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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

die Bedrängten seelsorgerisch bedienenden Pastoren verschickte oder in die Ge¬
fängnisse sperrte. Was die Russifizierung an Deutschtum nicht beseitigen
konnte, schien der seit den achtziger Jahren immer mehr erstarkenden, teils
nationalistischen, teils sozialdemokratischen Jndigenenbewegung erliegen zu sollen,
die in der Revolution von 1905 ihren Höhepunkt erreichte. Wir stellen nun
die Frage, ob die Stürme, die in den Jahren 1840 bis 1905 über das
baltische Deutschtum hingegangen sind, die deutsche Vorherrschaft haben brechen
können, insbesondere, ob sie sie soweit haben erschüttern können, daß der Wieder¬
aufbau den Trümmern unmöglich sein würde.

Die Bevölkerungsstatistik scheint die obige Frage glatt verneinen zu wollen.
Die Bevölkerung ist zwar im wesentlichen protestantisch. Nach der Volks¬
zählung von 1897*) waren von der gesamten Bevölkerung der Konfession nach
in Prozenten ausgedrückt:



Außerdem ist die Orthodoxie in den Ostseeprovinzen im Rückgang: Seit
dem Toleranzedikt vom 17. April 1905 ist der Übertritt von der Orthodoxie
zu einer andern christlichen Lehre für Personen von über 21 Jahren nicht
mehr strafbar. Infolgedessen kehren jährlich, trotzdem keine Propaganda getrieben
werden darf, Hunderte zur lutherischen Kirche zurück. So traten zum Beispiel
allein in Livland nach den Mitteilungen des livländischen Generalsuperintendanten
im Jahre 1913 zum Luthertum 654 Orthodoxe über.

Sind also die Ostseeprovinzen als ein rein protestantisches Land zu be¬
zeichnen, so scheinen sie auf Grund der Bevölkerungsstatistik nicht als' deutsches
Gebiet bezeichnet werden zu dürfen.




') Nach Ernst von Camphausen, Baltische Bürgerkunde. Seite 859 ff.
Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen

die Bedrängten seelsorgerisch bedienenden Pastoren verschickte oder in die Ge¬
fängnisse sperrte. Was die Russifizierung an Deutschtum nicht beseitigen
konnte, schien der seit den achtziger Jahren immer mehr erstarkenden, teils
nationalistischen, teils sozialdemokratischen Jndigenenbewegung erliegen zu sollen,
die in der Revolution von 1905 ihren Höhepunkt erreichte. Wir stellen nun
die Frage, ob die Stürme, die in den Jahren 1840 bis 1905 über das
baltische Deutschtum hingegangen sind, die deutsche Vorherrschaft haben brechen
können, insbesondere, ob sie sie soweit haben erschüttern können, daß der Wieder¬
aufbau den Trümmern unmöglich sein würde.

Die Bevölkerungsstatistik scheint die obige Frage glatt verneinen zu wollen.
Die Bevölkerung ist zwar im wesentlichen protestantisch. Nach der Volks¬
zählung von 1897*) waren von der gesamten Bevölkerung der Konfession nach
in Prozenten ausgedrückt:



Außerdem ist die Orthodoxie in den Ostseeprovinzen im Rückgang: Seit
dem Toleranzedikt vom 17. April 1905 ist der Übertritt von der Orthodoxie
zu einer andern christlichen Lehre für Personen von über 21 Jahren nicht
mehr strafbar. Infolgedessen kehren jährlich, trotzdem keine Propaganda getrieben
werden darf, Hunderte zur lutherischen Kirche zurück. So traten zum Beispiel
allein in Livland nach den Mitteilungen des livländischen Generalsuperintendanten
im Jahre 1913 zum Luthertum 654 Orthodoxe über.

Sind also die Ostseeprovinzen als ein rein protestantisches Land zu be¬
zeichnen, so scheinen sie auf Grund der Bevölkerungsstatistik nicht als' deutsches
Gebiet bezeichnet werden zu dürfen.




') Nach Ernst von Camphausen, Baltische Bürgerkunde. Seite 859 ff.
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[0276] Stärke und Macht des Deutschtums in den baltischen Provinzen die Bedrängten seelsorgerisch bedienenden Pastoren verschickte oder in die Ge¬ fängnisse sperrte. Was die Russifizierung an Deutschtum nicht beseitigen konnte, schien der seit den achtziger Jahren immer mehr erstarkenden, teils nationalistischen, teils sozialdemokratischen Jndigenenbewegung erliegen zu sollen, die in der Revolution von 1905 ihren Höhepunkt erreichte. Wir stellen nun die Frage, ob die Stürme, die in den Jahren 1840 bis 1905 über das baltische Deutschtum hingegangen sind, die deutsche Vorherrschaft haben brechen können, insbesondere, ob sie sie soweit haben erschüttern können, daß der Wieder¬ aufbau den Trümmern unmöglich sein würde. Die Bevölkerungsstatistik scheint die obige Frage glatt verneinen zu wollen. Die Bevölkerung ist zwar im wesentlichen protestantisch. Nach der Volks¬ zählung von 1897*) waren von der gesamten Bevölkerung der Konfession nach in Prozenten ausgedrückt: Protestant.Griechisch- Kalholisch„Altgläubige" «Sekte der grisch, Kirche)Römisch' KatholischJudenAndere Bekenntnisse (Bayl usw.) In Livland79,5514,451,292,352,290,07 In Kurland76,203,721,2711,107,580,13 In Estland89,719,160,030,500,340,21 Außerdem ist die Orthodoxie in den Ostseeprovinzen im Rückgang: Seit dem Toleranzedikt vom 17. April 1905 ist der Übertritt von der Orthodoxie zu einer andern christlichen Lehre für Personen von über 21 Jahren nicht mehr strafbar. Infolgedessen kehren jährlich, trotzdem keine Propaganda getrieben werden darf, Hunderte zur lutherischen Kirche zurück. So traten zum Beispiel allein in Livland nach den Mitteilungen des livländischen Generalsuperintendanten im Jahre 1913 zum Luthertum 654 Orthodoxe über. Sind also die Ostseeprovinzen als ein rein protestantisches Land zu be¬ zeichnen, so scheinen sie auf Grund der Bevölkerungsstatistik nicht als' deutsches Gebiet bezeichnet werden zu dürfen. Deut¬ scheLettenEhlenRussenPolenLitauerJudenAndere Nation.Summa In Livland . .93 573563 82951859469 61415132659423 72333011299365 "/„ d. Gesamtbev.7,5743,4039.915,361,160,511,330,76100,00 In Kurland . .51017505 99433 27619 68316 53137 6394839674 034 °/o d. Gesamtbev.7,5775,075,682,922,455,590,72100,00 In Estland. . .16 0374723S595920 891»12378612696757412 716 °/o d. Gesamtbev.3.900.1188,675,070,290,020,311,63100,00 Jud.8 Provinz,t65627107029583455312378936 05723 21162 63614 8972336115 »/« d. Gesamtbev.6,9444,8437,035,391,510.972,650,61100.00 ') Nach Ernst von Camphausen, Baltische Bürgerkunde. Seite 859 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/276>, abgerufen am 22.07.2024.