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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

In Estland ist dem deutsch" Verein ein Frauenverband angegliedert.
Die entsprechende Organisation in Livland und Kurland ist vom deutschen
Vereine unabhängig. Diese "Frauenbünde" unterhalten Schulen und Kinder"
horte ("Krippen"), Ferienheime, Mittagstische, praktische Kurse für Mädchen usw.


Schulwesen.

Bis Ende der achtziger Jahre war, wie schon bemerkt, das gesamte
höhere und niedere Schulwesen der Ostseeprovinzen bis auf die für die bäuer¬
liche lettische und chemische Bevölkerung bestimmten Volksschulen deutsch. Mit
der Nussisizierung wurde nicht nur in allen staatlichen und städtischen Schulen,
sowie auf den beiden Hochschulen die russische Unterrichtssprache eingeführt,
sondern die deutsche Sprache wurde auch in allen Privatschulen als Unter¬
richtssprache verboten und durfte nur als fremde Sprache gelehrt werden.
Ein Teil der Eltern fach sich aus pekuniären Gründen sowie um der Wehr¬
pflichtsrechte willen gezwungen, ihre.Kinder in diese russischen Schulen zu geben.
Es wurden von Deutschen Privatschulen mit russischer Unterrichtssprache ge¬
gründet, um die Kinder wenigstens möglichst lange dem depravierenden Ein¬
fluß der aus dem Innern des Reiches kommenden Lehrerschaft zu entziehen.
Andere Eltern ließen ihre Kinder in "Kreisen" von acht bis zehn Schülern
unterrichten, um sie dann nach Deutschland oder auf die sogenannten "Kirchen¬
schulen" (Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen) der deutschen Kirchen¬
gemeinden Petersburgs, die das Privileg deutscher Unterrichtssprache weiter¬
genossen, zu geben. Das Jahr 1905 brachte eine Wendung zum Besseren, indem
es hinfort Privatpersonen, Korporationen und Vereinen erlaubt wurde, Schulen
in der Muttersprache ohne Rechte zu eröffnen. Daraufhin entstanden in den
drei Provinzen eine Reihe von Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, die
wir weiter unten betrachten wollen. Die städtischen und staatlichen Schulen
blieben russisch, wenn auch in den städtischen Schulen eine bis auf Religion
und deutsche Sprache russisch unterrichtende deutsche Lehrerschaft die unheilvollen
Folgen der Nussisizierung nach Möglichkeit abzuschwächen suchte.

u) Hochschulen.

Das Baltikum hat zwei Hochschulen, die Universität
Dorpat und die technische Hochschule zu Riga. Die Universität Dorpat ist
1632 von Gustav Adolf von Schweden gegründet worden. Sie bestand mit
Unterbrechungen bis zum nordischen Kriege 1710. 1802 wurde sie von
Kaiser Alexander dem Ersten neu eröffnet. Sie war eine staatliche Universität
Mit allen Rechten und deutscher Unterrichtssprache. Ihr Unterhalt wende zum
größten Teil aus den Einkünften livländischer Domänengüter bestritten. Diese
alma muter Oorputensis ist in Deutschland bekannt. Die sehr zahlreichen
Ballen, die in Deutschland jetzt akademische Katheder inne haben, sind aus ihr
hervorgegangen. Als der Astronom Struve mit dem damals größten (Frauen-
hoferschen) Fernrohr von neun Zoll Objektivdurchmesser die Entfernungen der
Doppelsterne maß, als er als erster mit einem eigens dazu konstruierten Uhr-


Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

In Estland ist dem deutsch« Verein ein Frauenverband angegliedert.
Die entsprechende Organisation in Livland und Kurland ist vom deutschen
Vereine unabhängig. Diese „Frauenbünde" unterhalten Schulen und Kinder»
horte („Krippen"), Ferienheime, Mittagstische, praktische Kurse für Mädchen usw.


Schulwesen.

Bis Ende der achtziger Jahre war, wie schon bemerkt, das gesamte
höhere und niedere Schulwesen der Ostseeprovinzen bis auf die für die bäuer¬
liche lettische und chemische Bevölkerung bestimmten Volksschulen deutsch. Mit
der Nussisizierung wurde nicht nur in allen staatlichen und städtischen Schulen,
sowie auf den beiden Hochschulen die russische Unterrichtssprache eingeführt,
sondern die deutsche Sprache wurde auch in allen Privatschulen als Unter¬
richtssprache verboten und durfte nur als fremde Sprache gelehrt werden.
Ein Teil der Eltern fach sich aus pekuniären Gründen sowie um der Wehr¬
pflichtsrechte willen gezwungen, ihre.Kinder in diese russischen Schulen zu geben.
Es wurden von Deutschen Privatschulen mit russischer Unterrichtssprache ge¬
gründet, um die Kinder wenigstens möglichst lange dem depravierenden Ein¬
fluß der aus dem Innern des Reiches kommenden Lehrerschaft zu entziehen.
Andere Eltern ließen ihre Kinder in „Kreisen" von acht bis zehn Schülern
unterrichten, um sie dann nach Deutschland oder auf die sogenannten „Kirchen¬
schulen" (Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen) der deutschen Kirchen¬
gemeinden Petersburgs, die das Privileg deutscher Unterrichtssprache weiter¬
genossen, zu geben. Das Jahr 1905 brachte eine Wendung zum Besseren, indem
es hinfort Privatpersonen, Korporationen und Vereinen erlaubt wurde, Schulen
in der Muttersprache ohne Rechte zu eröffnen. Daraufhin entstanden in den
drei Provinzen eine Reihe von Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, die
wir weiter unten betrachten wollen. Die städtischen und staatlichen Schulen
blieben russisch, wenn auch in den städtischen Schulen eine bis auf Religion
und deutsche Sprache russisch unterrichtende deutsche Lehrerschaft die unheilvollen
Folgen der Nussisizierung nach Möglichkeit abzuschwächen suchte.

u) Hochschulen.

Das Baltikum hat zwei Hochschulen, die Universität
Dorpat und die technische Hochschule zu Riga. Die Universität Dorpat ist
1632 von Gustav Adolf von Schweden gegründet worden. Sie bestand mit
Unterbrechungen bis zum nordischen Kriege 1710. 1802 wurde sie von
Kaiser Alexander dem Ersten neu eröffnet. Sie war eine staatliche Universität
Mit allen Rechten und deutscher Unterrichtssprache. Ihr Unterhalt wende zum
größten Teil aus den Einkünften livländischer Domänengüter bestritten. Diese
alma muter Oorputensis ist in Deutschland bekannt. Die sehr zahlreichen
Ballen, die in Deutschland jetzt akademische Katheder inne haben, sind aus ihr
hervorgegangen. Als der Astronom Struve mit dem damals größten (Frauen-
hoferschen) Fernrohr von neun Zoll Objektivdurchmesser die Entfernungen der
Doppelsterne maß, als er als erster mit einem eigens dazu konstruierten Uhr-


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[0303] Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen In Estland ist dem deutsch« Verein ein Frauenverband angegliedert. Die entsprechende Organisation in Livland und Kurland ist vom deutschen Vereine unabhängig. Diese „Frauenbünde" unterhalten Schulen und Kinder» horte („Krippen"), Ferienheime, Mittagstische, praktische Kurse für Mädchen usw. Schulwesen. Bis Ende der achtziger Jahre war, wie schon bemerkt, das gesamte höhere und niedere Schulwesen der Ostseeprovinzen bis auf die für die bäuer¬ liche lettische und chemische Bevölkerung bestimmten Volksschulen deutsch. Mit der Nussisizierung wurde nicht nur in allen staatlichen und städtischen Schulen, sowie auf den beiden Hochschulen die russische Unterrichtssprache eingeführt, sondern die deutsche Sprache wurde auch in allen Privatschulen als Unter¬ richtssprache verboten und durfte nur als fremde Sprache gelehrt werden. Ein Teil der Eltern fach sich aus pekuniären Gründen sowie um der Wehr¬ pflichtsrechte willen gezwungen, ihre.Kinder in diese russischen Schulen zu geben. Es wurden von Deutschen Privatschulen mit russischer Unterrichtssprache ge¬ gründet, um die Kinder wenigstens möglichst lange dem depravierenden Ein¬ fluß der aus dem Innern des Reiches kommenden Lehrerschaft zu entziehen. Andere Eltern ließen ihre Kinder in „Kreisen" von acht bis zehn Schülern unterrichten, um sie dann nach Deutschland oder auf die sogenannten „Kirchen¬ schulen" (Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen) der deutschen Kirchen¬ gemeinden Petersburgs, die das Privileg deutscher Unterrichtssprache weiter¬ genossen, zu geben. Das Jahr 1905 brachte eine Wendung zum Besseren, indem es hinfort Privatpersonen, Korporationen und Vereinen erlaubt wurde, Schulen in der Muttersprache ohne Rechte zu eröffnen. Daraufhin entstanden in den drei Provinzen eine Reihe von Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, die wir weiter unten betrachten wollen. Die städtischen und staatlichen Schulen blieben russisch, wenn auch in den städtischen Schulen eine bis auf Religion und deutsche Sprache russisch unterrichtende deutsche Lehrerschaft die unheilvollen Folgen der Nussisizierung nach Möglichkeit abzuschwächen suchte. u) Hochschulen. Das Baltikum hat zwei Hochschulen, die Universität Dorpat und die technische Hochschule zu Riga. Die Universität Dorpat ist 1632 von Gustav Adolf von Schweden gegründet worden. Sie bestand mit Unterbrechungen bis zum nordischen Kriege 1710. 1802 wurde sie von Kaiser Alexander dem Ersten neu eröffnet. Sie war eine staatliche Universität Mit allen Rechten und deutscher Unterrichtssprache. Ihr Unterhalt wende zum größten Teil aus den Einkünften livländischer Domänengüter bestritten. Diese alma muter Oorputensis ist in Deutschland bekannt. Die sehr zahlreichen Ballen, die in Deutschland jetzt akademische Katheder inne haben, sind aus ihr hervorgegangen. Als der Astronom Struve mit dem damals größten (Frauen- hoferschen) Fernrohr von neun Zoll Objektivdurchmesser die Entfernungen der Doppelsterne maß, als er als erster mit einem eigens dazu konstruierten Uhr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/303>, abgerufen am 22.07.2024.