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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über Musik

geschichtlich betrachtet, von hohem Interesse sind und jedenfalls auf Weber und
Schumann eingewirkt haben, nach der Seite ihres künstlerischen Wertes stark zu
überschätzen.

Nicht zu den kleinen Musikbüchern gehörig, aber gleichfalls bei Breitkopf
H Härtel erschienen ist "Engelbert Humperdinck" von Otto Besch (Leipzig 1914).
Der erste Teil des Buches, der den äußeren Lebensgang des Komponisten er¬
zählt, bringt manches Anziehende aus seinen Jugendjahren und manches In¬
teressante, so über seinen Verkehr mit Wagner, über sein Eintreten für Hugo
Wolf ze. Aber im ganzen ist die Darstellung viel zu breit und geschwätzig.
Der zweite Teil ist der Besprechung der Werke gewidmet, und diesmal begegnen
wir auch einigen Notenbeispielen. Wenn dem Verfasser in "Häusel und Gretel",
das noch immer als Humperdincks Hauptwerk gelten muß, die Musik zum Traum
der Kinder zu pompös erscheint, so wundert es mich, daß ihm nicht aufgefallen
ist, daß auch in anderen Teilen der Oper die Musik zu schwer auf dem Stoff
lastet, ja, daß das polyphone Orchestergewebe der "Meistersinger" wohl überhaupt
nicht die natürliche musikalische Einkleidung eines Kindermärchens abgibt. Seinen
großen Erfolg verdankt das Werk nicht seiner Polyphonie, sondern gerade seinen
einfach gehaltenen Teilen und der Einflechtung zweier Volkslieder. Besch be¬
trachtet "Häusel und Gretel" als eine Reaktion gegen den Verismus, d. h.
gegen die Richtung, welche mit Mascagnis "Cavalleria" begann und auch in
Deutschland Nachahmer fand. Aber aus einer solchen Reaktion könnte man
bestenfalls den Erfolg des Werkes erklären, keineswegs jedoch seine Entstehung.
Vielmehr ging die Zuneigung zu dem Stoff und die Art der musikalischen Be¬
handlung völlig aus Humperdincks künstlerischer Persönlichkeit hervor, die sich
genau ebenso geäußert haben würde, auch wenn kein Verismus existiert hätte.
Wir befinden uns vielfach noch immer in dem Wahn, ein Kunstwerk durch
Hineinstellen in irgendeinen konstruierten Zusammenhang mehr zu ehren als
durch die Anerkenntnis, daß es aus der nicht weiter zu erklärenden Eigenart
einer Künstlerpersönlichkeit hervorgegangen sei.

Auch eine kleine, für weite Laienkreise bestimmte Beethovenbiographie haben
wir zu erwähnen. (H. Freiherr von der Pfordten, "Beethoven", mit einem Por¬
trait, 2. durchgesehene Auflage, Quelle A Meyer, Leipzig 1913). Freilich hätte
der Verfasser im Vorwort, wo er sagt, daß das Buch aus wissenschaftlichen
und ans populären Vorträgen entstanden sei, die popularisierende Tendenz; die
es tatsächlich verfolgt, deutlicher betonen können. Wenn also auch keine neuen
Forschungsergebnisse vorgelegt und keine neuen Gesichtspunkte gewonnen werden,
so ist die Biographie doch wegen ihrer frischen Darstellung und wegen der in
ihr zutage tretenden gesunden ästhetischen Ansichten entschieden zu empfehlen.
Von der Pfordten sieht in Beethoven einen dramatischen Lyriker. Dramatisch
ist er, insofern sich in seinen Werken häufig gewaltige Kämpfe abspielen; aber
diese Kämpfe stellen nicht etwa Kämpfe der Außenwelt oder überhaupt irgend
etwas Außermusikalisches dar, sondern sie finden zwischen den musikalischen


Neue Bücher über Musik

geschichtlich betrachtet, von hohem Interesse sind und jedenfalls auf Weber und
Schumann eingewirkt haben, nach der Seite ihres künstlerischen Wertes stark zu
überschätzen.

Nicht zu den kleinen Musikbüchern gehörig, aber gleichfalls bei Breitkopf
H Härtel erschienen ist „Engelbert Humperdinck" von Otto Besch (Leipzig 1914).
Der erste Teil des Buches, der den äußeren Lebensgang des Komponisten er¬
zählt, bringt manches Anziehende aus seinen Jugendjahren und manches In¬
teressante, so über seinen Verkehr mit Wagner, über sein Eintreten für Hugo
Wolf ze. Aber im ganzen ist die Darstellung viel zu breit und geschwätzig.
Der zweite Teil ist der Besprechung der Werke gewidmet, und diesmal begegnen
wir auch einigen Notenbeispielen. Wenn dem Verfasser in „Häusel und Gretel",
das noch immer als Humperdincks Hauptwerk gelten muß, die Musik zum Traum
der Kinder zu pompös erscheint, so wundert es mich, daß ihm nicht aufgefallen
ist, daß auch in anderen Teilen der Oper die Musik zu schwer auf dem Stoff
lastet, ja, daß das polyphone Orchestergewebe der „Meistersinger" wohl überhaupt
nicht die natürliche musikalische Einkleidung eines Kindermärchens abgibt. Seinen
großen Erfolg verdankt das Werk nicht seiner Polyphonie, sondern gerade seinen
einfach gehaltenen Teilen und der Einflechtung zweier Volkslieder. Besch be¬
trachtet „Häusel und Gretel" als eine Reaktion gegen den Verismus, d. h.
gegen die Richtung, welche mit Mascagnis „Cavalleria" begann und auch in
Deutschland Nachahmer fand. Aber aus einer solchen Reaktion könnte man
bestenfalls den Erfolg des Werkes erklären, keineswegs jedoch seine Entstehung.
Vielmehr ging die Zuneigung zu dem Stoff und die Art der musikalischen Be¬
handlung völlig aus Humperdincks künstlerischer Persönlichkeit hervor, die sich
genau ebenso geäußert haben würde, auch wenn kein Verismus existiert hätte.
Wir befinden uns vielfach noch immer in dem Wahn, ein Kunstwerk durch
Hineinstellen in irgendeinen konstruierten Zusammenhang mehr zu ehren als
durch die Anerkenntnis, daß es aus der nicht weiter zu erklärenden Eigenart
einer Künstlerpersönlichkeit hervorgegangen sei.

Auch eine kleine, für weite Laienkreise bestimmte Beethovenbiographie haben
wir zu erwähnen. (H. Freiherr von der Pfordten, „Beethoven", mit einem Por¬
trait, 2. durchgesehene Auflage, Quelle A Meyer, Leipzig 1913). Freilich hätte
der Verfasser im Vorwort, wo er sagt, daß das Buch aus wissenschaftlichen
und ans populären Vorträgen entstanden sei, die popularisierende Tendenz; die
es tatsächlich verfolgt, deutlicher betonen können. Wenn also auch keine neuen
Forschungsergebnisse vorgelegt und keine neuen Gesichtspunkte gewonnen werden,
so ist die Biographie doch wegen ihrer frischen Darstellung und wegen der in
ihr zutage tretenden gesunden ästhetischen Ansichten entschieden zu empfehlen.
Von der Pfordten sieht in Beethoven einen dramatischen Lyriker. Dramatisch
ist er, insofern sich in seinen Werken häufig gewaltige Kämpfe abspielen; aber
diese Kämpfe stellen nicht etwa Kämpfe der Außenwelt oder überhaupt irgend
etwas Außermusikalisches dar, sondern sie finden zwischen den musikalischen


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[0298] Neue Bücher über Musik geschichtlich betrachtet, von hohem Interesse sind und jedenfalls auf Weber und Schumann eingewirkt haben, nach der Seite ihres künstlerischen Wertes stark zu überschätzen. Nicht zu den kleinen Musikbüchern gehörig, aber gleichfalls bei Breitkopf H Härtel erschienen ist „Engelbert Humperdinck" von Otto Besch (Leipzig 1914). Der erste Teil des Buches, der den äußeren Lebensgang des Komponisten er¬ zählt, bringt manches Anziehende aus seinen Jugendjahren und manches In¬ teressante, so über seinen Verkehr mit Wagner, über sein Eintreten für Hugo Wolf ze. Aber im ganzen ist die Darstellung viel zu breit und geschwätzig. Der zweite Teil ist der Besprechung der Werke gewidmet, und diesmal begegnen wir auch einigen Notenbeispielen. Wenn dem Verfasser in „Häusel und Gretel", das noch immer als Humperdincks Hauptwerk gelten muß, die Musik zum Traum der Kinder zu pompös erscheint, so wundert es mich, daß ihm nicht aufgefallen ist, daß auch in anderen Teilen der Oper die Musik zu schwer auf dem Stoff lastet, ja, daß das polyphone Orchestergewebe der „Meistersinger" wohl überhaupt nicht die natürliche musikalische Einkleidung eines Kindermärchens abgibt. Seinen großen Erfolg verdankt das Werk nicht seiner Polyphonie, sondern gerade seinen einfach gehaltenen Teilen und der Einflechtung zweier Volkslieder. Besch be¬ trachtet „Häusel und Gretel" als eine Reaktion gegen den Verismus, d. h. gegen die Richtung, welche mit Mascagnis „Cavalleria" begann und auch in Deutschland Nachahmer fand. Aber aus einer solchen Reaktion könnte man bestenfalls den Erfolg des Werkes erklären, keineswegs jedoch seine Entstehung. Vielmehr ging die Zuneigung zu dem Stoff und die Art der musikalischen Be¬ handlung völlig aus Humperdincks künstlerischer Persönlichkeit hervor, die sich genau ebenso geäußert haben würde, auch wenn kein Verismus existiert hätte. Wir befinden uns vielfach noch immer in dem Wahn, ein Kunstwerk durch Hineinstellen in irgendeinen konstruierten Zusammenhang mehr zu ehren als durch die Anerkenntnis, daß es aus der nicht weiter zu erklärenden Eigenart einer Künstlerpersönlichkeit hervorgegangen sei. Auch eine kleine, für weite Laienkreise bestimmte Beethovenbiographie haben wir zu erwähnen. (H. Freiherr von der Pfordten, „Beethoven", mit einem Por¬ trait, 2. durchgesehene Auflage, Quelle A Meyer, Leipzig 1913). Freilich hätte der Verfasser im Vorwort, wo er sagt, daß das Buch aus wissenschaftlichen und ans populären Vorträgen entstanden sei, die popularisierende Tendenz; die es tatsächlich verfolgt, deutlicher betonen können. Wenn also auch keine neuen Forschungsergebnisse vorgelegt und keine neuen Gesichtspunkte gewonnen werden, so ist die Biographie doch wegen ihrer frischen Darstellung und wegen der in ihr zutage tretenden gesunden ästhetischen Ansichten entschieden zu empfehlen. Von der Pfordten sieht in Beethoven einen dramatischen Lyriker. Dramatisch ist er, insofern sich in seinen Werken häufig gewaltige Kämpfe abspielen; aber diese Kämpfe stellen nicht etwa Kämpfe der Außenwelt oder überhaupt irgend etwas Außermusikalisches dar, sondern sie finden zwischen den musikalischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/298>, abgerufen am 22.07.2024.