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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

Gestaltungen und eben damit zwischen den durch dieselben in uns erzeugten
Stimmungen, Gemütsbewegungen statt, da alle Instrumentalmusik (ich füge bei,
alle Musik) im Grunde lyrisch ist, ja noch unmittelbarer als ein lyrisches Gedicht
von unserer Seele Besitz ergreift. Danach ist es nur konsequent, daß zwischen
denjenigen Werken, bei welchen Beethoven den Anlaß ihrer Entstehung andeutet,
wie z. B. bei der "Eroica", der Pastoralsymphonie ze., und denjenigen, bei
welchen dies nicht der Fall ist, kein Wesensunterschied gemacht wird. Verdienstlich
ist es ferner, daß der Verfasser mit aller Schärfe dem übertriebenen, heute zur
Mode gewordenen Beethovenkultus zuleide geht, der seine Verkehrtheit teils in
der einstigen Bevorzugung der lebten Werke des Meisters gegen die früheren,
teils in der einseitigen Bevorzugung Beethovens gegen seine ebenbürtigen Vor¬
gänger äußert. Leider ist manches, so der Abschnitt über die Streichquartette,
doch gar zu oberflächlich behandelt.

Später als im Gebiet der Literatur und auch nicht in gleicher Fülle trat
ini Gebiet der Tonkunst neben die Biographie die Autobiographie. Im allge¬
meinen ist es nicht Sache der Musiker, sich vor der Öffentlichkeit in Worten
auszusprechen, und gerade die größten werden hierzu am wenigsten geneigt sein. Als
der berühmte Theoretiker Mattheson an die hervorragenderen Musiker eine
Aufforderung zur Einsendung autobiographischer Aufzeichnungen ergehen ließ,
die er dann als "Ehrenpforte" veröffentlichte, kam Händel trotz mehrfacher
Mahnungen dieser Bitte nicht nach. Je bewußter man aber etwa seit der
2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Tonkunst als einen wichtigen Faktor des
gesamten Geisteslebens betrachtete, je enger sich also die Musiker mit der All¬
gemeinheit verbunden fühlten, um so häufiger trat bei ihnen das Bedürfnis
hervor, sich über ihren Lebensgang und namentlich über ihre künstlerischen Be¬
strebungen öffentlich zu äußern. Ich erinnere an die Selbstbiographieen von
Reichardt, Diedersdorf, Spohr, Wagner, Berlioz. Das bekannte Memoirenwerk des
letzteren liegt jetzt in einer neuen deutschen Übersetzung vor ("Hektar Berlioz, Lebens¬
erinnerungen", ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Dr. Hans Scholz,
H. C. Becksche Verlagsbuchhandlung. Oskar Beck. München, 1914), welche der
Verleger wohl mit Recht als die erste billige deutsche Ausgabe bezeichnet. Aber
der Übersetzer hätte seinen Vorgänger R. Pohl, der die Memoiren schon 1864
in vier Bänden herausgab, nicht unerwähnt lassen sollen. Wenn man auch
von Berlioz nicht erwarten darf, daß er stets nur die strenge Wahrheit berichtet,
so bleibt sein Buch doch immer wichtig und interessant. Es gewährt uns einen,
wenn auch keineswegs erschöpfenden Einblick in seinen eigenartigen Charakter,
in welchem Exzentrizität, echte Kunstbegeisterung und gründliches fachmännisches
Wissen einander ebensowenig ausschlüßen wie Hang zur Menschenverachtung
und tiefes Dankbarkeitsgefühl gegen die, welche dem Künstler Förderung und
Verständnis entgegenbrachten. Es offenbart serner großes schriftstellerisches Talent,
das sich freilich nicht im Aufbau des Ganzen, sondern in lebendigen Einzel¬
darstellungen bekundet und Berlioz zum geistreichen Feuilletonisten stempelt.


Neue Bücher über Musik

Gestaltungen und eben damit zwischen den durch dieselben in uns erzeugten
Stimmungen, Gemütsbewegungen statt, da alle Instrumentalmusik (ich füge bei,
alle Musik) im Grunde lyrisch ist, ja noch unmittelbarer als ein lyrisches Gedicht
von unserer Seele Besitz ergreift. Danach ist es nur konsequent, daß zwischen
denjenigen Werken, bei welchen Beethoven den Anlaß ihrer Entstehung andeutet,
wie z. B. bei der „Eroica", der Pastoralsymphonie ze., und denjenigen, bei
welchen dies nicht der Fall ist, kein Wesensunterschied gemacht wird. Verdienstlich
ist es ferner, daß der Verfasser mit aller Schärfe dem übertriebenen, heute zur
Mode gewordenen Beethovenkultus zuleide geht, der seine Verkehrtheit teils in
der einstigen Bevorzugung der lebten Werke des Meisters gegen die früheren,
teils in der einseitigen Bevorzugung Beethovens gegen seine ebenbürtigen Vor¬
gänger äußert. Leider ist manches, so der Abschnitt über die Streichquartette,
doch gar zu oberflächlich behandelt.

Später als im Gebiet der Literatur und auch nicht in gleicher Fülle trat
ini Gebiet der Tonkunst neben die Biographie die Autobiographie. Im allge¬
meinen ist es nicht Sache der Musiker, sich vor der Öffentlichkeit in Worten
auszusprechen, und gerade die größten werden hierzu am wenigsten geneigt sein. Als
der berühmte Theoretiker Mattheson an die hervorragenderen Musiker eine
Aufforderung zur Einsendung autobiographischer Aufzeichnungen ergehen ließ,
die er dann als „Ehrenpforte" veröffentlichte, kam Händel trotz mehrfacher
Mahnungen dieser Bitte nicht nach. Je bewußter man aber etwa seit der
2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Tonkunst als einen wichtigen Faktor des
gesamten Geisteslebens betrachtete, je enger sich also die Musiker mit der All¬
gemeinheit verbunden fühlten, um so häufiger trat bei ihnen das Bedürfnis
hervor, sich über ihren Lebensgang und namentlich über ihre künstlerischen Be¬
strebungen öffentlich zu äußern. Ich erinnere an die Selbstbiographieen von
Reichardt, Diedersdorf, Spohr, Wagner, Berlioz. Das bekannte Memoirenwerk des
letzteren liegt jetzt in einer neuen deutschen Übersetzung vor („Hektar Berlioz, Lebens¬
erinnerungen", ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Dr. Hans Scholz,
H. C. Becksche Verlagsbuchhandlung. Oskar Beck. München, 1914), welche der
Verleger wohl mit Recht als die erste billige deutsche Ausgabe bezeichnet. Aber
der Übersetzer hätte seinen Vorgänger R. Pohl, der die Memoiren schon 1864
in vier Bänden herausgab, nicht unerwähnt lassen sollen. Wenn man auch
von Berlioz nicht erwarten darf, daß er stets nur die strenge Wahrheit berichtet,
so bleibt sein Buch doch immer wichtig und interessant. Es gewährt uns einen,
wenn auch keineswegs erschöpfenden Einblick in seinen eigenartigen Charakter,
in welchem Exzentrizität, echte Kunstbegeisterung und gründliches fachmännisches
Wissen einander ebensowenig ausschlüßen wie Hang zur Menschenverachtung
und tiefes Dankbarkeitsgefühl gegen die, welche dem Künstler Förderung und
Verständnis entgegenbrachten. Es offenbart serner großes schriftstellerisches Talent,
das sich freilich nicht im Aufbau des Ganzen, sondern in lebendigen Einzel¬
darstellungen bekundet und Berlioz zum geistreichen Feuilletonisten stempelt.


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[0299] Neue Bücher über Musik Gestaltungen und eben damit zwischen den durch dieselben in uns erzeugten Stimmungen, Gemütsbewegungen statt, da alle Instrumentalmusik (ich füge bei, alle Musik) im Grunde lyrisch ist, ja noch unmittelbarer als ein lyrisches Gedicht von unserer Seele Besitz ergreift. Danach ist es nur konsequent, daß zwischen denjenigen Werken, bei welchen Beethoven den Anlaß ihrer Entstehung andeutet, wie z. B. bei der „Eroica", der Pastoralsymphonie ze., und denjenigen, bei welchen dies nicht der Fall ist, kein Wesensunterschied gemacht wird. Verdienstlich ist es ferner, daß der Verfasser mit aller Schärfe dem übertriebenen, heute zur Mode gewordenen Beethovenkultus zuleide geht, der seine Verkehrtheit teils in der einstigen Bevorzugung der lebten Werke des Meisters gegen die früheren, teils in der einseitigen Bevorzugung Beethovens gegen seine ebenbürtigen Vor¬ gänger äußert. Leider ist manches, so der Abschnitt über die Streichquartette, doch gar zu oberflächlich behandelt. Später als im Gebiet der Literatur und auch nicht in gleicher Fülle trat ini Gebiet der Tonkunst neben die Biographie die Autobiographie. Im allge¬ meinen ist es nicht Sache der Musiker, sich vor der Öffentlichkeit in Worten auszusprechen, und gerade die größten werden hierzu am wenigsten geneigt sein. Als der berühmte Theoretiker Mattheson an die hervorragenderen Musiker eine Aufforderung zur Einsendung autobiographischer Aufzeichnungen ergehen ließ, die er dann als „Ehrenpforte" veröffentlichte, kam Händel trotz mehrfacher Mahnungen dieser Bitte nicht nach. Je bewußter man aber etwa seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Tonkunst als einen wichtigen Faktor des gesamten Geisteslebens betrachtete, je enger sich also die Musiker mit der All¬ gemeinheit verbunden fühlten, um so häufiger trat bei ihnen das Bedürfnis hervor, sich über ihren Lebensgang und namentlich über ihre künstlerischen Be¬ strebungen öffentlich zu äußern. Ich erinnere an die Selbstbiographieen von Reichardt, Diedersdorf, Spohr, Wagner, Berlioz. Das bekannte Memoirenwerk des letzteren liegt jetzt in einer neuen deutschen Übersetzung vor („Hektar Berlioz, Lebens¬ erinnerungen", ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Dr. Hans Scholz, H. C. Becksche Verlagsbuchhandlung. Oskar Beck. München, 1914), welche der Verleger wohl mit Recht als die erste billige deutsche Ausgabe bezeichnet. Aber der Übersetzer hätte seinen Vorgänger R. Pohl, der die Memoiren schon 1864 in vier Bänden herausgab, nicht unerwähnt lassen sollen. Wenn man auch von Berlioz nicht erwarten darf, daß er stets nur die strenge Wahrheit berichtet, so bleibt sein Buch doch immer wichtig und interessant. Es gewährt uns einen, wenn auch keineswegs erschöpfenden Einblick in seinen eigenartigen Charakter, in welchem Exzentrizität, echte Kunstbegeisterung und gründliches fachmännisches Wissen einander ebensowenig ausschlüßen wie Hang zur Menschenverachtung und tiefes Dankbarkeitsgefühl gegen die, welche dem Künstler Förderung und Verständnis entgegenbrachten. Es offenbart serner großes schriftstellerisches Talent, das sich freilich nicht im Aufbau des Ganzen, sondern in lebendigen Einzel¬ darstellungen bekundet und Berlioz zum geistreichen Feuilletonisten stempelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/299>, abgerufen am 24.08.2024.