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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Philister Dorpats Zutritt hat. Geistiges Interesse zeigt der Chargiertenkonvent
im "Theologischen Verein" und im "Juristischen Verein", künstlerisches im
"Burschenchor", der Konzerte gibt. Der studentische Witz kommt in den "Fuchs¬
theatern", burlesken Lustspielen mit Musikeinlagen, zum charakteristischen Aus¬
druck; allerdings sind es keine rein studentischen Erzeugnisse, sondern es arbeiten
an ihnen vielfach Philister mit. Gelegentlich wagt man sich auch an größere
Aufgaben; so unternahmen im Jahre 1910 sechzig Burschen eine Kunstreise
nach Petersburg. Moskau, Riga und Mitau zum Besten des deutschen Theaters
in Dorpat und brachten dabei Schillers "Räuber" zur Aufführung. Die Pflege
der Leibesübungen war abgesehen vom Fechten noch gering und vollzog sich
nur innerhalb des russischen Studentenklubs "Sport".

Beansprucht das Dorpater deutsche Studententum, wie im vorangehenden
gezeigt ward, wegen seiner selbständigen Entwicklung weitgehende Beachtung, so
verdient es erst recht eine Würdigung, wenn man seine völkische Bedeutung für
das Deutschtum der russischen Ostseeprovinzen betrachtet. Was es in geistiger
Hinsicht für das engere Vaterland, wie auch für Deutschland bisher geleistet,
ersteht man auch, wenn man die umfangreichen, gedruckt vorliegenden "Albums"
der einzelnen Verbindungen durchblättert und dabei auf zahlreiche Namen stößt,
deren Träger in der deutschen Geistesgeschichte ein hohes Ansehen genießen.
Einen besonders charakteristischen Ausdruck in der Dichtung hat das Dorpater
Studententum merkwürdigerweise nicht gefunden; die Sammlungen von Liedern
und Gedichten, die aus akademischen Kreisen stammen, bewegen sich durchaus
in den Bahnen der älteren deutschen Studentenromantik und feiern Wein.
Liebe, Freundschaft und Geselligkeit. In dieser Hinsicht steht Dorpat auf einer
Linie mit den Kleinstadtuniversitäten des deutschen Südens, und für den Ballen
liegt in seinem Namen auch heute noch ein geheimnisvoller Klang wie etwa
für den deutschen Musensohn in dem Namen Heidelberg.

In die Zeit der größten Blüte der Universität Dorpat (1862) fällt die
Gründung des jetzt völlig russifizierten Polytechnischen Instituts Riga, das von
der Rigaschen Kaufmannschaft und den baltischen Ritterschaften in das Leben
gerufen ward. Von seinen 2088 Studenten (im Jahre 1914) dürften rund
500 deutscher Nationalität sein. Für die Entwicklung des Rigaschen Studenten¬
rums war das Dorpater Burschentum das lebendige Vorbild. Aus dem
Allgemeinen Polytechnikerkonvent. der ursprünglich alle Studenten umfaßte, lösten
sich nach und nach verschiedene deutsche Farbenverbindungen los, die "Fraternitas
Baltica" (1866), die "Concordia Rigensis" (1869) und die "Rubonia" (187S).
Diese drei Korporationen, neben denen es noch deutsche Vereine gab, bildeten
zusammen mit sechs nichtdeutschen, aber gleich organisierten Farbenverbindungen
einen Chargiertenkonvent (C! C!) mit deutscher Amtssprache. Der Mensur¬
betrieb, die Einrichtung des Ehren- und des Burschengerichts, das Fehlen des
Duellzwangs und der Bestimmungsmensur entsprechen sast ganz dem Dorpater
Vorbild, ebenso die übrigen Einrichtungen und Formen des Studentenlebens.


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Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Philister Dorpats Zutritt hat. Geistiges Interesse zeigt der Chargiertenkonvent
im „Theologischen Verein" und im „Juristischen Verein", künstlerisches im
„Burschenchor", der Konzerte gibt. Der studentische Witz kommt in den „Fuchs¬
theatern", burlesken Lustspielen mit Musikeinlagen, zum charakteristischen Aus¬
druck; allerdings sind es keine rein studentischen Erzeugnisse, sondern es arbeiten
an ihnen vielfach Philister mit. Gelegentlich wagt man sich auch an größere
Aufgaben; so unternahmen im Jahre 1910 sechzig Burschen eine Kunstreise
nach Petersburg. Moskau, Riga und Mitau zum Besten des deutschen Theaters
in Dorpat und brachten dabei Schillers „Räuber" zur Aufführung. Die Pflege
der Leibesübungen war abgesehen vom Fechten noch gering und vollzog sich
nur innerhalb des russischen Studentenklubs „Sport".

Beansprucht das Dorpater deutsche Studententum, wie im vorangehenden
gezeigt ward, wegen seiner selbständigen Entwicklung weitgehende Beachtung, so
verdient es erst recht eine Würdigung, wenn man seine völkische Bedeutung für
das Deutschtum der russischen Ostseeprovinzen betrachtet. Was es in geistiger
Hinsicht für das engere Vaterland, wie auch für Deutschland bisher geleistet,
ersteht man auch, wenn man die umfangreichen, gedruckt vorliegenden „Albums"
der einzelnen Verbindungen durchblättert und dabei auf zahlreiche Namen stößt,
deren Träger in der deutschen Geistesgeschichte ein hohes Ansehen genießen.
Einen besonders charakteristischen Ausdruck in der Dichtung hat das Dorpater
Studententum merkwürdigerweise nicht gefunden; die Sammlungen von Liedern
und Gedichten, die aus akademischen Kreisen stammen, bewegen sich durchaus
in den Bahnen der älteren deutschen Studentenromantik und feiern Wein.
Liebe, Freundschaft und Geselligkeit. In dieser Hinsicht steht Dorpat auf einer
Linie mit den Kleinstadtuniversitäten des deutschen Südens, und für den Ballen
liegt in seinem Namen auch heute noch ein geheimnisvoller Klang wie etwa
für den deutschen Musensohn in dem Namen Heidelberg.

In die Zeit der größten Blüte der Universität Dorpat (1862) fällt die
Gründung des jetzt völlig russifizierten Polytechnischen Instituts Riga, das von
der Rigaschen Kaufmannschaft und den baltischen Ritterschaften in das Leben
gerufen ward. Von seinen 2088 Studenten (im Jahre 1914) dürften rund
500 deutscher Nationalität sein. Für die Entwicklung des Rigaschen Studenten¬
rums war das Dorpater Burschentum das lebendige Vorbild. Aus dem
Allgemeinen Polytechnikerkonvent. der ursprünglich alle Studenten umfaßte, lösten
sich nach und nach verschiedene deutsche Farbenverbindungen los, die „Fraternitas
Baltica" (1866), die „Concordia Rigensis" (1869) und die „Rubonia" (187S).
Diese drei Korporationen, neben denen es noch deutsche Vereine gab, bildeten
zusammen mit sechs nichtdeutschen, aber gleich organisierten Farbenverbindungen
einen Chargiertenkonvent (C! C!) mit deutscher Amtssprache. Der Mensur¬
betrieb, die Einrichtung des Ehren- und des Burschengerichts, das Fehlen des
Duellzwangs und der Bestimmungsmensur entsprechen sast ganz dem Dorpater
Vorbild, ebenso die übrigen Einrichtungen und Formen des Studentenlebens.


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[0223] Die deutsche Studentenschaft in Rußland Philister Dorpats Zutritt hat. Geistiges Interesse zeigt der Chargiertenkonvent im „Theologischen Verein" und im „Juristischen Verein", künstlerisches im „Burschenchor", der Konzerte gibt. Der studentische Witz kommt in den „Fuchs¬ theatern", burlesken Lustspielen mit Musikeinlagen, zum charakteristischen Aus¬ druck; allerdings sind es keine rein studentischen Erzeugnisse, sondern es arbeiten an ihnen vielfach Philister mit. Gelegentlich wagt man sich auch an größere Aufgaben; so unternahmen im Jahre 1910 sechzig Burschen eine Kunstreise nach Petersburg. Moskau, Riga und Mitau zum Besten des deutschen Theaters in Dorpat und brachten dabei Schillers „Räuber" zur Aufführung. Die Pflege der Leibesübungen war abgesehen vom Fechten noch gering und vollzog sich nur innerhalb des russischen Studentenklubs „Sport". Beansprucht das Dorpater deutsche Studententum, wie im vorangehenden gezeigt ward, wegen seiner selbständigen Entwicklung weitgehende Beachtung, so verdient es erst recht eine Würdigung, wenn man seine völkische Bedeutung für das Deutschtum der russischen Ostseeprovinzen betrachtet. Was es in geistiger Hinsicht für das engere Vaterland, wie auch für Deutschland bisher geleistet, ersteht man auch, wenn man die umfangreichen, gedruckt vorliegenden „Albums" der einzelnen Verbindungen durchblättert und dabei auf zahlreiche Namen stößt, deren Träger in der deutschen Geistesgeschichte ein hohes Ansehen genießen. Einen besonders charakteristischen Ausdruck in der Dichtung hat das Dorpater Studententum merkwürdigerweise nicht gefunden; die Sammlungen von Liedern und Gedichten, die aus akademischen Kreisen stammen, bewegen sich durchaus in den Bahnen der älteren deutschen Studentenromantik und feiern Wein. Liebe, Freundschaft und Geselligkeit. In dieser Hinsicht steht Dorpat auf einer Linie mit den Kleinstadtuniversitäten des deutschen Südens, und für den Ballen liegt in seinem Namen auch heute noch ein geheimnisvoller Klang wie etwa für den deutschen Musensohn in dem Namen Heidelberg. In die Zeit der größten Blüte der Universität Dorpat (1862) fällt die Gründung des jetzt völlig russifizierten Polytechnischen Instituts Riga, das von der Rigaschen Kaufmannschaft und den baltischen Ritterschaften in das Leben gerufen ward. Von seinen 2088 Studenten (im Jahre 1914) dürften rund 500 deutscher Nationalität sein. Für die Entwicklung des Rigaschen Studenten¬ rums war das Dorpater Burschentum das lebendige Vorbild. Aus dem Allgemeinen Polytechnikerkonvent. der ursprünglich alle Studenten umfaßte, lösten sich nach und nach verschiedene deutsche Farbenverbindungen los, die „Fraternitas Baltica" (1866), die „Concordia Rigensis" (1869) und die „Rubonia" (187S). Diese drei Korporationen, neben denen es noch deutsche Vereine gab, bildeten zusammen mit sechs nichtdeutschen, aber gleich organisierten Farbenverbindungen einen Chargiertenkonvent (C! C!) mit deutscher Amtssprache. Der Mensur¬ betrieb, die Einrichtung des Ehren- und des Burschengerichts, das Fehlen des Duellzwangs und der Bestimmungsmensur entsprechen sast ganz dem Dorpater Vorbild, ebenso die übrigen Einrichtungen und Formen des Studentenlebens. 14*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/223>, abgerufen am 30.12.2024.