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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Abstammung war und fast alle den Komment "garantierten" (anerkannten).
Wenn auch nicht juristisch, so doch gewohnheitsrechtlich und tatsächlich wirkte
der Chargiertenkonvent als eine Art Zwangsausschuß für die gesamte Studenten¬
schaft, es war ein gutgeordneter Studentenstaat mit einer eigenen Rechtspflege
und mit wettgehenden Befugnissen; durfte er doch Korporationen, die sich seinen
Beschlüssen nicht fügten oder dem Burschengeist feindliche Tendenzen zeigten,
von sich aus auflösen. Als nach der Russifizierung zahlreiche nichtdeutsche
Elemente in die Dorpater Studentenschaft eindrangen, erwies sich die Einrichtung
des Chargiertenkonvents als einer für alle Studenten geltenden Behörde als
unhaltbar und so gestaltete man ihn zu einer neuen um, welche nur für die
"Burschen" galt, das heißt für die, welche den Komment als für sie verbindlich
anerkannten. Nach einer Statistik von 1913 waren es bei mehr als 1000
Deutschen nur die 244 Mitglieder der sechs erwähnten Korporationen und 182
"Wilde" oder "Nichtkorporelle", welche sich seinen Gesetzen unterwarfen.

Der Einfluß des durch den Chargiertenkonvent dargestellten deutschen
Verbindungswesen geht außerordentlich tief. Es hat sich selbst in den schlimmsten
Zeiten der Russifizierung, wo das Farbentragen verboten war (1894 bis 1904),
als stark genug erwiesen, um alle Stürme zu überdauern, und sogar die nicht¬
deutschen Vereinigungen haben sich nach seinem Vorbild organisiert, tragen
Farbendeckel und halten Konvente ab. Ein offizielles Verhältnis zwischen dem
Chargiertenkonvent als solchem und den außenstehenden, meist nichtdeutschen
Verbindungen und Einzelstudenten gibt es nicht, ebensowenig mit der am
Veterinärinstitute zuDorpat bestehenden farbentragenden "FraternitasDorpatmsis",
welche zwar keinen ausgesprochen nationalen Charakter trägt, wohl aber nach
deutschen! Komment lebt. Nur mit der 1828 gestifteten farbentragenden
"Polonia", einer von Polen gebildeten Verbindung, und dem deutschen Verein
studierender Pharmazeuten bestand ein Kartellverhältnis, nach dem man gegen¬
seitig Genugtuung auf Pistolen gab und nahm.

Die Verbindungen des Chargiertenkonvents, welche offiziell Korporationen
heißen, sind den deutschen Korps wesensverwandt; sie entsprechen ihnen hinsichtlich
der Herkunft aus alten Landsmannschaften und verpönen gleich ihnen auf das
strengste alle politischen Tendenzen. Aber trotzdem beide Verbindungsarten in
den alten deutschen Landsmannschaften um 1800 ihre Stammutter erblicken
können, erscheinen sie in Gewohnheiten und Organisationsangelegenheiten vielfach
verschieden. Die Dorpater Korporationen haben die Entwicklung der deutschen
Korps nicht mitgemacht, sondern gingen durchaus ihre eigenen Wege; sie
bewahrten mancherlei altertümliches aus der früheren Entwicklung und schufen
verschiedenes selbständig, was sich aus ihren Daseinsbedingungen ergab.

In bezug auf das Burschenalter unterscheidet man in Dorpcit nur Füchse
(erstes und zweites Semester) und Burschen im engeren Sinne (vom dritten
Semester ab). Die Einrichtung der Inaktiven gibt es nicht; jedes Mitglied
ist während seiner Dorpater Studentenzeit akiiv. Das Recht, Farbendeckel zu


Die deutsche Studentenschaft in Rußland

Abstammung war und fast alle den Komment „garantierten" (anerkannten).
Wenn auch nicht juristisch, so doch gewohnheitsrechtlich und tatsächlich wirkte
der Chargiertenkonvent als eine Art Zwangsausschuß für die gesamte Studenten¬
schaft, es war ein gutgeordneter Studentenstaat mit einer eigenen Rechtspflege
und mit wettgehenden Befugnissen; durfte er doch Korporationen, die sich seinen
Beschlüssen nicht fügten oder dem Burschengeist feindliche Tendenzen zeigten,
von sich aus auflösen. Als nach der Russifizierung zahlreiche nichtdeutsche
Elemente in die Dorpater Studentenschaft eindrangen, erwies sich die Einrichtung
des Chargiertenkonvents als einer für alle Studenten geltenden Behörde als
unhaltbar und so gestaltete man ihn zu einer neuen um, welche nur für die
„Burschen" galt, das heißt für die, welche den Komment als für sie verbindlich
anerkannten. Nach einer Statistik von 1913 waren es bei mehr als 1000
Deutschen nur die 244 Mitglieder der sechs erwähnten Korporationen und 182
„Wilde" oder „Nichtkorporelle", welche sich seinen Gesetzen unterwarfen.

Der Einfluß des durch den Chargiertenkonvent dargestellten deutschen
Verbindungswesen geht außerordentlich tief. Es hat sich selbst in den schlimmsten
Zeiten der Russifizierung, wo das Farbentragen verboten war (1894 bis 1904),
als stark genug erwiesen, um alle Stürme zu überdauern, und sogar die nicht¬
deutschen Vereinigungen haben sich nach seinem Vorbild organisiert, tragen
Farbendeckel und halten Konvente ab. Ein offizielles Verhältnis zwischen dem
Chargiertenkonvent als solchem und den außenstehenden, meist nichtdeutschen
Verbindungen und Einzelstudenten gibt es nicht, ebensowenig mit der am
Veterinärinstitute zuDorpat bestehenden farbentragenden „FraternitasDorpatmsis",
welche zwar keinen ausgesprochen nationalen Charakter trägt, wohl aber nach
deutschen! Komment lebt. Nur mit der 1828 gestifteten farbentragenden
„Polonia", einer von Polen gebildeten Verbindung, und dem deutschen Verein
studierender Pharmazeuten bestand ein Kartellverhältnis, nach dem man gegen¬
seitig Genugtuung auf Pistolen gab und nahm.

Die Verbindungen des Chargiertenkonvents, welche offiziell Korporationen
heißen, sind den deutschen Korps wesensverwandt; sie entsprechen ihnen hinsichtlich
der Herkunft aus alten Landsmannschaften und verpönen gleich ihnen auf das
strengste alle politischen Tendenzen. Aber trotzdem beide Verbindungsarten in
den alten deutschen Landsmannschaften um 1800 ihre Stammutter erblicken
können, erscheinen sie in Gewohnheiten und Organisationsangelegenheiten vielfach
verschieden. Die Dorpater Korporationen haben die Entwicklung der deutschen
Korps nicht mitgemacht, sondern gingen durchaus ihre eigenen Wege; sie
bewahrten mancherlei altertümliches aus der früheren Entwicklung und schufen
verschiedenes selbständig, was sich aus ihren Daseinsbedingungen ergab.

In bezug auf das Burschenalter unterscheidet man in Dorpcit nur Füchse
(erstes und zweites Semester) und Burschen im engeren Sinne (vom dritten
Semester ab). Die Einrichtung der Inaktiven gibt es nicht; jedes Mitglied
ist während seiner Dorpater Studentenzeit akiiv. Das Recht, Farbendeckel zu


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[0220] Die deutsche Studentenschaft in Rußland Abstammung war und fast alle den Komment „garantierten" (anerkannten). Wenn auch nicht juristisch, so doch gewohnheitsrechtlich und tatsächlich wirkte der Chargiertenkonvent als eine Art Zwangsausschuß für die gesamte Studenten¬ schaft, es war ein gutgeordneter Studentenstaat mit einer eigenen Rechtspflege und mit wettgehenden Befugnissen; durfte er doch Korporationen, die sich seinen Beschlüssen nicht fügten oder dem Burschengeist feindliche Tendenzen zeigten, von sich aus auflösen. Als nach der Russifizierung zahlreiche nichtdeutsche Elemente in die Dorpater Studentenschaft eindrangen, erwies sich die Einrichtung des Chargiertenkonvents als einer für alle Studenten geltenden Behörde als unhaltbar und so gestaltete man ihn zu einer neuen um, welche nur für die „Burschen" galt, das heißt für die, welche den Komment als für sie verbindlich anerkannten. Nach einer Statistik von 1913 waren es bei mehr als 1000 Deutschen nur die 244 Mitglieder der sechs erwähnten Korporationen und 182 „Wilde" oder „Nichtkorporelle", welche sich seinen Gesetzen unterwarfen. Der Einfluß des durch den Chargiertenkonvent dargestellten deutschen Verbindungswesen geht außerordentlich tief. Es hat sich selbst in den schlimmsten Zeiten der Russifizierung, wo das Farbentragen verboten war (1894 bis 1904), als stark genug erwiesen, um alle Stürme zu überdauern, und sogar die nicht¬ deutschen Vereinigungen haben sich nach seinem Vorbild organisiert, tragen Farbendeckel und halten Konvente ab. Ein offizielles Verhältnis zwischen dem Chargiertenkonvent als solchem und den außenstehenden, meist nichtdeutschen Verbindungen und Einzelstudenten gibt es nicht, ebensowenig mit der am Veterinärinstitute zuDorpat bestehenden farbentragenden „FraternitasDorpatmsis", welche zwar keinen ausgesprochen nationalen Charakter trägt, wohl aber nach deutschen! Komment lebt. Nur mit der 1828 gestifteten farbentragenden „Polonia", einer von Polen gebildeten Verbindung, und dem deutschen Verein studierender Pharmazeuten bestand ein Kartellverhältnis, nach dem man gegen¬ seitig Genugtuung auf Pistolen gab und nahm. Die Verbindungen des Chargiertenkonvents, welche offiziell Korporationen heißen, sind den deutschen Korps wesensverwandt; sie entsprechen ihnen hinsichtlich der Herkunft aus alten Landsmannschaften und verpönen gleich ihnen auf das strengste alle politischen Tendenzen. Aber trotzdem beide Verbindungsarten in den alten deutschen Landsmannschaften um 1800 ihre Stammutter erblicken können, erscheinen sie in Gewohnheiten und Organisationsangelegenheiten vielfach verschieden. Die Dorpater Korporationen haben die Entwicklung der deutschen Korps nicht mitgemacht, sondern gingen durchaus ihre eigenen Wege; sie bewahrten mancherlei altertümliches aus der früheren Entwicklung und schufen verschiedenes selbständig, was sich aus ihren Daseinsbedingungen ergab. In bezug auf das Burschenalter unterscheidet man in Dorpcit nur Füchse (erstes und zweites Semester) und Burschen im engeren Sinne (vom dritten Semester ab). Die Einrichtung der Inaktiven gibt es nicht; jedes Mitglied ist während seiner Dorpater Studentenzeit akiiv. Das Recht, Farbendeckel zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/220>, abgerufen am 22.07.2024.