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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Aus der modernen Ästhetik

find entsprechend der geistigen Zeitlage trocken und innerlich arm, sodaß der
in Kunst lebende Mensch sich von ihnen abwendet. Alle andre Ästhetik hat
einen kunsthistorischen oder psychologischen Zug an sich. Je nach Neigung
und Bildungsgang tritt beim Ästhetiker das eine oder das andere Moment hervor.
Müller-Freienfels gehört auf die psychologische Seite. Seine Tendenzen sind
auf eine Vertiefung der Psychologie der Kunst gerichtet. Zwar bezeichnet er
diese ausdrücklich als nur die eine Seite der ästhetischen Gesamtwissenschaft,
neben der die andere Seite die normative Ästhetik ist. Aber er lehnt diese für
sich selbst ab, seine Aufgabe ist die Erforschung dessen, was ist, nicht die De¬
kretierung dessen, was sein soll. Die Freude des positiven Forschens an dem
Reichtum der Wirklichkeit ist in ihm so stark, daß er eine gewisse instinktive
Abneigung empfindet, dem, was kommen will, im voraus Gesetze aufzuerlegen.
Die Tendenz der Gegenwart zu freier Ungebundenheit und Weitung des Lebens
macht sich hier geltend.

Was Miiller-Freienfels vor Fechner voraus hat, ist einmal der Fortschritt,
den die psychologische Analyse seit Fechners Tagen gemacht hat. Die weit¬
gehende Verfeinerung der Zergliederung des psychischen Geschehens kommt auch der
Beschreibung und Erfassung der ästhetischen Phänomene zu gute. Höher aber
noch möchte ich die reichen kunst- und literaturgeschichtlichen Kenntnisse Müller-
Freienfels' anschlagen und ihren starken Erlebnischarakter in ihm. Fechner
war wesentlich, ja einseitig, Naturforscher. Er war es in einem Maße, daß der
Besuch Roms, wie wir von ihm wissen, keinen Eindruck auf ihn gemacht hat.
Die historische Welt lag ganz außerhalb seines Fassungskreises. Er kam zur
Kunst, wie Kant zur Ästhetik gekommen ist, aus rein theoretischem Interesse,
ohne stärkere persönliche Anteilnahme an ihr. Müller-Freienfels lebt in ihr.
Und er lebt in der Kunst wie nur der moderne Mensch in ihr lebt und noch
keine andere Generation es vor uns tat: bestrebt überall in sie einzudringen,
in die Literatur unserer Zeit zu allererst, nicht die eigene allein, sondern auch
die der übrigen Kulturländer (eine ungewöhnliche Sprachbegabung erlaubt ihm
sogar überall, nicht bloß für Frankreich und England, die Originale zu lesen),
und daneben auch in die Kunst andrer Kulturen, wie die chinesische, aber auch
die der kulturlosen Völker. Denn das ist ja die Art der Unersättlichkeit unseres
Lebenshungers: wir wollen immer Neues, Anderes. So erklärt sich einmal der
unerhört raffinierte Charakter unserer eigenen literarischen Produktion, und auf
der andern Seite unser heißes Bemühen, mit zu erleben, was andere erleben:
der prähistorische Mensch, der Altchinese, der russische Bauernkünstler. Wir
möchten ausschöpfen, was an Erlebensmöglichkeiten überhaupt in uns liegt.

Es ist nun überaus merkwürdig, daß trotz dieses offensichtlichen Erlebnis-
reichtums nicht bloß der Menschheit überhaupt, sondern unserer selbst, dennoch
die Ästhetik im ganzen noch immer auf dem Standpunkt steht, daß zwar an
steh sehr vieles erfahren werden könne, aber ein und dasselbe Objekt von jedem
Individuum, wenn überhaupt, dann in gleichartiger Weise ästhetisch ergriffen


Aus der modernen Ästhetik

find entsprechend der geistigen Zeitlage trocken und innerlich arm, sodaß der
in Kunst lebende Mensch sich von ihnen abwendet. Alle andre Ästhetik hat
einen kunsthistorischen oder psychologischen Zug an sich. Je nach Neigung
und Bildungsgang tritt beim Ästhetiker das eine oder das andere Moment hervor.
Müller-Freienfels gehört auf die psychologische Seite. Seine Tendenzen sind
auf eine Vertiefung der Psychologie der Kunst gerichtet. Zwar bezeichnet er
diese ausdrücklich als nur die eine Seite der ästhetischen Gesamtwissenschaft,
neben der die andere Seite die normative Ästhetik ist. Aber er lehnt diese für
sich selbst ab, seine Aufgabe ist die Erforschung dessen, was ist, nicht die De¬
kretierung dessen, was sein soll. Die Freude des positiven Forschens an dem
Reichtum der Wirklichkeit ist in ihm so stark, daß er eine gewisse instinktive
Abneigung empfindet, dem, was kommen will, im voraus Gesetze aufzuerlegen.
Die Tendenz der Gegenwart zu freier Ungebundenheit und Weitung des Lebens
macht sich hier geltend.

Was Miiller-Freienfels vor Fechner voraus hat, ist einmal der Fortschritt,
den die psychologische Analyse seit Fechners Tagen gemacht hat. Die weit¬
gehende Verfeinerung der Zergliederung des psychischen Geschehens kommt auch der
Beschreibung und Erfassung der ästhetischen Phänomene zu gute. Höher aber
noch möchte ich die reichen kunst- und literaturgeschichtlichen Kenntnisse Müller-
Freienfels' anschlagen und ihren starken Erlebnischarakter in ihm. Fechner
war wesentlich, ja einseitig, Naturforscher. Er war es in einem Maße, daß der
Besuch Roms, wie wir von ihm wissen, keinen Eindruck auf ihn gemacht hat.
Die historische Welt lag ganz außerhalb seines Fassungskreises. Er kam zur
Kunst, wie Kant zur Ästhetik gekommen ist, aus rein theoretischem Interesse,
ohne stärkere persönliche Anteilnahme an ihr. Müller-Freienfels lebt in ihr.
Und er lebt in der Kunst wie nur der moderne Mensch in ihr lebt und noch
keine andere Generation es vor uns tat: bestrebt überall in sie einzudringen,
in die Literatur unserer Zeit zu allererst, nicht die eigene allein, sondern auch
die der übrigen Kulturländer (eine ungewöhnliche Sprachbegabung erlaubt ihm
sogar überall, nicht bloß für Frankreich und England, die Originale zu lesen),
und daneben auch in die Kunst andrer Kulturen, wie die chinesische, aber auch
die der kulturlosen Völker. Denn das ist ja die Art der Unersättlichkeit unseres
Lebenshungers: wir wollen immer Neues, Anderes. So erklärt sich einmal der
unerhört raffinierte Charakter unserer eigenen literarischen Produktion, und auf
der andern Seite unser heißes Bemühen, mit zu erleben, was andere erleben:
der prähistorische Mensch, der Altchinese, der russische Bauernkünstler. Wir
möchten ausschöpfen, was an Erlebensmöglichkeiten überhaupt in uns liegt.

Es ist nun überaus merkwürdig, daß trotz dieses offensichtlichen Erlebnis-
reichtums nicht bloß der Menschheit überhaupt, sondern unserer selbst, dennoch
die Ästhetik im ganzen noch immer auf dem Standpunkt steht, daß zwar an
steh sehr vieles erfahren werden könne, aber ein und dasselbe Objekt von jedem
Individuum, wenn überhaupt, dann in gleichartiger Weise ästhetisch ergriffen


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[0323] Aus der modernen Ästhetik find entsprechend der geistigen Zeitlage trocken und innerlich arm, sodaß der in Kunst lebende Mensch sich von ihnen abwendet. Alle andre Ästhetik hat einen kunsthistorischen oder psychologischen Zug an sich. Je nach Neigung und Bildungsgang tritt beim Ästhetiker das eine oder das andere Moment hervor. Müller-Freienfels gehört auf die psychologische Seite. Seine Tendenzen sind auf eine Vertiefung der Psychologie der Kunst gerichtet. Zwar bezeichnet er diese ausdrücklich als nur die eine Seite der ästhetischen Gesamtwissenschaft, neben der die andere Seite die normative Ästhetik ist. Aber er lehnt diese für sich selbst ab, seine Aufgabe ist die Erforschung dessen, was ist, nicht die De¬ kretierung dessen, was sein soll. Die Freude des positiven Forschens an dem Reichtum der Wirklichkeit ist in ihm so stark, daß er eine gewisse instinktive Abneigung empfindet, dem, was kommen will, im voraus Gesetze aufzuerlegen. Die Tendenz der Gegenwart zu freier Ungebundenheit und Weitung des Lebens macht sich hier geltend. Was Miiller-Freienfels vor Fechner voraus hat, ist einmal der Fortschritt, den die psychologische Analyse seit Fechners Tagen gemacht hat. Die weit¬ gehende Verfeinerung der Zergliederung des psychischen Geschehens kommt auch der Beschreibung und Erfassung der ästhetischen Phänomene zu gute. Höher aber noch möchte ich die reichen kunst- und literaturgeschichtlichen Kenntnisse Müller- Freienfels' anschlagen und ihren starken Erlebnischarakter in ihm. Fechner war wesentlich, ja einseitig, Naturforscher. Er war es in einem Maße, daß der Besuch Roms, wie wir von ihm wissen, keinen Eindruck auf ihn gemacht hat. Die historische Welt lag ganz außerhalb seines Fassungskreises. Er kam zur Kunst, wie Kant zur Ästhetik gekommen ist, aus rein theoretischem Interesse, ohne stärkere persönliche Anteilnahme an ihr. Müller-Freienfels lebt in ihr. Und er lebt in der Kunst wie nur der moderne Mensch in ihr lebt und noch keine andere Generation es vor uns tat: bestrebt überall in sie einzudringen, in die Literatur unserer Zeit zu allererst, nicht die eigene allein, sondern auch die der übrigen Kulturländer (eine ungewöhnliche Sprachbegabung erlaubt ihm sogar überall, nicht bloß für Frankreich und England, die Originale zu lesen), und daneben auch in die Kunst andrer Kulturen, wie die chinesische, aber auch die der kulturlosen Völker. Denn das ist ja die Art der Unersättlichkeit unseres Lebenshungers: wir wollen immer Neues, Anderes. So erklärt sich einmal der unerhört raffinierte Charakter unserer eigenen literarischen Produktion, und auf der andern Seite unser heißes Bemühen, mit zu erleben, was andere erleben: der prähistorische Mensch, der Altchinese, der russische Bauernkünstler. Wir möchten ausschöpfen, was an Erlebensmöglichkeiten überhaupt in uns liegt. Es ist nun überaus merkwürdig, daß trotz dieses offensichtlichen Erlebnis- reichtums nicht bloß der Menschheit überhaupt, sondern unserer selbst, dennoch die Ästhetik im ganzen noch immer auf dem Standpunkt steht, daß zwar an steh sehr vieles erfahren werden könne, aber ein und dasselbe Objekt von jedem Individuum, wenn überhaupt, dann in gleichartiger Weise ästhetisch ergriffen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/323>, abgerufen am 22.07.2024.