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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr.

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N?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor

diesmal nicht ab. Auch Karl hätte oft wie sein Urgroßvater in Heller Wut
seine Untertanen anschreien können: "Ihr habt flandrische Dickschädel und wollt
stets in Hartnäckigkeit und böser Meinung verharren. Wenn Euer Fast
schwach war, so habt Ihr ihn verachtet; gehaßt aber habt Ihr ihn, wenn Ihr
ihm nichts anhaben konntet." Herrisch und trotzig trat noch immer der Städter
auf und pochte aus seine Privilegien. "Das ist ja ein Volk von Herren, das
sind keine Untertanen," schreibt voller Erstaunen ein Engländer von Antwerpen aus.
Die Regierungsweise ihres Fürsten war noch immer vielen Niederländern verdächtig
und mißliebig. Sie erschien ihnen als ein französisches Zwcmgssvstem, von
dem sich im schönsten Lichte die deutsche Freiheit abhob. Erst nach einem
blutigen Aufstand der Genter und nach einem ebenso blutigen Strafgericht ver¬
zichteten die flandrischen Kommunen auf ihre Sonderbestrebungen, welche mit
den Errungenschaften der neuen Zeit unvereinbar waren. Die Städter ver¬
hehlten es sich nicht, daß ihnen in dem werdenden modernen Staate viel ver¬
loren ging.

Gent trug schwer daran, daß es, wie vordem Brügge, zu einer schlichten
Durchschnittsstadt wie so viele andere herabsank. Allmählich dämmerte aber
doch die Einsicht, daß gar manche der Privilegien aus der goldenen Zeit der
Väter ebenso unbrauchbar und wertlos für die Gegenwart waren als die
Artillerie, welche in den modrigen Befestigungswerken röstete. Die Ver¬
ständigen konnten von fremden Besuchern, einem Guicciardini und vielen
anderen hören, daß ihr Land dank dem Wollen des Fürsten um ein tüchtiges
Stück den Nachbarn voraus waren, daß der blühende Wohlstand, der so unver¬
hohlen Anerkennung fand, auch der staatlichen Fürsorge zu verdanken war.
Wer sehen wollte, mußte sehen, daß die Hände des Herrschers nicht nur nahmen,
sondern auch gaben. Die freie Durchfahrt durch den Sund, die Karl für
seine Holländer durchsetzte, gereichte sämtlichen Gebieten zum Vorteil. Unter
dem Schlagwort "Freiheit der Meere" konnten die Niederländer rücksichtlos
ihre Interessenpolitik treiben. Auch die beträchtliche Erweiterung der Grenzen
konnte mit manchen Opfern und Verlusten aussöhnen. Ein Gewinn der
französischen Kriege war Doornik (Tournai). die wichtige Enklave an der
Scheide, auf welche die Niederländer schon längst ein begehrliches Auge ge¬
worfen hatten. Dann wurden nicht ohne mühevolle Kämpfe Geldern. Utrecht,
Groningen, Friesland erworben und zu dem burgundischen Staate geschlagen.
Nur Lüttich blieb formell unabhängig, mußte aber in Wirklichkeit die Politik
der Niederlande mitmachen.

Drei neue Festen schützten die Niederlande gegen Frankreich: Philippeville,
Charleville und Mariembourg. Der Kampf ging zu Ende, den Johann ohne
Furcht begonnen, den der Sohn und der Enkel so scharf weitergeführt hatten:
der Kampf mit Frankreich um die Unabhängigkeit der Niederlande. Karl
zwang (im Frieden von Cambrai im Jahre 1529) den französischen König ein
für alle mal auf die Lehnshoheit über Flandern und Artois zu verzichten.


N?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor

diesmal nicht ab. Auch Karl hätte oft wie sein Urgroßvater in Heller Wut
seine Untertanen anschreien können: „Ihr habt flandrische Dickschädel und wollt
stets in Hartnäckigkeit und böser Meinung verharren. Wenn Euer Fast
schwach war, so habt Ihr ihn verachtet; gehaßt aber habt Ihr ihn, wenn Ihr
ihm nichts anhaben konntet." Herrisch und trotzig trat noch immer der Städter
auf und pochte aus seine Privilegien. „Das ist ja ein Volk von Herren, das
sind keine Untertanen," schreibt voller Erstaunen ein Engländer von Antwerpen aus.
Die Regierungsweise ihres Fürsten war noch immer vielen Niederländern verdächtig
und mißliebig. Sie erschien ihnen als ein französisches Zwcmgssvstem, von
dem sich im schönsten Lichte die deutsche Freiheit abhob. Erst nach einem
blutigen Aufstand der Genter und nach einem ebenso blutigen Strafgericht ver¬
zichteten die flandrischen Kommunen auf ihre Sonderbestrebungen, welche mit
den Errungenschaften der neuen Zeit unvereinbar waren. Die Städter ver¬
hehlten es sich nicht, daß ihnen in dem werdenden modernen Staate viel ver¬
loren ging.

Gent trug schwer daran, daß es, wie vordem Brügge, zu einer schlichten
Durchschnittsstadt wie so viele andere herabsank. Allmählich dämmerte aber
doch die Einsicht, daß gar manche der Privilegien aus der goldenen Zeit der
Väter ebenso unbrauchbar und wertlos für die Gegenwart waren als die
Artillerie, welche in den modrigen Befestigungswerken röstete. Die Ver¬
ständigen konnten von fremden Besuchern, einem Guicciardini und vielen
anderen hören, daß ihr Land dank dem Wollen des Fürsten um ein tüchtiges
Stück den Nachbarn voraus waren, daß der blühende Wohlstand, der so unver¬
hohlen Anerkennung fand, auch der staatlichen Fürsorge zu verdanken war.
Wer sehen wollte, mußte sehen, daß die Hände des Herrschers nicht nur nahmen,
sondern auch gaben. Die freie Durchfahrt durch den Sund, die Karl für
seine Holländer durchsetzte, gereichte sämtlichen Gebieten zum Vorteil. Unter
dem Schlagwort „Freiheit der Meere" konnten die Niederländer rücksichtlos
ihre Interessenpolitik treiben. Auch die beträchtliche Erweiterung der Grenzen
konnte mit manchen Opfern und Verlusten aussöhnen. Ein Gewinn der
französischen Kriege war Doornik (Tournai). die wichtige Enklave an der
Scheide, auf welche die Niederländer schon längst ein begehrliches Auge ge¬
worfen hatten. Dann wurden nicht ohne mühevolle Kämpfe Geldern. Utrecht,
Groningen, Friesland erworben und zu dem burgundischen Staate geschlagen.
Nur Lüttich blieb formell unabhängig, mußte aber in Wirklichkeit die Politik
der Niederlande mitmachen.

Drei neue Festen schützten die Niederlande gegen Frankreich: Philippeville,
Charleville und Mariembourg. Der Kampf ging zu Ende, den Johann ohne
Furcht begonnen, den der Sohn und der Enkel so scharf weitergeführt hatten:
der Kampf mit Frankreich um die Unabhängigkeit der Niederlande. Karl
zwang (im Frieden von Cambrai im Jahre 1529) den französischen König ein
für alle mal auf die Lehnshoheit über Flandern und Artois zu verzichten.


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[0215] N?le das Deutsche Reich die Niederlande verlor diesmal nicht ab. Auch Karl hätte oft wie sein Urgroßvater in Heller Wut seine Untertanen anschreien können: „Ihr habt flandrische Dickschädel und wollt stets in Hartnäckigkeit und böser Meinung verharren. Wenn Euer Fast schwach war, so habt Ihr ihn verachtet; gehaßt aber habt Ihr ihn, wenn Ihr ihm nichts anhaben konntet." Herrisch und trotzig trat noch immer der Städter auf und pochte aus seine Privilegien. „Das ist ja ein Volk von Herren, das sind keine Untertanen," schreibt voller Erstaunen ein Engländer von Antwerpen aus. Die Regierungsweise ihres Fürsten war noch immer vielen Niederländern verdächtig und mißliebig. Sie erschien ihnen als ein französisches Zwcmgssvstem, von dem sich im schönsten Lichte die deutsche Freiheit abhob. Erst nach einem blutigen Aufstand der Genter und nach einem ebenso blutigen Strafgericht ver¬ zichteten die flandrischen Kommunen auf ihre Sonderbestrebungen, welche mit den Errungenschaften der neuen Zeit unvereinbar waren. Die Städter ver¬ hehlten es sich nicht, daß ihnen in dem werdenden modernen Staate viel ver¬ loren ging. Gent trug schwer daran, daß es, wie vordem Brügge, zu einer schlichten Durchschnittsstadt wie so viele andere herabsank. Allmählich dämmerte aber doch die Einsicht, daß gar manche der Privilegien aus der goldenen Zeit der Väter ebenso unbrauchbar und wertlos für die Gegenwart waren als die Artillerie, welche in den modrigen Befestigungswerken röstete. Die Ver¬ ständigen konnten von fremden Besuchern, einem Guicciardini und vielen anderen hören, daß ihr Land dank dem Wollen des Fürsten um ein tüchtiges Stück den Nachbarn voraus waren, daß der blühende Wohlstand, der so unver¬ hohlen Anerkennung fand, auch der staatlichen Fürsorge zu verdanken war. Wer sehen wollte, mußte sehen, daß die Hände des Herrschers nicht nur nahmen, sondern auch gaben. Die freie Durchfahrt durch den Sund, die Karl für seine Holländer durchsetzte, gereichte sämtlichen Gebieten zum Vorteil. Unter dem Schlagwort „Freiheit der Meere" konnten die Niederländer rücksichtlos ihre Interessenpolitik treiben. Auch die beträchtliche Erweiterung der Grenzen konnte mit manchen Opfern und Verlusten aussöhnen. Ein Gewinn der französischen Kriege war Doornik (Tournai). die wichtige Enklave an der Scheide, auf welche die Niederländer schon längst ein begehrliches Auge ge¬ worfen hatten. Dann wurden nicht ohne mühevolle Kämpfe Geldern. Utrecht, Groningen, Friesland erworben und zu dem burgundischen Staate geschlagen. Nur Lüttich blieb formell unabhängig, mußte aber in Wirklichkeit die Politik der Niederlande mitmachen. Drei neue Festen schützten die Niederlande gegen Frankreich: Philippeville, Charleville und Mariembourg. Der Kampf ging zu Ende, den Johann ohne Furcht begonnen, den der Sohn und der Enkel so scharf weitergeführt hatten: der Kampf mit Frankreich um die Unabhängigkeit der Niederlande. Karl zwang (im Frieden von Cambrai im Jahre 1529) den französischen König ein für alle mal auf die Lehnshoheit über Flandern und Artois zu verzichten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_324408/215>, abgerufen am 24.08.2024.