, ehe aus ihnen ein Kunstwerk zustande kommt.

Die Kenntnis auch des Technischen offenbart der Verfasser, wo er uns ein
System der Formen der Künste entwickelt, sie der Reihe nach durchschreitend
von der Musik an durch die Dichtkunst hindurch bis zu den Augenkünsten, wie
er die Kunstgebiete, die dem Gesichtssinn zugehören, nennt, — auch hier den
individuellen Momenten gern nachgehend. Im Gegensatz zu manchem andern
Ästhetiker, wie Friedrich Theodor Bischer, reicht die eigene Erlebensfühigkeit des
Autors über das Gesamtbcreich der Kunst. Man hat nirgends den Eindruck
des um der Vollständigkeit willen cmgequälten Verständnisses.

Eben das ist es auch, was den Leser an dem Buch gefangen nimmt und
festhält auch da, wo er mit dem Autor nicht einverstanden sein kann. Das
Buch lebt. Ich bin am meisten an William James erinnert worden. Dieser
schrieb in ähnlicher Art — man hört ihn sprechen — und darum recht ein¬
drucksvoll. In den Büchern von James erscheint mir freilich dieser Stil nicht
immer angebracht. Über rein abstrakte, erkenntnistheoretische Fragen in dieser
Weise zu schreiben, empfinde ich als stilwidrig. Wo es sich um ein so mit
dem Leben als Ganzem zusammenhängendes Gebiet wie die Kunst handelt, ist
es anders, zumal das Buch Müller-Freienfels' sich an einen weiteren Kreis
wendet und der weitere Kreis oft erst mitgerissen werden muß. Aber noch
etwas anderes kommt hinzu und rechtfertigt die Lebendigkeit: daß der Autor
den Standpunkt des I'art pour I'art. der Loslösung der Kunst vom Leben
bekämpft. Er sieht die Wirkung und die Eristenzrechtfertigung der Kunst in
der Steigerung der Intensität des Lebens überhaupt. Weniger glücklich
scheint es mir freilich, wenn er diese Steigerung biologisch deutet. Meines
Erachtens handelt es sich doch weit mehr um eine Steigerung, eine Erhöhung
des Wertgehaltes des Lebens, was nicht gleichbedeutend mit biologischer, d. h.
Selbsterhaltungssteigerung ist. Ich berühre hier eine Seite des Buches,
der ich von meinem Standpunkt aus nicht zustimmen kann: die Hinneigung
des Verfassers zu gewissen psychologisch-philosophischen, theoretischen Grund-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/325>, abgerufen am 22.07.2024.