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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Die innere Einheit des Rigaschen und Dorpater deutschen Burschentums wird
auch dadurch gekennzeichnet, daß die deutschen Korporationen beider Orte in
Kartell miteinander stehen, nicht aber die Chargiertenkonvente.

Während Dorpat und Riga in den baltischen Provinzen ein natürliches
Hinterland besaßen, aus dessen deutscher Bevölkerung sie immer von frischem
neue Kräfte zogen, waren die anderen rein russischen Hochschulen, an denen
Deutsche studierten, in weit ungünstigerer Lage. Die deutschen Vereinigungen
an ihnen konnten infolgedessen auch keine starken geistigen Mittelpunkte bilden,
von denen ein befruchtendes Leben auf die Deutschen der Umgebung ausging,
sondern sie vermochten weiter nichts zu sein als Kristallisationspunkte, an denen
sich die deutsche Jugend Rußlands sammelte, um ihr Deutschtum zu erhalten
und zu pflegen und es vor einem völligen Aufgehen in der mächtigen slawischen
Umwelt zu bewahren. Merkwürdig guten Erfolg erzielte das deutsche Studenten-
tum in Se. Petersburg. Auf dem an sich ungünstigen Boden dieser Weltstadt
entwickelten sich an der Universität und der Militärmedizinischen Akademie schon
seit 1837 zahlreiche deutsche Verbindungen, die aber mit Ausnahme der 1347
gestifteten Verbindung "Nevania" sämtlich untergingen. Letztere stand mit den
Dorpater und Rigaschen deutschen Korporationen in Kartell, mit denen sie den
deutschen Charakter und die Art der inneren Organisation gemeinsam hat. Ihr
Wahlspruch ist: "Ehre, Muße*), Brudersinn", und sie ähnelt ihrer Gedanken¬
richtung nach sehr stark den deutschen Korps, zumal sie keinen landsmannschaftlich
begrenzten Kreis besitzt, aus dem sich ihre Mitglieder rekrutieren. Die zahlreiche,
in Petersburg ansässige Philisterschaft sichert der Verbindung, die (Ende 1913)
34 Mitglieder zählte, nicht nur einen starken finanziellen Rückhalt, sondern
auch eine wertvolle gesellschaftliche Stellung. Die neben ihr feit 1909 bestehende
"Fraternitas Hyperborea" ist an Einfluß weniger bedeutend, dagegen verdient
die Dezeniber 1913 bestätigte "Wolga", eine Verbindung südrussischer Kolonisten¬
söhne, größere Beachtung. Nach ihrer Eingabe an die Behörde hatte sie
folgende Ziele: 1. Vereinigung aller aus dem Wolgagebiet stammenden deutschen
Studenten; 2. materielle Unterstützung der bedürftigen Studenten; 3. Pflege der
deutschen Muttersprache; 4. Anregung aller Mitglieder, so viel wie möglich
bestrebt zu sein, zur geistigen Entwicklung der deutschen Kolonien durch Ver¬
breitung guter Zeitungen und Broschüren beizutragen.

Während die kleine "Concordia Moscoviensis", die an der Universität
Moskau als einzige deutsche Verbindung besteht, innerlich zu den baltischen
deutschen Korporationen gehört, schließt sich der an der neurussischen Universität
Odessa gegründete "Deutsche Studentenverein" (Teutonia Euxina) dem Kreise
von Vereinigungen an, die wie die Dorpater "Teutonia" und die Petersburger
"Wolga" aus den modernen Bedürfnissen des südrussischen Deutschtums hervor¬
gegangen sind und dadurch einen anderen Wesenscharakter erhalten als die irr



") Muße bedeutet soviel wie Geselligkeit.
Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Die innere Einheit des Rigaschen und Dorpater deutschen Burschentums wird
auch dadurch gekennzeichnet, daß die deutschen Korporationen beider Orte in
Kartell miteinander stehen, nicht aber die Chargiertenkonvente.

Während Dorpat und Riga in den baltischen Provinzen ein natürliches
Hinterland besaßen, aus dessen deutscher Bevölkerung sie immer von frischem
neue Kräfte zogen, waren die anderen rein russischen Hochschulen, an denen
Deutsche studierten, in weit ungünstigerer Lage. Die deutschen Vereinigungen
an ihnen konnten infolgedessen auch keine starken geistigen Mittelpunkte bilden,
von denen ein befruchtendes Leben auf die Deutschen der Umgebung ausging,
sondern sie vermochten weiter nichts zu sein als Kristallisationspunkte, an denen
sich die deutsche Jugend Rußlands sammelte, um ihr Deutschtum zu erhalten
und zu pflegen und es vor einem völligen Aufgehen in der mächtigen slawischen
Umwelt zu bewahren. Merkwürdig guten Erfolg erzielte das deutsche Studenten-
tum in Se. Petersburg. Auf dem an sich ungünstigen Boden dieser Weltstadt
entwickelten sich an der Universität und der Militärmedizinischen Akademie schon
seit 1837 zahlreiche deutsche Verbindungen, die aber mit Ausnahme der 1347
gestifteten Verbindung „Nevania" sämtlich untergingen. Letztere stand mit den
Dorpater und Rigaschen deutschen Korporationen in Kartell, mit denen sie den
deutschen Charakter und die Art der inneren Organisation gemeinsam hat. Ihr
Wahlspruch ist: „Ehre, Muße*), Brudersinn", und sie ähnelt ihrer Gedanken¬
richtung nach sehr stark den deutschen Korps, zumal sie keinen landsmannschaftlich
begrenzten Kreis besitzt, aus dem sich ihre Mitglieder rekrutieren. Die zahlreiche,
in Petersburg ansässige Philisterschaft sichert der Verbindung, die (Ende 1913)
34 Mitglieder zählte, nicht nur einen starken finanziellen Rückhalt, sondern
auch eine wertvolle gesellschaftliche Stellung. Die neben ihr feit 1909 bestehende
„Fraternitas Hyperborea" ist an Einfluß weniger bedeutend, dagegen verdient
die Dezeniber 1913 bestätigte „Wolga", eine Verbindung südrussischer Kolonisten¬
söhne, größere Beachtung. Nach ihrer Eingabe an die Behörde hatte sie
folgende Ziele: 1. Vereinigung aller aus dem Wolgagebiet stammenden deutschen
Studenten; 2. materielle Unterstützung der bedürftigen Studenten; 3. Pflege der
deutschen Muttersprache; 4. Anregung aller Mitglieder, so viel wie möglich
bestrebt zu sein, zur geistigen Entwicklung der deutschen Kolonien durch Ver¬
breitung guter Zeitungen und Broschüren beizutragen.

Während die kleine „Concordia Moscoviensis", die an der Universität
Moskau als einzige deutsche Verbindung besteht, innerlich zu den baltischen
deutschen Korporationen gehört, schließt sich der an der neurussischen Universität
Odessa gegründete „Deutsche Studentenverein" (Teutonia Euxina) dem Kreise
von Vereinigungen an, die wie die Dorpater „Teutonia" und die Petersburger
„Wolga" aus den modernen Bedürfnissen des südrussischen Deutschtums hervor¬
gegangen sind und dadurch einen anderen Wesenscharakter erhalten als die irr



") Muße bedeutet soviel wie Geselligkeit.
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[0224] Die deutsche Studentenschaft in Rußland Die innere Einheit des Rigaschen und Dorpater deutschen Burschentums wird auch dadurch gekennzeichnet, daß die deutschen Korporationen beider Orte in Kartell miteinander stehen, nicht aber die Chargiertenkonvente. Während Dorpat und Riga in den baltischen Provinzen ein natürliches Hinterland besaßen, aus dessen deutscher Bevölkerung sie immer von frischem neue Kräfte zogen, waren die anderen rein russischen Hochschulen, an denen Deutsche studierten, in weit ungünstigerer Lage. Die deutschen Vereinigungen an ihnen konnten infolgedessen auch keine starken geistigen Mittelpunkte bilden, von denen ein befruchtendes Leben auf die Deutschen der Umgebung ausging, sondern sie vermochten weiter nichts zu sein als Kristallisationspunkte, an denen sich die deutsche Jugend Rußlands sammelte, um ihr Deutschtum zu erhalten und zu pflegen und es vor einem völligen Aufgehen in der mächtigen slawischen Umwelt zu bewahren. Merkwürdig guten Erfolg erzielte das deutsche Studenten- tum in Se. Petersburg. Auf dem an sich ungünstigen Boden dieser Weltstadt entwickelten sich an der Universität und der Militärmedizinischen Akademie schon seit 1837 zahlreiche deutsche Verbindungen, die aber mit Ausnahme der 1347 gestifteten Verbindung „Nevania" sämtlich untergingen. Letztere stand mit den Dorpater und Rigaschen deutschen Korporationen in Kartell, mit denen sie den deutschen Charakter und die Art der inneren Organisation gemeinsam hat. Ihr Wahlspruch ist: „Ehre, Muße*), Brudersinn", und sie ähnelt ihrer Gedanken¬ richtung nach sehr stark den deutschen Korps, zumal sie keinen landsmannschaftlich begrenzten Kreis besitzt, aus dem sich ihre Mitglieder rekrutieren. Die zahlreiche, in Petersburg ansässige Philisterschaft sichert der Verbindung, die (Ende 1913) 34 Mitglieder zählte, nicht nur einen starken finanziellen Rückhalt, sondern auch eine wertvolle gesellschaftliche Stellung. Die neben ihr feit 1909 bestehende „Fraternitas Hyperborea" ist an Einfluß weniger bedeutend, dagegen verdient die Dezeniber 1913 bestätigte „Wolga", eine Verbindung südrussischer Kolonisten¬ söhne, größere Beachtung. Nach ihrer Eingabe an die Behörde hatte sie folgende Ziele: 1. Vereinigung aller aus dem Wolgagebiet stammenden deutschen Studenten; 2. materielle Unterstützung der bedürftigen Studenten; 3. Pflege der deutschen Muttersprache; 4. Anregung aller Mitglieder, so viel wie möglich bestrebt zu sein, zur geistigen Entwicklung der deutschen Kolonien durch Ver¬ breitung guter Zeitungen und Broschüren beizutragen. Während die kleine „Concordia Moscoviensis", die an der Universität Moskau als einzige deutsche Verbindung besteht, innerlich zu den baltischen deutschen Korporationen gehört, schließt sich der an der neurussischen Universität Odessa gegründete „Deutsche Studentenverein" (Teutonia Euxina) dem Kreise von Vereinigungen an, die wie die Dorpater „Teutonia" und die Petersburger „Wolga" aus den modernen Bedürfnissen des südrussischen Deutschtums hervor¬ gegangen sind und dadurch einen anderen Wesenscharakter erhalten als die irr ") Muße bedeutet soviel wie Geselligkeit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/224>, abgerufen am 22.07.2024.