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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Die Niederlande waren damit tatsächlich von Deutschland gelöst. Sie
wurden ein Werkzeug Spaniens, das Bollwerk in der Nordsee gegen England,
Skandinavien und Deutschland; mit der Freigrafschaft in der Mitte und Mai¬
land im Süden eine der Klammern, die Frankreich im Zaum halten sollten.

"Von den Niederlanden aus kann der spanische König der Welt das
Gesetz vorschreiben", meinte Granvella.

Der weltgeschichtliche Gegensatz Spanien-Frankreich entschied über das zu¬
künftige Schicksal des burgundischen Staates. Eine neue Geschichtsperiode be¬
ginnt für ihn. AIs Grenzstaat hatte er sich auf Kosten von Frankreich und
Deutschland gebildet, hatte er mit diesen Reichen und mit England zu tun
gehabt. Nach einander hatte er sich von jedem bevormundenden Einfluß zu
befreien gewußt. Jetzt, da er seine Unabhängigkeit erkämpft hatte, erschien
an seinem Horizont ein neues Gestirn, das Licht und Schutz verhieß. Man
hört nichts davon, daß der Vertrag von Augsburg und der Erlaß der "prag¬
matischen Sanktion", die unterschiedslos in allen Gebieten ein einheitliches
Erbrecht festsetzte, in den Niederlanden auf namhaften Widerstand gestoßen
wären. Die Unabhängigkeit von Frankreich und von Deutschland war er¬
reicht. Dieser Erfolg mochte etwaige Gefühle der Unzufriedenheit niederhalten.
Denn es war ein Unglück, daß das Land keine nationale Dynastie erhielt:
der neue Herrscher konnte sich mit seinen Untertanen nicht verständigen, weder
mit den Vlamen noch mit den Wallonen. Welch ein Bild, als der greise
Kaiser nach der Abdankung dem Sohne in Brüssel die Stände vorstellte (am
25. Oktober 1555): der blonde, so germanisch aussehende Jüngling, ein
Spanier vom Scheitel bis zur Sohle, sprach nur spanisch, durch einen Dol¬
metscher entbot er den Getreuen seinen Gruß.

Das entfernte Spanien erschien den Freiheitsgelüsten der Niederländer
weniger gefahrvoll als das nahe Deutschland. Karl der Fünfte war volkstümlich.
Unter er Regentschaft einer Margarethe von Österreich, einer Maria von
Ungarn, der Tante und der Schwester des Kaisers, hatte man sich wohl ge¬
fühlt. Von seinem Sohn versprach man sich die Fortsetzung der bisherigen
Regierung. Die Zukunft hat allerdings die Niederländer bitter enttäuscht.
Der starre spanische Geist wollte auch die ungezügelte Lebensfreude der Nieder-
länder in seine Fesseln schlagen, wollte ihnen jegliches Selbstbestimmungsrecht
verkümmern und ihre Freiheiten rauben. Furchtbare Kämpfe, wie sie das
Land trotz allen früheren Kriegsgreuel noch nicht gesehen hatte, brachen aus.
Nur einem Teil gelang es die spanische Herrschaft abzuschütteln. Das stolze
Werk Philipps des Kühnen und seiner Nachfolger ging zu Grunde. Der
Norden trat feindlich dem Süden gegenüber, es entstand der Dualismus
Holland-Belgien. In jener Zeit der größten Gefahr, da alles auf dem Spiele
stand, hat Deutschland nichts für die Niederlande, nichts gegen die Niederlande
getan: sie waren und blieben Deutschland verloren.




Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor

Die Niederlande waren damit tatsächlich von Deutschland gelöst. Sie
wurden ein Werkzeug Spaniens, das Bollwerk in der Nordsee gegen England,
Skandinavien und Deutschland; mit der Freigrafschaft in der Mitte und Mai¬
land im Süden eine der Klammern, die Frankreich im Zaum halten sollten.

„Von den Niederlanden aus kann der spanische König der Welt das
Gesetz vorschreiben", meinte Granvella.

Der weltgeschichtliche Gegensatz Spanien-Frankreich entschied über das zu¬
künftige Schicksal des burgundischen Staates. Eine neue Geschichtsperiode be¬
ginnt für ihn. AIs Grenzstaat hatte er sich auf Kosten von Frankreich und
Deutschland gebildet, hatte er mit diesen Reichen und mit England zu tun
gehabt. Nach einander hatte er sich von jedem bevormundenden Einfluß zu
befreien gewußt. Jetzt, da er seine Unabhängigkeit erkämpft hatte, erschien
an seinem Horizont ein neues Gestirn, das Licht und Schutz verhieß. Man
hört nichts davon, daß der Vertrag von Augsburg und der Erlaß der „prag¬
matischen Sanktion", die unterschiedslos in allen Gebieten ein einheitliches
Erbrecht festsetzte, in den Niederlanden auf namhaften Widerstand gestoßen
wären. Die Unabhängigkeit von Frankreich und von Deutschland war er¬
reicht. Dieser Erfolg mochte etwaige Gefühle der Unzufriedenheit niederhalten.
Denn es war ein Unglück, daß das Land keine nationale Dynastie erhielt:
der neue Herrscher konnte sich mit seinen Untertanen nicht verständigen, weder
mit den Vlamen noch mit den Wallonen. Welch ein Bild, als der greise
Kaiser nach der Abdankung dem Sohne in Brüssel die Stände vorstellte (am
25. Oktober 1555): der blonde, so germanisch aussehende Jüngling, ein
Spanier vom Scheitel bis zur Sohle, sprach nur spanisch, durch einen Dol¬
metscher entbot er den Getreuen seinen Gruß.

Das entfernte Spanien erschien den Freiheitsgelüsten der Niederländer
weniger gefahrvoll als das nahe Deutschland. Karl der Fünfte war volkstümlich.
Unter er Regentschaft einer Margarethe von Österreich, einer Maria von
Ungarn, der Tante und der Schwester des Kaisers, hatte man sich wohl ge¬
fühlt. Von seinem Sohn versprach man sich die Fortsetzung der bisherigen
Regierung. Die Zukunft hat allerdings die Niederländer bitter enttäuscht.
Der starre spanische Geist wollte auch die ungezügelte Lebensfreude der Nieder-
länder in seine Fesseln schlagen, wollte ihnen jegliches Selbstbestimmungsrecht
verkümmern und ihre Freiheiten rauben. Furchtbare Kämpfe, wie sie das
Land trotz allen früheren Kriegsgreuel noch nicht gesehen hatte, brachen aus.
Nur einem Teil gelang es die spanische Herrschaft abzuschütteln. Das stolze
Werk Philipps des Kühnen und seiner Nachfolger ging zu Grunde. Der
Norden trat feindlich dem Süden gegenüber, es entstand der Dualismus
Holland-Belgien. In jener Zeit der größten Gefahr, da alles auf dem Spiele
stand, hat Deutschland nichts für die Niederlande, nichts gegen die Niederlande
getan: sie waren und blieben Deutschland verloren.




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[0217] Wie das Deutsche Reich die Niederlande verlor Die Niederlande waren damit tatsächlich von Deutschland gelöst. Sie wurden ein Werkzeug Spaniens, das Bollwerk in der Nordsee gegen England, Skandinavien und Deutschland; mit der Freigrafschaft in der Mitte und Mai¬ land im Süden eine der Klammern, die Frankreich im Zaum halten sollten. „Von den Niederlanden aus kann der spanische König der Welt das Gesetz vorschreiben", meinte Granvella. Der weltgeschichtliche Gegensatz Spanien-Frankreich entschied über das zu¬ künftige Schicksal des burgundischen Staates. Eine neue Geschichtsperiode be¬ ginnt für ihn. AIs Grenzstaat hatte er sich auf Kosten von Frankreich und Deutschland gebildet, hatte er mit diesen Reichen und mit England zu tun gehabt. Nach einander hatte er sich von jedem bevormundenden Einfluß zu befreien gewußt. Jetzt, da er seine Unabhängigkeit erkämpft hatte, erschien an seinem Horizont ein neues Gestirn, das Licht und Schutz verhieß. Man hört nichts davon, daß der Vertrag von Augsburg und der Erlaß der „prag¬ matischen Sanktion", die unterschiedslos in allen Gebieten ein einheitliches Erbrecht festsetzte, in den Niederlanden auf namhaften Widerstand gestoßen wären. Die Unabhängigkeit von Frankreich und von Deutschland war er¬ reicht. Dieser Erfolg mochte etwaige Gefühle der Unzufriedenheit niederhalten. Denn es war ein Unglück, daß das Land keine nationale Dynastie erhielt: der neue Herrscher konnte sich mit seinen Untertanen nicht verständigen, weder mit den Vlamen noch mit den Wallonen. Welch ein Bild, als der greise Kaiser nach der Abdankung dem Sohne in Brüssel die Stände vorstellte (am 25. Oktober 1555): der blonde, so germanisch aussehende Jüngling, ein Spanier vom Scheitel bis zur Sohle, sprach nur spanisch, durch einen Dol¬ metscher entbot er den Getreuen seinen Gruß. Das entfernte Spanien erschien den Freiheitsgelüsten der Niederländer weniger gefahrvoll als das nahe Deutschland. Karl der Fünfte war volkstümlich. Unter er Regentschaft einer Margarethe von Österreich, einer Maria von Ungarn, der Tante und der Schwester des Kaisers, hatte man sich wohl ge¬ fühlt. Von seinem Sohn versprach man sich die Fortsetzung der bisherigen Regierung. Die Zukunft hat allerdings die Niederländer bitter enttäuscht. Der starre spanische Geist wollte auch die ungezügelte Lebensfreude der Nieder- länder in seine Fesseln schlagen, wollte ihnen jegliches Selbstbestimmungsrecht verkümmern und ihre Freiheiten rauben. Furchtbare Kämpfe, wie sie das Land trotz allen früheren Kriegsgreuel noch nicht gesehen hatte, brachen aus. Nur einem Teil gelang es die spanische Herrschaft abzuschütteln. Das stolze Werk Philipps des Kühnen und seiner Nachfolger ging zu Grunde. Der Norden trat feindlich dem Süden gegenüber, es entstand der Dualismus Holland-Belgien. In jener Zeit der größten Gefahr, da alles auf dem Spiele stand, hat Deutschland nichts für die Niederlande, nichts gegen die Niederlande getan: sie waren und blieben Deutschland verloren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/217>, abgerufen am 24.08.2024.