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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die innere Lage in Rußland

die Militärbehörden, Nuchlow mußte gehen, nachdem schließlich auch die unter
demi Vorsitz des Kriegsministers Poliwanow im Winterpalais tagende General-
Versammlung der vier vom Zaren eingesetzten Kriegs-Kommissionen heftige
Angriffe gegen sein Ressort gerichtet hatte. Chwostows Vorgehen hat somit
auf diesem Gebiete indirekt Gutes gefördert, Sympathien hat er sich aber
trotzdem damit nicht erobert.

In der Linderung der Flüchtlingsnot ist nichts Positives geschehen. Chwostow
hat demKiewer Abgeordneten Saoenko gegenüber erklärt, er betrachte die Flüchtlings¬
wanderung als eine elementare Erscheinung, die nicht gehindert werden könne.
Eine Mitarbeit der Semstwo bei der Linderung der Flüchtlingsnöte schiene ihm
angenehm und nützlich. Die Idee aber, das ganze Werk der Flüchtlings"
Versorgung den Organen der Selbstverwaltung zu überlassen, hat ihm, wie er
den Zeitungen schleunigst mitteilte, in seinem Gespräch mit Savenko fern ge¬
legen. Also bet Leibe keine freie Hand den Organen, die sich für die Aufgabe
berufen fühlen, im Gegenteil zurückbremsen und offene Mißtrauenserklärung.
Wo in der Flüchtlingsfrage von Gouverneuren und anderen Regierungsbehörden
gehandelt worden ist, da geschah es im reaktionären Sinn. Bekannt ist die
Entscheidung, daß im Kaukasus keine jüdischen Flüchtlinge wohnen dürfen, be-
kannt ist die Eingabe des Generalgouverneurs von Turkestan, der sich in Peters-
burg über "die unerhörte Übervölkerung durch die Juden" beklagt. "Wenn
zu all den schweren Prüfungen, zu den Dramen, von denen die Zeitungs¬
meldungen nur eine gelinde Vorstellung geben, noch harte Worte hinzukommen,
die die Flüchtlinge beim Eintreffen an Ort und Stelle zu hören bekommen,
in was verwandelt sich dann die Existenz dieser Millionen?", so klagt die
Rjetsch. Und zu Klagen scheinen nicht nur die jüdischen Flüchtlinge Anlaß ge¬
habt zu haben. Bevölkerung und Flüchtlinge konnten sich nirgends stellen.
Die Flüchtlinges die ohne Versorgung von seiten der Behörden blieben, ver¬
griffen sich in ihrer Not an allem, was sie fanden. Die Bevölkerung von
Jnnerrußland, die nicht einmal die Sprache dieser aus den Grenzgouverne-
w-mes hereinflutenden Massen von Fremdstämmigen kannte, verhielt sich zu
ihnen ablehnend, oft sogar offen feindselig. Es kam zu gegenseitigen Aus¬
einandersetzungen: "Die Wut der Bevölkerung erreichte den höchsten Grad und
führte zu den traurigsten Folgen" -- so lesen wirs im Rußkoje Slowo vom
3- November. --

Man kann somit nicht sagen, daß die Regierung bei der Linderung der
Nüchtlingsnöte eine glückliche Hand gehabt hat -- für die Regierung und für
die russische Bevölkerung wird vielmehr das Flüchtlingskapitel für immer ein
Kapitel der Schande sein, und man begreift, daß die unbeeinflußte russische
öffentliche Meinung ein Ekel packt, wenn sie an diese Sachen denkt. --

Chwostow hatte aber noch ein anderes Zugmittel: er wollte den Feldzug
Segen "die Vergewaltigung der Deutschen" fortführen. Das ist zwar ein
"demagogisches Verfahren" wie es Miljukow neulich in Moskau genannt hat,


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Die innere Lage in Rußland

die Militärbehörden, Nuchlow mußte gehen, nachdem schließlich auch die unter
demi Vorsitz des Kriegsministers Poliwanow im Winterpalais tagende General-
Versammlung der vier vom Zaren eingesetzten Kriegs-Kommissionen heftige
Angriffe gegen sein Ressort gerichtet hatte. Chwostows Vorgehen hat somit
auf diesem Gebiete indirekt Gutes gefördert, Sympathien hat er sich aber
trotzdem damit nicht erobert.

In der Linderung der Flüchtlingsnot ist nichts Positives geschehen. Chwostow
hat demKiewer Abgeordneten Saoenko gegenüber erklärt, er betrachte die Flüchtlings¬
wanderung als eine elementare Erscheinung, die nicht gehindert werden könne.
Eine Mitarbeit der Semstwo bei der Linderung der Flüchtlingsnöte schiene ihm
angenehm und nützlich. Die Idee aber, das ganze Werk der Flüchtlings«
Versorgung den Organen der Selbstverwaltung zu überlassen, hat ihm, wie er
den Zeitungen schleunigst mitteilte, in seinem Gespräch mit Savenko fern ge¬
legen. Also bet Leibe keine freie Hand den Organen, die sich für die Aufgabe
berufen fühlen, im Gegenteil zurückbremsen und offene Mißtrauenserklärung.
Wo in der Flüchtlingsfrage von Gouverneuren und anderen Regierungsbehörden
gehandelt worden ist, da geschah es im reaktionären Sinn. Bekannt ist die
Entscheidung, daß im Kaukasus keine jüdischen Flüchtlinge wohnen dürfen, be-
kannt ist die Eingabe des Generalgouverneurs von Turkestan, der sich in Peters-
burg über „die unerhörte Übervölkerung durch die Juden" beklagt. „Wenn
zu all den schweren Prüfungen, zu den Dramen, von denen die Zeitungs¬
meldungen nur eine gelinde Vorstellung geben, noch harte Worte hinzukommen,
die die Flüchtlinge beim Eintreffen an Ort und Stelle zu hören bekommen,
in was verwandelt sich dann die Existenz dieser Millionen?", so klagt die
Rjetsch. Und zu Klagen scheinen nicht nur die jüdischen Flüchtlinge Anlaß ge¬
habt zu haben. Bevölkerung und Flüchtlinge konnten sich nirgends stellen.
Die Flüchtlinges die ohne Versorgung von seiten der Behörden blieben, ver¬
griffen sich in ihrer Not an allem, was sie fanden. Die Bevölkerung von
Jnnerrußland, die nicht einmal die Sprache dieser aus den Grenzgouverne-
w-mes hereinflutenden Massen von Fremdstämmigen kannte, verhielt sich zu
ihnen ablehnend, oft sogar offen feindselig. Es kam zu gegenseitigen Aus¬
einandersetzungen: „Die Wut der Bevölkerung erreichte den höchsten Grad und
führte zu den traurigsten Folgen" — so lesen wirs im Rußkoje Slowo vom
3- November. —

Man kann somit nicht sagen, daß die Regierung bei der Linderung der
Nüchtlingsnöte eine glückliche Hand gehabt hat — für die Regierung und für
die russische Bevölkerung wird vielmehr das Flüchtlingskapitel für immer ein
Kapitel der Schande sein, und man begreift, daß die unbeeinflußte russische
öffentliche Meinung ein Ekel packt, wenn sie an diese Sachen denkt. —

Chwostow hatte aber noch ein anderes Zugmittel: er wollte den Feldzug
Segen „die Vergewaltigung der Deutschen" fortführen. Das ist zwar ein
„demagogisches Verfahren" wie es Miljukow neulich in Moskau genannt hat,


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[0239] Die innere Lage in Rußland die Militärbehörden, Nuchlow mußte gehen, nachdem schließlich auch die unter demi Vorsitz des Kriegsministers Poliwanow im Winterpalais tagende General- Versammlung der vier vom Zaren eingesetzten Kriegs-Kommissionen heftige Angriffe gegen sein Ressort gerichtet hatte. Chwostows Vorgehen hat somit auf diesem Gebiete indirekt Gutes gefördert, Sympathien hat er sich aber trotzdem damit nicht erobert. In der Linderung der Flüchtlingsnot ist nichts Positives geschehen. Chwostow hat demKiewer Abgeordneten Saoenko gegenüber erklärt, er betrachte die Flüchtlings¬ wanderung als eine elementare Erscheinung, die nicht gehindert werden könne. Eine Mitarbeit der Semstwo bei der Linderung der Flüchtlingsnöte schiene ihm angenehm und nützlich. Die Idee aber, das ganze Werk der Flüchtlings« Versorgung den Organen der Selbstverwaltung zu überlassen, hat ihm, wie er den Zeitungen schleunigst mitteilte, in seinem Gespräch mit Savenko fern ge¬ legen. Also bet Leibe keine freie Hand den Organen, die sich für die Aufgabe berufen fühlen, im Gegenteil zurückbremsen und offene Mißtrauenserklärung. Wo in der Flüchtlingsfrage von Gouverneuren und anderen Regierungsbehörden gehandelt worden ist, da geschah es im reaktionären Sinn. Bekannt ist die Entscheidung, daß im Kaukasus keine jüdischen Flüchtlinge wohnen dürfen, be- kannt ist die Eingabe des Generalgouverneurs von Turkestan, der sich in Peters- burg über „die unerhörte Übervölkerung durch die Juden" beklagt. „Wenn zu all den schweren Prüfungen, zu den Dramen, von denen die Zeitungs¬ meldungen nur eine gelinde Vorstellung geben, noch harte Worte hinzukommen, die die Flüchtlinge beim Eintreffen an Ort und Stelle zu hören bekommen, in was verwandelt sich dann die Existenz dieser Millionen?", so klagt die Rjetsch. Und zu Klagen scheinen nicht nur die jüdischen Flüchtlinge Anlaß ge¬ habt zu haben. Bevölkerung und Flüchtlinge konnten sich nirgends stellen. Die Flüchtlinges die ohne Versorgung von seiten der Behörden blieben, ver¬ griffen sich in ihrer Not an allem, was sie fanden. Die Bevölkerung von Jnnerrußland, die nicht einmal die Sprache dieser aus den Grenzgouverne- w-mes hereinflutenden Massen von Fremdstämmigen kannte, verhielt sich zu ihnen ablehnend, oft sogar offen feindselig. Es kam zu gegenseitigen Aus¬ einandersetzungen: „Die Wut der Bevölkerung erreichte den höchsten Grad und führte zu den traurigsten Folgen" — so lesen wirs im Rußkoje Slowo vom 3- November. — Man kann somit nicht sagen, daß die Regierung bei der Linderung der Nüchtlingsnöte eine glückliche Hand gehabt hat — für die Regierung und für die russische Bevölkerung wird vielmehr das Flüchtlingskapitel für immer ein Kapitel der Schande sein, und man begreift, daß die unbeeinflußte russische öffentliche Meinung ein Ekel packt, wenn sie an diese Sachen denkt. — Chwostow hatte aber noch ein anderes Zugmittel: er wollte den Feldzug Segen „die Vergewaltigung der Deutschen" fortführen. Das ist zwar ein „demagogisches Verfahren" wie es Miljukow neulich in Moskau genannt hat, is*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/239>, abgerufen am 24.08.2024.